Lieber Kai,
Oder sollte ich besser Nostradamus sagen? Deine Einschätzung hätte nicht voller ins Schwarze treffen können, außer, dass es doch dann eine ganze Flasche Sekt war, die ich dir letztes Wochenende am frühen Morgen entgegenreckte. Das Wochenende lässt mich etwas kränklich, aber auch vollends beseelt zurück. Es fühlt sich seltsamerweise wie der Abschied des Sommers an, auch wenn jene Tage weniger von Sonnenschein, sondern von Regen und Matsch dominiert wurden. Aber egal. Schön wars.
Diese Woche ist endlich ein Brief ins Haus geflogen, der mich wohl die nächsten paar Wochen noch begleiten wird. Meine Briefwahlunterlagen. Das demokratische Recht ausüben zu können, das hat für mich immer etwas bisschen Episches. Klar, ich gebe zu, ich bin auch ein alter Polit-Romantiker, aber es ist schon toll mit einigen Kreuzen seine politische Meinung kund zu tun, gerade hier in Berlin mit Hinblick auf den Volksentscheid.
Was also wählen? Das Politbarometer hält es gerade ja tatsächlich für möglich, dass es eine links gerichtete Mehrheit im Bundestag gibt. Und eine SPD in Umfragewerten fünf Prozent vor der Union? Dass ich das noch erleben darf. Klar, die Messe ist noch nicht gelesen. Aber dass zumindest in der Theorie die CSU an der 5 % Hürde scheitern könnte (Abre numa nova janela), unterhält mein Politherz.
Ich habe immernoch keine konkrete Ahnung, wen ich wählen werde. Die grundsätzliche politische Richtung, die ich für meine Stadt und mein Land für richtig halte, ist mir klar, jedoch bin ich tatsächlich noch am Überlegen, welche Stimme genau dorthin führen kann.
Aber eigentlich interessiert mich das alles heute gar nicht so richtig. Dinge wie das CDU-Zukunftsteam (die genau was für eine Funktion hat, wenn es kein Schattenkabinett sein soll?) oder eine erneute Rote-Socken-Kampagne lassen mich gerade eher kalt. Stattdessen bin ich hier in meiner Wohnung, dem Herbst entgegenschauend und bin eigentlich gerade hauptsächlich nur eins: Zufrieden.
Ich stelle mir als kritischer Schreiber die Frage, wie berichtenswert das ist, zufrieden zu sein. "Was ist denn der Nachrichtenwert, Herr Kämmerer?", höre ich mir entgegen rufen, tief aus der zynischen Ecke meines Kopfs. Aber ja, vielleicht ist der Mut zur Zufriedenheit und der Anerkennung dessen das, was auch mal berichtenswert ist.
Dabei gab es zuletzt auch eher unschöne Ereignisse: Vorletzte Woche wurde in mein Auto eingebrochen. Und später (am selben Tag!) ging mir auch noch die Kupplung flöten, was schon der zweite kostspielige Schaden meines Autos in diesem Jahr war. Das schmerzt zwar finanziell, trotzdem steht auf der Haben-Seite doch gerade so viel mehr: Ein schönes Zuhause. Freunde, die ich in wenigen Fahrradminuten erreichen kann. Liebgewonnene Routinen mit Freunden, wie Stammtische oder Diskussionsrunden. Ich fühle mich gerade zuhause, ich fühle mich gerade wohl. Das letzte Wochenende war dabei wie ein Sahnehäubchen.
Die restlichen Probleme und Sorgen wirken da eher für störende Nebengeräusche, nichts als etwas, das sich wirklich wichtig anfühlt. Situationen wie mein aufgebrochenes Auto will ich nicht zum Anlass nehmen, mein Menschenbild in Frage zu stellen. Und sowieso: Daich in diese Woche erfahren habe, dass ich Onkel werde (jaha!) - da kann ich doch gibt's doch nur einfach mal kurz vor Freude im Kreis springen, so ähnlich wie die beiden Olympiasieger vor einem Monat, die gemeinsam die Goldmedaille im Hochsprung gewonnen haben.
https://www.youtube.com/watch?v=hJZWBeZj1yY (Abre numa nova janela)Ein bisschen Input will ich dir aber doch noch mitgeben, schlägt es doch in die selbe Kerbe wie meine Zufriedenheit. Es ist vielleicht sogar ein Grund!
Ich bin diese Woche mal wieder über ein spannendes Konzept gestolpert, aus dem fernen Osten. Ja Kai, es ist mal wieder Zeit für einen Exkurs nach Japan. Diesmal geht es aber nicht um ma, sondern um ikigai, was sich in etwa als "Bestimmung finden" bzw. "Lebenswert" übersetzen lässt. Es ist eine japanische Lebensphilosophie für das im-Moment-leben.
Es ist garnicht so leicht in diesem Fall eine gute Erklärung zu geben, was ikigai ist. Es ist zumindest mehr, als die westliche Vorstellung davon, die sich in wenigen Sekunden ergooglen lässt. Hier ein einstündiger Podcast mit einem Neuropsychologen dazu, den ich lehrreich finde. (Abre numa nova janela)
Ich habe mir, als Annäherung, das Konzept in vier Fragen übersetzt, die du dir als eine Art Selbstreflexion im Alltag stellen kannst. Es sind Fragen als Wegbegleiterinnen, um dein eigenes Handeln zu überprüfen, um dich letztlich zu fragen: Was mache ich hier eigentlich gerade und macht es mich glücklich? Und wenn nicht: Wie könnte ich glücklicher gerade sein?
Hier also diese vier Fragen:
Lebe ich gerade eine Leidenschaft oder Neugier aus (egal ob erfolgreich dabei oder nicht)?
Macht mir eine Sache oder Tätigkeit gerade Freude, ob klein oder groß?
Gibt mir eine Sache oder Tätigkeit gerade Wert oder Bedeutung?
Gebe ich durch die Tätigkeit meiner Umgebung oder Umwelt, was sie benötigt?
Ziel dieser Übung ist es das eigene Handeln zu reflektieren und dich auch die Dinge bewusster wahrzunehmen, die einen glücklicher machen. Nicht urteilend, sondern beobachtend. Und klar: Am erfüllendsten ist es, wenn du alle vier Fragen mit "Ja" beantwortet werden kannst.
Was ich an der Theorie interessant finde, gerade im Vergleich dazu, was der Westen damit gemacht hat (Abre numa nova janela), ist, dass es zwar dabei auch, aber nicht nur um das große Ziel am Ende geht, nicht um die große Veränderung. Stattdessen geht es um die kleine vorstellbare Einheit, mit der aber alles anfangen muss: Der Zufriedenheit im Jetzt.
Da wären wir wieder bei den wichtigen kleinen Anfängen, die dann hoffentlich irgendwann zu den großen Fortschritten führen. Bei dir und mir bin ich ganz überzeugt, dass wir da auf dem richtigen Weg sind.
Ich wünsche dir eine schöne Woche.
Liebe Grüße
Dein Sven
P.S. Ich weiß, den Song kennst du ja mittlerweile, aber ich kann nicht anders.
(Danger Dan - Lauf davon)