Brief #85: Stimmen aus dem Off
Lieber Kai,
Es sind mittlerweile drei Monate vergangen seit meinem letzten Brief. So viel Stille über so eine lange Zeit zwischen uns ist neu. Dabei weiß ich, dass du nicht still herum sitzt, sondern stattdessen rotierst - bloß eben nicht hier, auf digitalem Papier, sondern draußen in der Welt. Ich hoffe, du genießt gerade das schöne Wetter, die sommerlichen Temperaturen. Eigentlich fühlt es sich auch für mich falsch an, gerade drin zu sein. Es ist doch gerade jetzt Zeit, raus zu gehen, raus raus raus! Genießen!!!
Bei mir rotiert gerade viel. Ich hatte es im letzten Brief ja schon angekündigt. Und ja, nur wenige Tage später, am 23.03.23, trat das Wunder dann auch ein: Ich wurde Vater. Hier ein super Bild von meiner Tochter. Da war sie ziemlich genau zwei Monate alt. Sie hat eine ähnliche Begeisterung für Fotos wie ich anscheinend. Bezaubernd, oder?
Das neue Leben zwischen neuem Vatersein, Job und anderen Interessen ist ein sehr wildes Kopf-Ping-Pong. Die eigenen tektonischen Platten sind verschoben und das Merkwürdigste ist, wie selbstverständlich sich das alles anfühlt.
Der Mensch, das sich anpassende Wesen. Ich könnte darüber jetzt groß ausholen, aber will ich meine Vaterschaft gar nicht so sehr in den Fokus rücken hier. Stattdessen zeige ich dir lieber hier ein Foto von einem Mülleimer, der sehr sehr wütend aussieht.
Ja.
Ich merke in mir eine gewisse Politikfrustration, Kai. Ich kenne das nicht von mir, ich bin eigentlich selbst dann noch ein glühender Verfechter der langwierigen demokratischen Prozesse, wenn andere Menschen abwinken. Das ist aber gerade etwas Anderes. Sicher, das hat vielleicht auch mit meinem kleinen neuen Lieblingswesen zu tun und der Jahreszeit. Aber ich glaube das Problem liegt tiefer.
Seit gut anderthalb Jahren werden wir auf Bundesebene von drei Parteien regiert, die sich selbst als Fortschrittskoalition bezeichnet haben. Auch ich war am Anfang zwar skeptisch, aber vorsichtig optimistisch, dass diese doch sehr spezielle Allianz doch den einen oder anderen Knoten auflösen können. Es gibt ja sogar Dinge, die ich an der FDP politisch durchaus schätze.
Aber in was für einer Situation sind wir jetzt? Gestern sind in Erding in Bayern 13.000 Menschen auf die Straße gegangen, um gegen das Heizungsgesetz zu demonstrieren. Darum ging es aber nicht nur, zumindest nicht für Herrn Aiwanger, stellvertretender Ministerpräsident Bayerns: "Wir wollen, dass Politik das umsetzt, was der Bürger will, und der Bürger will, dass ‹Mama› und ‹Papa› gilt, dass wir Fleisch essen dürfen, dass wir Auto fahren dürfen, dass wir Holz verheizen dürfen, dass wir in Urlaub fahren dürfen, dass sich Arbeit wieder lohnt und nicht alles einkassiert wird." (Abre numa nova janela)
Aiwanger ist sowieso ja einer deiner Favoriten (Abre numa nova janela). Er spricht hier von einer schweigenden Mehrheit, die die obigen Dinge will. Ich glaube das nicht und ich glaube auch, dass Wahlen ihm da Lügen strafen würden. Es werden aber nicht über Gesetzesvorhaben Wahlen entschieden, sondern über Politkommunikation. Und da diese von unserer Bundesregierung so miserabel ist, steigt bei mir die Befürchtung, dass sich immer mehr Menschen wiederfinden in der Aussage: "Lieber Staat, bitte halte dich raus aus meinem Leben. Lass mich in Ruhe." und glauben, dass dies zur Schlussfolgerung hat, bspw. die AfD zu wählen.
Seit anderthalb Jahren haben wir eine Bundesregierung, die hauptsächlich damit beschäftigt ist, sich gegenseitig zu torpedieren. Welche politische Änderung wurde denn in den letzten Monaten einfach mal vereint durchgewunken? Wie kann es denn sein, dass es zu jedem Gesetzesvorhaben, zu jedem Kompromiss, Stimmen aus der eigenen Koalition gibt, die diese Vorhaben gleich wieder kritisieren?
Franz Müntefering sagte mal: Opposition ist Mist.
Ich sage: Opposition innerhalb der eigenen Koalition ist politischer Suizid.
Und da zeige ich nicht auf die FDP alleine. Auch die Grünen im Parlament lassen wenig Gelegenheiten liegen, zu verdeutlichen, was denn alles möglich und besser wäre, wenn die FDP nicht in der Koalition wäre. Sei es beim Asylrecht, Autobahnausbau oder in der Heizungsfrage.
Aber nun ja: Sie sind nun einmal mit in der Regierung. Und damit muss man leben oder es eben sein lassen.
Olaf Scholz schweigt zu dem meisten, zumindest öffentlich. Politisch helfen tut es ihm nicht. Und ich habe auch wirklich nicht mehr viel Verständnis dafür, dass er als Regierungschef da nicht seine Koalition besser im Griff hat.
Ich würde mir wünschen, dass wir eine Regierung (inklusive ihrer parlamentarischer Parteifreunde) hätten, die zusammensteht und intern sicherlich streitet und diskutiert, aber nach außen hin die Klappe hält und uns Bürgern und Bürgerinnen somit das Gefühl gibt, dass die Entscheidungen so vielleicht hart, aber richtig sind. Denn durch überzeugtes Auftreten als geschlossene Einheit (!) lassen sich auch schwierige Veränderungen kommunizieren. Der Mensch, das sich anpassende Wesen.
Ohne diesen Zusammenhalt steht unter der gesamten Politik der Generalzweifel. Und dieser Zweifel hilft denen, die mit leichten Lösungen dem gefrusteten Kopf einen vermeintlichen Ausweg anbieten.
Wir haben dieses Jahr noch einige Wahlen vor uns - mit Hessen (6,2) und Bayern (13,08) werden fast ein Fünftel der Bevölkerung dieses Jahr noch zur Wahlurne gebeten. Hoffen wir, dass es da keine bösen Überraschungen gibt. Wobei, von Überraschung würde ich nicht einmal sprechen...
So viel zu meinem Politikfrust. Aber um nicht auf einer ganz so negativen Note zu enden, hier ein Foto von nem Ärmel, der wie der Zwillingsbruder von Dr. Zoidberg aussieht.
Toll, oder?
Und jetzt noch gute Musik, die sich seit diesem Frühjahr ganz weit vorne in meine Playlist gespielt hat. Und jetzt gehe ich raus und genieße noch das gute Wetter, die tollen Temperaturen und beschäftige mich nicht mehr mit der Politik. Wie wahrscheinlich viele es machen, vermute ich.
Wenn uns das mal nicht auf die Füße fällt.
Liebe Grüße
Sven
P.S. Barry Ryan - Eloise