Sechzig.
Liebe Junge, Alte und Mittelalte -
das Älterwerden ist nicht von einer zunehmenden Nähe zum Tod gekennzeichnet, denn jeder Mensch kann jederzeit sterben. Wir sind alle gleich weit vom Tod entfernt. Sondern Altwerden ist durch einen stetig größer werdenden Abstand von der Geburt geprägt: Je älter wir werden, desto länger liegt unsere Geburt zurück, desto länger sind wir schon auf dieser Welt.
Ich bin seit kurzem sechzig Jahre von meiner Geburt entfernt. Als eine, die sich mit Geschichte beschäftigt, sind mir Zeitabstände ein Begriff. 1964 liegt heute genauso weit zurück, wie 1964 das Jahr 1904 zurücklag. Das war nur drei Jahre, nachdem Emma Goldman beinahe ins Gefängnis kam, weil sie den Attentäter kannte, der den damaligen US-Präsidenten William McKinley erschossen hat.
Je älter ich werde, desto deutlicher nehme ich wahr, wie unbeständig die Welt ist. In den sechzig Jahren vor meiner Geburt gab es zwei Weltkriege und den Nationalsozialismus. Dass in den sechzig Jahren seit meiner Geburt vermeintlich nicht so viel Dramatisches passiert ist, ist eine westeuropäische Perspektive. In anderen Weltregionen gab es durchaus heftige und auch blutige Umwälzungen.
Aber wir hatten uns hier irgendwie darauf eingerichtet, dass sich nichts wirklich Gravierendes verändern wird. Spannender als die Frage, ob die nächste Koalition von der CDU oder von der SPD angeführt wird, schien es nicht zu werden. Diese Vorstellung ist spätestens seit Corona, Russland-Angriff auf die Ukraine, Hamas-Terror gegen Israel zerborsten. Eigentlich aber schon seit Trumps erster Amtszeit.
Oder, vielmehr: Eigentlich sind Trump, Corona, Russland-Angriff, Hamas-Terror nur die Auslöser gewesen, die eine Veränderung sichtbar gemacht haben, die wiederum eher in den Reaktionen auf diese Ereignisse liegt. Epidemien, Kriege, Terrororganisationen hat es auch früher gegeben. Die Unsicherheit, die sie auslösen, hat mehr damit zu tun, dass “wir” keine angemessene Reaktion darauf finden. Die Institutionen, denen wir den Umgang mit Krisen bislang anvertraut haben, scheinen nicht mehr zu greifen. Oder, in anderen Worten: Es gewinnt nicht, wer Recht hat, sondern einfach, wer stärker ist. Finde nur ich das irgendwie scary? Oder ist das ohnehin ganz normal und ich bin bisher nur privilegien-verweichlichten Illusionen aufgesessen?
Jedenfalls scheinen mir moralische oder ethische Maßstäbe keine Rolle mehr zu spielen, und zwar leider auch nicht für die Debatten innerhalb der Linken, die - und ich glaube nicht, dass das ein Zufall ist - in all diesen Krisen nicht zu einer einheitlichen Position findet, sondern in gegensätzlichen Lagern hockt. Und auch das ist nicht neu, neu ist aber, dass das nicht mehr ausdiskutiert werden kann.
Moralische Debatten, so jedenfalls mein Eindruck, werden eigentlich nur noch instrumentalisiert, um den jeweils eigenen Standpunkt zu untermauern. Wer kann die ergreifendsten Storys von Opfern posten. Gestern war der 7. Oktober und damit der Jahrestag des Hamas-Massakers an Israelis. Meine Timeline war aus diesem Anlass voll mit Aufrufen, für beide Seiten Empathie aufzubringen, verschiedene Perspektiven nebeneinander stehen zu lassen, Gleichzeitigkeiten auszuhalten.
Und ja, als allererster Schritt, um überhaupt in ein Gespräch zu kommen, ist das natürlich richtig; als Methode sozusagen. Aber ein Inhalt ist es nicht. Eine Analyse ist es nicht. Verschiedene Perspektiven nebeneinander zu stellen, das kann allerhöchstens der Anfang sein, aber nicht das Ziel einer freiheitlichen linken feministischen Bewegung. Wir müssen diese Konflikte ausdiskutieren, Konfliktlinien klarkriegen, nicht drum herum reden. Und unser größtes Versagen ist, dass wir dafür keine Räume schaffen, sondern uns wie alle anderen auch einfach in einen Propaganda-Wettbewerb begeben. Ich nehme mich selbst da gar nicht aus.
Wie kann man ernsthaft streiten, ohne Krieg zu führen? Solange wir als Linke und als Feministinnen dafür keine Praxis zu finden, brauchen wir uns eigentlich nicht zu wundern, wenn eine von Macht und Profitgier getriebene Welt das auch nicht tut.
Ich schicke euch ganz herzliche Grüße,
Antje
PS: Ganz unten gibt’s wieder Buchgeschenke.
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Elif Shafak: Am Himmel die Flüsse (Roman). (Abre numa nova janela) Der neue Roman von Elif Shafak ist großartig. Er spielt zwischen Themse und Tigris und es geht um Wasser, Mesopotamien, kulturelle Konflikte und Austausch, den Genozid an den Eziden… Ein Lesetipp von mir in der Youtube-Reihe #AntjelaseinBuch.
Freitag, 18. Oktober 2024 | LEIPZIG
10 Jahre Care-Revolution
Podium mit Nadia Shehadeh, Mike Laufenberg und mir, 20 Uhr, Leipzig Alt-Lindenau (mehr) (Abre numa nova janela).
Freitag, 25. Oktober 2024 | DARMSTADT
Antifeminismus als Gefährdung der Demokratie
Vortrag und Diskussion bei der Luise Büchner Stiftung, 19 Uhr, Literaturhaus, Kasinostraße 3. (Link) (Abre numa nova janela)
Freitag, 8. November 2024 | RASTATT
Der § 218 und die Kirchen
Workshop bei der Diözesanversammlung der kfd Freiburg (nicht öffentlich).
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Ute Gerhard: Unerhört. Die Geschichte der deutschen Frauenbewegung.
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Ilse Lenz/Ute Luig (Hg): Frauenmacht ohne Herrschaft. Geschlechterverhältnisse in nichtpatriarchalen Gesellschaften.
Chiara Zamboni: Denken in Präsenz. Gespräche, Orte, Improvisationen.
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