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Mitten im Chaos, Teil 1

Im Wohnzimmer liegen drei Puzzle, zwei Spiele und Stofftiere verteilt auf dem Boden. Es sind die Spiele mit den ganz kleinen Teilen, bei denen man sich besonders oft bücken muss, um sie aufzuheben. In der Küche stapeln sich die Pfannen, das Geschirr und alles, was nicht mehr in die Spülmaschine gepasst hat. Das Vier-Tage-Wochenende zeigt sich nicht nur an den Spinatresten und dem überquellenden Mülleimer, sondern auch an der Wäsche, die wir Pfingstmontag noch schnell durch Maschine und Trockner gejagt haben. Nur das Zusammenlegen und Sortieren. Das haben wir auf später verschoben. Und später starrt mich jetzt an. Aus dem Wohnzimmer, aus der Küche, vom Treppenabsatz. Und mittendrin unsere Tochter, die fröhlich im Laufstall vor sich hin spielt.

Ich bin seit vier Uhr morgens wach, weil unser Sohn, der im Familienbett schläft, sehr unruhig wurde und ich einfach nicht mehr einschlafen konnte. Um 5.30 Uhr klingelte der Wecker und obwohl ich schon wach war, snoozte ich 20 Minuten lang. Ab da hab ich Carearbeit verrichtet: Vesper und Frühstück für alle, Mittleren getestet und angezogen, den Großen durch den Overload begleitet, alle angezogen und die Jungs mit einigem Widerwillen zum Kindergarten gebracht. Danach direkt durch den dm, Penny und die Bäckerei gehetzt, immer im Hinterkopf, dass ich den Großen ja vielleicht gleich wieder abholen muss. Auf dem Weg vom Auto ins Haus noch schnell nen Schlenker durch die Waschküche gemacht und die programmierte Wäsche in den Trockner geschmissen. Als alles ausgeräumt war und ich überlegte, was ich als Nächstes machen muss, meldete sich eine Stimme in mir: „Du musst gar nix.“ Und für heute stimmt es sogar, ich muss keine E-Mail schreiben, kein Telefonat führen, keine Überweisung abholen, keine Deadline einhalten.

Also sitze ich am Esstisch. Vor mir steht ein Teller mit Käsebrezel und einem halbem Croissant mit Schokocreme. Daneben ein Hafermilch-Cappucino und ein großes Glas Wasser. Das Tablet steht bereit. Ich hab mir Supernatural angemacht. Meine go-to-Serie, also die, die ich immer gucken kann. Wenn ich traurig bin, heitert sie mich auf. Wenn ich aufgeregt bin, holt sie mich runter. Wenn ich mich erholen will, gibt sie mir Geborgenheit. So sehr, wie einem Dämonen jagen und Gespenster ins Jenseits bringen eben Geborgenheit geben können. Das Chaos um mich herum ignoriere ich. Wobei ignorieren das falsche Wort ist. Ich nehme es an, es ist eben ein Teil meines Lebens. Aber um genug Energie für diesen Teil meines Lebens zu haben, muss ich erstmal auftanken. Und genau diesen Moment poste ich auf Instagram. Mit der Unterschrift „Eine meiner Stärken ist, erstmal alles liegen zu lassen (außer das Baby) und mich um mich selbst zu kümmern. Ich habe Jahrzehnte gebraucht, um „Erst die Arbeit, dann das Vergnügen“hinter mir zu lassen.“ Mich erreichen Fragen, wie ich das geschafft habe und darüber muss ich erstmal nachdenken.

Wie so viele bin ich in einem Haushalt mit relativ strengen Eltern aufgewachsen. Aufräumen war immer ein Streitthema. Ich war nie ordentlich. Und mir wurde beigebracht, dass es schlicht unmöglich ist, sich zu entspannen, wenn nicht vorher alles aufgeräumt und erledigt ist. Als Erwachsene habe ich erkannt, dass nie alles aufgeräumt oder erledigt ist. Als Eltern noch viel mehr oder weniger, je nach Perspektive. In meiner ersten eigenen Wohnung war ich sehr ich selbst. Ich hatte viel Deko, viele Möbel auf kleinen 36qm. In den ersten beiden Jahren war ich in einer Beziehung, so dass ich zumindest regelmäßig aufräumte und putzte. In den letzten beiden Jahren war ich viel an der Uni (Abschlussjahre), feiern oder bei einem meiner drei Nebenjobs. Aufräumen und putzen wurde zur Nebensache. Damals war das gar nicht schlimm, ich genoss mein Leben in vollen Zügen und legte ab und zu einen Power-Tag ein, um alles wieder in einen guten Zustand zu bringen. Danach lebte ich für 9 Monate mit einer Unifreundin in einer WG. Das war die Vollkatastrophe. Sie war der Typ „toxische Freundin“ und ich war eine schlechte Mitbewohnerin, weil ich meine Aufräum- und Putzgewohnheiten nicht ablegen konnte. Danach lebte ich wieder allein und das Beste an der Wohnung war, dass die Küche eine Tür hatte, die ich abends schließen konnte. Ihr seht, die Mischung aus Faulheit und Gleichgültigkeit zieht sich bei mir durch die Jahre. Trotzdem hatte ich immer, immer eine Mischung aus Druck und schlechtem Gewissen, wenn ich wieder aus der Haustür stürmte, um mich mit Freunden zu treffen anstatt meine Wohnung aufzuräumen. Ich entwickelte nie eine Routine und das, obwohl ich seit nach der Uni in einem Arbeitsverhältnis bin, in dem ich Freitags ab 12 Uhr Feierabend habe – die perfekten Umstände, um eine Routine zu entwickeln und trotzdem nichts zu verpassen. Immerhin habe ich an den Tagen regelmäßig Kehrwoche gemacht: die schwäbische Tradition, die Reinigung des Allgemeineigentums wie Treppenhaus und Eingangsbereich des Wohnhauses unter allen Mitbewohner:innen aufzuteilen.

Als ich dann mit meinem Mann zusammen zog, mussten wir beide uns dran gewöhnen, dass plötzlich jemand anderes Unordnung und Dreck machte. Aber wir erkannten schnell, dass wir beide sehr ähnliche Gewohnheiten und eine machbare Toleranzgrenze haben. Dieses Mindset hilft uns beiden bis heute, einen guten Rahmen für ein gemeinsames Miteinander unter einem Dach zu finden. Natürlich ist auch unser Verständnis von Zuständigkeiten eine wichtige Basis hierfür. Weder mein Mann noch ich glauben an das Märchen, dass der weiblich gelesene Teil in einer Beziehung oder in einer Familie für Hausarbeit und Ordnung verantwortlich ist. Klar wurden wir beide so erzogen und sozialisiert. Vielleicht nicht in direkten Worten, aber in den 80er und 90er Jahren waren selbst in Familien, in denen die Mütter lohnarbeiteten, sie letztendlich für Dinge vom Boden aufheben, Wäsche in den Keller tragen, für Nahrung sorgen, es daheim schön machen zuständig.

Hier in unserer Familie gibt es das nicht, geht in unserer Konstellation auch gar nicht. Mein Mann hat keine Erwartungshaltung an mich, denn das wäre auch ziemlich anmaßend. Konkret bedeutet das, ich könnte tagelang daheim sein und die verstreuten Puzzle liegen lassen und mich stattdessen ausruhen. Er würde nicht ein Wort darüber verlieren und es selber aufheben, wenn er die Kapazitäten dazu hat.

Die eigene Erwartungshaltung ist da schon etwas anderes. Die sitzt extrem tief, wurde sie ja auch von Anfang an und ich meine wirklich von Babybeinen an in uns weiblich gelesen Personen hinein projiziert: süße kleine rosa Besen und Schaufeln, „räum schön auf, das gehört sich so für Mädchen“, „dein Bruder muss nicht helfen, der ist ein Junge“, Hotel Mama, „du findest nie einen Mann, wenn du nicht richtig kochen kannst“. Sprache, Vorbild, Medien. All das beeinflusst unser Denken auf einem tiefen Level, formt unser Verhalten, baut unsere Weltanschauung auf. Und wenn wir damit aufwachsen und mit der Erwartungshaltung an uns selbst und andere weiblich gelesene Personen in die Erwachsenenwelt geworfen werden, ist es kein Wunder, dass wir niemals ausruhen können, solange auch nur eine Aufgabe, geschweige denn ein ganzer Haushalt auf uns wartet. Seht ihr, hier ist das Ding mit der Sprache – „der Haushalt wartet auf mich“, was ein Unsinn. Allein diese Redewendung löst doch schon Stress aus. Als „gute“ Hausfrau oder allgemein gute Person kommt es natürlich auf keinen Fall in Frage, dass ich etwas warten lasse. Wäre ja unhöflich. Davon abgesehen, wie viele männlich gelesene Personen haben wir das schon sagen gehört?

Kommen wir aber nochmal zur Erwartungshaltung zurück. Gehen wir also davon aus, dass wir alle so sozialisiert sind, dass Unordnung oder Schmutz in unserem Zuhause in der Verantwortung von uns weiblich gelesenen Personen liegt. Die Folge daraus ist natürlich, dass Ordnung und ein geputzter Zustand ein klares Zeichen nach außen sind: „Hier wohnt eine weiblich gelesene Person, die alles und sich selbst im Griff hat, die für Ordnung sorgen kann.“ Komme ich also in mein eigenes Wohnzimmer und rufe „Wie sieht’s denn hier aus?“ frage ich eigentlich auch „Wie konnte ich das zulassen?“ oder „Wie soll ich jetzt wieder Ordnung herstellen?“ Und an sich ist an Ordnung und Sauberkeit herstellen nichts Falsches. Ohne Ordnung würden wir unsere Dinge nicht mehr finden, andere würden kaputt gehen, weil wir drauf treten, andere wiederum müssen wir regelmäßig reinigen, um sie benutzen zu können.

ABER und hier kommt das große Aber, warum glauben wir, dass dies wichtiger sein könnte als unsere eigenen Kapazitäten, als unsere eigene Energie. Wir sagen oft sowas wie „Ich muss meinen Akku aufladen!“ Aber im Gegensatz zu elektrischen Geräten kann unsere Energie nicht bis zum roten Bereich aufgebraucht werden, um dann vollständig aufgefüllt werden. So funktioniert das nicht. Wenn wir uns dauerhaft bis in den roten Bereich abrackern und uns erst am Ende des Tages eine Pause gönnen, kann es passieren, dass wir nie wieder in den grünen Bereich kommen. Deswegen zwinge ich mich geradezu dazu, Pause zu machen, und alles zu tun, um gar nicht erst in den roten Bereich zu kommen. In meiner Carearbeit bin ich zeitlich flexibel und kann meine Pause dann eben schon um 10:30 machen und falls nötig, direkt danach noch eine. An harten Tagen mache ich nach jeder Aufgabe eine. Deswegen halte ich auch gar nichts davon, die Mittagspausen oder andere Pausen weg zu lassen. Als ich noch lohn-gearbeitet habe, habe ich in der Mittagspause gern ne Serie geschaut und mein Mittagessen dazu gegessen. An der Kombi hat sich bis heute nichts geändert.

Doch was genau verbraucht denn eigentlich meine Energie? Das bisschen Spülmaschine aufräumen? Die Puzzleteile aufheben und in die Schachtel legen? Die Wäsche, die ja immerhin schon gewaschen und trocken ist? Nein, es ist die Gesamtheit. Egal, wie groß die Familie, das Haus, die Menge an Arbeit. Alles verbraucht Energie, auch die Dinge, die ich gar nicht bemerke, weil sie nicht die Hauptlast ausmachen.

Denn es ist nicht unüblich, dass wir weiblich gelesenen Personen „schnell mal nebenher“ oder „wenn alle anderen Feierabend haben“ für Ordnung und Sauberkeit zu sorgen. Ich verstehe das und weiß, wie es sich anfühlt. In meinem Kopf visualisiert sich ein Bild von mir mit ganz langen Armen, die sich um „das Ganze“ legen und die ich nicht lösen darf, weil sonst alles auseinander fällt. An der Stelle hat mein Mann einen Spruch etabliert: „Sprich mir nach Ich muss aufhören, immer funktionieren zu wollen!“ Das ist eine der Möglichkeiten, diesem Druck zu entfliehen. Einen Schritt zurück gehen und das Gesamtbild zu betrachten, in dem in vielen Fällen eine zweite erwachsene Person mit im Haushalt lebt und auch für alles verantwortlich ist. Stichworte: 50:50 Elternschaft und Mental Load.

Privilegiencheck:

Bei vielen Fragen ist es wichtig, dass wir uns unserer Privilegien bewusst sind. Mein Mindset bezüglich dieser Frage kann nur funktionieren, wenn klar ist, warum ich diese Möglichkeit habe.

Bin ich in Gefahr oder widerfährt mir Gewalt, wenn ich nicht aufräume? Habe ich den Platz, um Dinge stehen zu lassen und kann trotzdem noch einen guten Alltag haben? Hab ich die Zeit, um die Sachen später noch zu erledigen?

Im zweiten Teil von Mitten im Chaos beantworte ich Fragen, die mir auf Instagram zu dieser Situation gestellt wurden.