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Ein neues Modell von ADHS ?

Willkommen im Spektrum!



Wie du sicher weisst, sind mir neue und stärken-orientiertiere Sichtweisen von Neurodivergenz sehr wichtig. In der Vorbereitung eines Vortrags dazu, habe ich ein neues Spektrum-Modell gefunden, das dazu bestens passt…


Heute möchte ich dir ein ganz besonderes Modell vorstellen, das neurodivergente Menschen, insbesondere diejenigen mit ADHS, betrifft. Es handelt sich um das Konzept des "neurodevelopmentalen Spektrums", das gerade dabei ist, unser Verständnis von ADHS und verwandten Störungen wie Autismus, Lernstörungen und anderen Entwicklungsstörungen zu revolutionieren. Aber was bedeutet das genau, und warum ist es wichtig für dich?

Lass uns einen Blick auf die wesentlichen Inhalte dieses neuen Ansatzes werfen – ganz ohne Fachchinesisch, sondern verständlich und praxisnah.

Warum ein neues Modell? Die Schwächen der klassischen Diagnosen

Viele von uns kennen die Herausforderungen klassischer Diagnosen wie ADHS oder Autismus: oft passen die starren Kategorien nicht wirklich zu dem, was wir erleben. Vielleicht hast du das Gefühl, dass du nicht ganz ins "ADHS-Klischee" passt, oder dass bestimmte Symptome nicht vollständig erfasst werden. Das liegt daran, dass die diagnostischen Kategorien der DSM-5 oder ICD-11 sehr starre Grenzen haben und oft nicht die ganze Komplexität abdecken, die viele Menschen erleben.

ADHS und andere neurodevelopmentale Störungen – also Störungen, die sich in der frühen Entwicklung zeigen – gehen oft Hand in Hand. Es ist gar nicht so selten, dass jemand sowohl ADHS als auch Merkmale aus dem Autismus-Spektrum hat. Oder dass motorische Herausforderungen wie Dyspraxie oder Lernschwierigkeiten mit ADHS zusammen auftreten. Hier stößt das alte System an seine Grenzen. Das neue Modell eines "neurodevelopmentalen Spektrums" versucht, genau das zu ändern.

Das neurodevelopmentale Spektrum: Ein Kontinuum statt starre Schubladen

Statt Menschen in starren Kategorien zu diagnostizieren, stellt das neurodevelopmentale Spektrum eine Dimension vor, auf der sich verschiedene neurodivergente Merkmale flexibel verorten lassen. Stell dir das Spektrum wie ein großes Farbrad vor, auf dem unterschiedliche Farben sanft ineinander übergehen – jede Farbe steht für eine bestimmte neurodivergente Eigenschaft wie ADHS, Autismus oder eine Lernschwäche.

Das Konzept des neurodevelopmentalen Spektrums geht jedoch weit über dieses einfache Bild hinaus. Statt starrer Schubladen ist das Spektrum ein dimensionales Modell, das die Individualität jedes Menschen und die einzigartigen Ausprägungen seiner Merkmale in den Vordergrund stellt. Dabei geht es nicht nur darum, ob jemand ADHS hat oder nicht – es geht darum, in welcher Intensität und Kombination bestimmte neurodivergente Merkmale bei einer Person vorhanden sind. Diese Merkmale werden nicht isoliert betrachtet, sondern im Zusammenspiel. Menschen befinden sich nicht fest in einer Kategorie, sondern zeigen in unterschiedlichem Ausmaß und in verschiedenen Kombinationen Merkmale, die typischerweise mit ADHS, Autismus oder anderen neurodevelopmentalen Störungen assoziiert sind.

Das Spektrum-Modell ermöglicht uns, nicht nur zu verstehen, was bei einer Person im Vordergrund steht, sondern auch, welche anderen Eigenschaften sich im Hintergrund befinden. Vielleicht sind bei dir die ADHS-Merkmale besonders stark ausgeprägt, aber gleichzeitig zeigst du auch einige Merkmale, die eher für das autistische Spektrum typisch sind. Es könnte sein, dass diese Merkmale nicht so stark sind, dass sie für eine zusätzliche Diagnose reichen, aber dennoch beeinflussen sie, wie du die Welt erlebst und mit ihr umgehst. Das Spektrum-Modell hilft dabei, dieses Zusammenspiel zu verstehen.

So wie die Farben auf einem Farbkreis ineinander verlaufen, überschneiden sich auch viele Merkmale von ADHS, Autismus, Lernstörungen und motorischen Entwicklungsproblemen. Das Modell betont, dass sich die Merkmale nicht voneinander abgrenzen lassen, sondern dass sie häufig miteinander interagieren. Das kann sich so äußern, dass eine Person, die ADHS hat, möglicherweise auch Schwierigkeiten im sozialen Bereich hat, die teilweise an autistische Merkmale erinnern. Gleichzeitig kann diese Person jedoch auch spezifische Stärken haben, die typisch für Menschen im autistischen Spektrum sind, wie z.B. die Fähigkeit, sich besonders gut auf Details zu konzentrieren.

Ein weiterer wichtiger Aspekt des Spektrums ist, dass es ein dynamisches Modell ist. Das bedeutet, dass die Ausprägungen der verschiedenen Merkmale sich im Laufe der Zeit verändern können. Vielleicht sind deine ADHS-Merkmale in der Kindheit besonders ausgeprägt gewesen, während im Erwachsenenalter eher soziale Unsicherheiten in den Vordergrund rücken. Das Spektrum-Modell gibt uns die Möglichkeit, diese Veränderungen zu verstehen und anzuerkennen. Es geht nicht darum, dich fest in eine Kategorie zu stecken, sondern deine Entwicklung als etwas Dynamisches zu sehen, das sich ständig weiterentwickelt.

Auch die genetische und neurobiologische Grundlage des Spektrums wird im dimensionalen Modell berücksichtigt. Verschiedene neurodevelopmentale Störungen teilen oft genetische Prädispositionen, und das Gehirn von Menschen mit ADHS, Autismus oder anderen neurodevelopmentalen Besonderheiten zeigt oft Ähnlichkeiten in der Entwicklung und Struktur. Das zeigt sich auch in den kognitiven Profilen – so gibt es bestimmte neuronale Schaltkreise, die bei Menschen mit unterschiedlichen Diagnosen ähnlich betroffen sind. Das Spektrum-Modell ermöglicht es, diese Gemeinsamkeiten zu erkennen und sie therapeutisch zu nutzen, anstatt starr in Kategorien zu denken, die die Komplexität neurodivergenter Menschen nicht wirklich widerspiegeln.

Zusammengefasst lässt sich sagen, dass das neurodevelopmentale Spektrum ein dimensionales und dynamisches Modell ist, das die Vielfalt neurodivergenter Merkmale als Kontinuum betrachtet. Es ermöglicht uns, die individuellen Stärken und Schwächen einer Person besser zu verstehen, ohne sie in starre Kategorien einzuordnen. Diese Flexibilität des Modells hilft nicht nur bei der Diagnostik, sondern vor allem bei der Entwicklung individueller Behandlungsansätze, die auf die Bedürfnisse des Einzelnen abgestimmt sind.

Vorteile des Spektrum-Modells für Menschen mit ADHS

Was heißt das konkret für dich als Person mit ADHS? Dieses Modell bringt viele Vorteile mit sich:

  1. Weniger Stigmatisierung: Anstatt starr in eine Kategorie "hineinzugehören", wird anerkannt, dass neurodivergente Merkmale in unterschiedlicher Intensität und Kombination vorkommen können. Das führt dazu, dass weniger Druck entsteht, einer bestimmten "Schublade" entsprechen zu müssen.

  2. Individuellere Behandlungsansätze: Wenn wir anerkennen, dass neurodevelopmentale Merkmale ineinander übergehen und oft gemeinsam auftreten, können wir auch die Behandlung besser darauf abstimmen. Ein starrer Fokus nur auf ADHS kann dazu führen, dass wichtige andere Herausforderungen übersehen werden. Das Spektrum-Modell führt zu einem individuelleren Verständnis und gezielteren Hilfestellungen.

  3. Stärken und Schwächen besser erkennen: Die Betrachtung eines Kontinuums hilft, sowohl die Stärken als auch die Schwächen zu sehen. Bei ADHS kann das z.B. bedeuten, dass man stärkere soziale Fähigkeiten hat, aber trotzdem manchmal Schwierigkeiten mit Impulskontrolle. Indem wir ein breites Spektrum betrachten, wird deutlich, dass es nicht nur um Defizite geht, sondern auch um wertvolle Fähigkeiten.

Ein Beispiel aus der Praxis

Nehmen wir Anna als Beispiel. Anna hat eine ADHS-Diagnose, doch sie merkt auch, dass sie manchmal Schwierigkeiten hat, mit bestimmten sozialen Situationen zurechtzukommen. Das alte System würde sie vielleicht nur in die ADHS-Schublade stecken, ohne darauf zu achten, dass sie auch Merkmale hat, die ins autistische Spektrum passen. Im Spektrum-Modell könnte Annas Behandlung sowohl ihre Impulsivität als auch ihre sozialen Schwierigkeiten gleichzeitig ansprechen – statt nur den ADHS-Aspekt zu behandeln.

Das bedeutet für Anna, dass sie eine ganzheitlichere Therapie bekommen könnte, die ihre Situation umfassend berücksichtigt. Das Modell fördert zudem das Verständnis, dass Anna nicht "falsch" oder "zu viel" ist, sondern dass ihre Herausforderungen und Stärken einfach in ihrer individuellen neurodivergenten Ausprägung liegen.

Was bedeutet das für die Forschung und unsere Gemeinschaft?

Die Einführung des neurodevelopmentalen Spektrums hat das Potenzial, unsere Forschung und Behandlungsmöglichkeiten zu revolutionieren. Es macht Schluss mit der Vorstellung, dass neurodivergente Merkmale nur in klar abgegrenzten Kategorien auftreten. Vielmehr betont es die Individualität jedes Einzelnen und die oft komplexen Wechselwirkungen zwischen verschiedenen neurodivergenten Eigenschaften.

Auch in der Selbsthilfe- und Coachingarbeit können wir das nutzen, um Angebote anzupassen. Anstatt Programme, die nur auf ADHS oder Autismus ausgerichtet sind, könnten wir vielmehr die Überschneidungen betrachten und Programme schaffen, die die Diversität innerhalb der Neurodivergenz wirklich abbilden.

Wie kann das Modell dir helfen?

  1. Selbstverständnis: Dieses Modell hilft dir, dich selbst besser zu verstehen, ohne dich in enge Kategorien zwängen zu müssen. Es hilft dir, dein Erleben als ein breites Kontinuum zu sehen, das nicht auf ein Wort reduziert werden kann.

  2. Kommunikation mit anderen: Es kann dir auch helfen, anderen zu erklären, was in deinem Kopf passiert. Statt zu sagen "Ich habe ADHS, aber ich passe nicht ganz ins Bild", kannst du erklären, dass deine neurodivergenten Merkmale individuell sind und sich auf einem Spektrum bewegen.

  3. Gezielte Hilfestellung: Indem du dir der unterschiedlichen Facetten deines Erlebens bewusst wirst, kannst du gezielter nach den Hilfen suchen, die für dich passen. Das können therapeutische Ansätze sein, die verschiedene Aspekte berücksichtigen, oder Selbsthilfe-Techniken, die dir helfen, ganz unterschiedliche Stärken und Herausforderungen anzugehen.

Was denkst du dazu?

Das neurodevelopmentale Spektrum ist eine spannende und sehr vielversprechende Weiterentwicklung in der Psychiatrie und Psychotherapie. Es bietet eine Perspektive, die es uns ermöglicht, nicht nur die Herausforderungen von ADHS und anderen neurodivergenten Merkmalen besser zu verstehen, sondern auch die Stärken, die in uns liegen, anzuerkennen. Es ist ein Modell, das mehr Raum für die Vielfalt schafft – und genau diese Vielfalt brauchen wir, um einander und uns selbst besser zu verstehen.

Ich hoffe, dieser Artikel konnte dir eine neue Sichtweise vermitteln, wie neurodevelopmentale Bedingungen verstanden werden können. Hast du Fragen dazu oder möchtest du deine Erfahrungen teilen? Dann lass uns gerne darüber sprechen!

LG Martin 🧠💡🌈👥🗣️✨🔗🎨💬🚀

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(Quelle: "Where do neurodevelopmental conditions fit in transdiagnostic psychiatric frameworks? Incorporating a new neurodevelopmental spectrum", abgerufen aus dem Artikel, den ich für diesen Blog zusammengefasst habe.)


Daneben geht es um Kanarienvögel, um Masking / Camouflage und um die japanische Sicht von Kintsugi. Statt mich auf meinen Vortrag in Osnabrück am 26.10 vorzubereiten bzw. wenigstens auf den Online-Vortrag am 5.11 für den Verband Neurodiversität kommen mir halt syndromtypisch lauter andere Sachen in den Kopf.

Der Canary Code: Was neurodivergente Menschen uns über unsere Welt lehren können

Manchmal braucht es einen Moment des Innehaltens, in dem wir beginnen, die Dinge um uns herum anders zu betrachten. Vieles von dem, was wir für selbstverständlich halten—die Büros, in denen wir arbeiten, die Schulen, in denen wir lernen, die Art und Weise, wie wir miteinander sprechen—wurde für die Mehrheit entworfen.

Aber was ist mit denen, die nicht zur Mehrheit gehören? Neurodivergente Menschen, insbesondere jene im Autismus-Spektrum, haben oft Momente erlebt, in denen sie auf Dinge hinweisen mussten, die andere übersehen haben. Sie spüren die Unstimmigkeiten und reagieren darauf, lange bevor die meisten anderen es überhaupt bemerken. Das nennt man auch den Canary Code.

Der Begriff „Canary Code“ stammt von der Praxis in alten Kohleminen, in denen Kanarienvögel als Frühwarnsystem dienten. Wenn die Vögel anfingen, an giftigen Gasen zu sterben, wussten die Bergleute: Die Luft hier ist gefährlich. Heute sind es neurodivergente Menschen, die als „Kanarienvögel“ fungieren—nicht in Minen, sondern in Schulen, Büros und sozialen Umgebungen bis hin in unsere engsten Keimzellen, unsere Familie.  Ihre Reaktionen auf schädliche oder ungünstige Bedingungen zeigen uns, dass diese Umgebungen grundlegend überdacht werden sollten. Oder Veränderungen systemisch gedacht Sinn machen, ja lebensrettend sein könnten. 

Wir, die neurodivergenten Schüler und Erwachsenen, sind somit quasi Seismographen bzw. Indikatoren für strukturelle Störungen in unserer Umgebung. Wir reagieren früher und empfindlicher auf Bedingungen, die aber für ALLE Menschen ungesund sind. 

Der Wert des Unbehagens

Neurodivergente Menschen erleben oft ein Unbehagen, das sie dazu bringt, auf Missstände aufmerksam zu machen. Was für neurotypische Menschen wie ein kleiner Ärger—laute Geräusche im Großraumbüro, flackerndes Neonlicht oder ein überfüllter Raum—wirkt, kann für neurodivergente Menschen wie eine sensorische Überlastung wirken, ein Sturm aus Reizen, der sie in die Knie zwingt. Aber das Problem ist nicht ihre Reaktion, sondern das Umfeld selbst.

Das gilt für normale physikalische Reize aber genauso wie für emotionale Spannungen und Störungen, bis hin zu Ungerechtigkeit oder auch Langeweile. Fürcherlich. 

Wann wird nun aus dem Unbehagen, eine Störung. Aus einer Störung eine Krankheit oder Behinderung?  Und warum bedeutet das eben gerade nicht, dass man sich "nicht so anstellen sollte"?

Der Canary Code fordert uns auf, das Unbehagen von uns neurodivergenten Menschen nicht als Zeichen ihrer Überempfindlichkeit abzutun.

Vielmehr sollten wir uns fragen: Wenn eine Person auf diese Umgebung so heftig reagiert, könnte es sein, dass die Umgebung selbst problematisch ist? Ist es vielleicht so, dass diese laute, grelle und unübersichtliche Welt auch für andere nicht ideal ist, nur sind ihre Warnsignale weniger offensichtlich? Der Canary Code macht deutlich, dass die Anpassung neurodivergenter Menschen nicht die Lösung ist. Stattdessen sollten wir die Umgebungen anpassen, um gesündere Bedingungen für alle zu schaffen.

Eigentlich logisch und häufig mit vergleichsweise geringen Mitteln zu machen, wenn denn die Bereitschaft zur Anpassung nicht allein von der neurodivergenten Person gefordert würde. Also sich auch die "andere Seiten" der neurotypischen Majorität ein klein bisschen anpassen würde. Nicht viel. Nur ganz wenig und in den Bereichen, die eben eigentlich ganz glasklar logisch allen Menschen das Leben leichter machen würde .

Nun ist es aber wie so häufig. Wenn man den Mund aufmacht und sein Unbehagen artikuliert, wenn man gar handfeste Belege und Analysen der ungünstigen Bedingungen und Störquellen analysiert und fundiert argumentiert, dann bedeutet das noch lange nicht, dass die Umwelt darauf so reagiert, wie es richtig wäre. 

Bildlich gesprochen : Es werden verdammt viele Kanarienvögel weiter in den Minen geopfert, bis sich was tut. Wenn überhaupt. 

Und dann spürt man (ich) in sich diese innere Verzweifelung, diese Ungerechtigkeit und Ohnmacht, weil das doch total unlogisch und falsch und gemein ist. Weil man es doch eigentlich ändern könnte, ja mit etwas gesundem Menschenverstand ÄNDERN MÜSSTE. Aber nichts passiert. 

Und das fängt schon beim miteinander REDEN und ZUHÖREN an. 

Klarheit und Direktheit in der Kommunikation

Viele neurodivergente Menschen, insbesondere Autisten, haben Schwierigkeiten mit der Art von Kommunikation, die wir für normal halten—indirekte Andeutungen, subtile soziale Hinweise, unklare Erwartungen. Während neurotypische Menschen gelernt haben, in diesen Grauzonen zu navigieren, kann es für neurodivergente Menschen extrem belastend sein, ständig Codes entschlüsseln zu müssen. Ein beiläufiger Satz, der „nur“ eine Andeutung enthält, kann für jemanden im Autismus-Spektrum eine unlösbare Aufgabe darstellen, die zu Verwirrung und Stress führt.

Der Canary Code schlägt vor, dass wir unsere Kommunikation klarer und direkter gestalten. Das bedeutet nicht, unhöflich zu sein. Es bedeutet, transparent zu sein, Erwartungen klar zu formulieren und sicherzustellen, dass wir uns wirklich verstehen. Es hilft nicht nur neurodivergenten Menschen, sondern letztlich uns allen, wenn wir nicht ständig interpretieren und raten müssen, was jemand meint. Weniger Missverständnisse, weniger Unsicherheiten, mehr Verbindung.

Masking: Der unsichtbare Kampf

„Masking“ beschreibt den Versuch neurodivergenter Menschen, ihre natürlichen Reaktionen und Verhaltensweisen zu verbergen, um in einer neurotypischen Welt akzeptiert zu werden. Diese Anpassung kostet immense Energie und hat oft langfristige negative Folgen wie Burnout, Angstzustände und Depressionen. Masking ist kein „Erfolg“, den es zu feiern gilt, sondern eine Notlösung, die zeigt, dass die Welt, in der wir leben, nicht genug Platz für alle unterschiedlichen Arten des Seins lässt.

Der Canary Code fordert eine Veränderung dieser Strukturen. Wenn Menschen ihre natürlichen Eigenarten verstecken müssen, nur um akzeptiert zu werden, läuft etwas gewaltig schief. Wir müssen Räume schaffen, in denen neurodivergente Menschen sich frei ausdrücken können, ohne Angst vor Ablehnung oder Missverständnissen. Authentizität muss möglich sein, damit niemand das Gefühl hat, sein wahres Selbst verstecken zu müssen, nur um irgendwie dazuzugehören.

Die Anpassung der Umgebung, nicht der Menschen

Ein zentrales Prinzip des Canary Code ist, dass wir nicht die Menschen an die Systeme anpassen sollten, sondern die Systeme an die Menschen. Wenn jemand im Großraumbüro überfordert ist, ist nicht die Person das Problem—das Großraumbüro ist es. Die Antwort darauf sollte nicht lauten: „Du musst lernen, damit klarzukommen.“ Sondern vielmehr: „Wie können wir diese Umgebung ändern, damit sie besser für dich funktioniert?“ Das gilt nicht nur für Arbeitsplätze, sondern auch für Schulen, Universitäten und sogar für soziale Zusammenkünfte. Wenn wir die Welt anpassen, um neurodivergente Menschen zu unterstützen, schaffen wir letztlich bessere Bedingungen für alle. Was neurodivergenten Menschen hilft—mehr Ruhe, bessere Struktur, klarere Kommunikation—ist auch für neurotypische Menschen förderlich. Das ist der eigentliche Gewinn des Canary Code: Alle profitieren von einer integrativeren Welt.

Rücksicht auf soziale Erschöpfung

Für viele neurodivergente Menschen sind soziale Interaktionen keine Selbstverständlichkeit, sondern Arbeit. Oft sehr anstrengende Arbeit. Sie sind ständig damit beschäftigt, soziale Regeln zu deuten, Hinweise richtig zu verstehen und ihre Reaktionen anzupassen, damit sie in die sozialen Erwartungen passen. Diese ständige Anpassung führt zu einer Art sozialem Burnout, der von außen oft nicht sichtbar ist. Während viele Menschen das Bedürfnis nach Ruhe nach einem langen Tag als normal betrachten, kann die Erschöpfung für neurodivergente Menschen viel tiefer und lähmender sein.

Der Canary Code fordert uns auf, diese Erschöpfung ernst zu nehmen. Rückzugsräume, Pausen und die Möglichkeit, sich aus sozialen Situationen zurückzuziehen, sollten kein „Privileg“ sein, das man sich verdienen muss, sondern eine Selbstverständlichkeit. Und vor allem sollte es keinen sozialen oder beruflichen Nachteil darstellen, wenn jemand diese Möglichkeit nutzt.

Offenheit für Anpassungen und individuelle Lösungen

Das Konzept des Canary Code erinnert uns daran, dass universelle Lösungen nicht für alle passen. Jeder Mensch ist einzigartig, und neurodivergente Menschen haben oft sehr individuelle Bedürfnisse. Manche brauchen mehr Ruhe, andere klare Kommunikation, wieder andere spezifische Routinen. Der Canary Code fordert uns dazu auf, individuell zuzuhören, anstatt eine Einheitslösung zu erzwingen. Wir sollten die Flexibilität haben, Arbeitsplätze, Schulen und sogar soziale Räume so zu gestalten, dass sie den Bedürfnissen jedes Einzelnen gerecht werden.

Also: Hören wir den Kanarienvögeln zu

Der Canary Code fordert nicht nur mehr Empathie für neurodivergente Menschen, sondern eine grundlegende Veränderung der Art und Weise, wie wir als Gesellschaft funktionieren. Die Sensibilität neurodivergenter Menschen ist kein Defizit, sondern ein Geschenk. Sie zeigen uns, wo unsere Systeme toxisch sind, wo Veränderung notwendig ist und wie wir die Welt besser machen können—nicht nur für eine kleine Gruppe von Menschen, sondern für uns alle. Die Anpassungen, die für neurodivergente Menschen gemacht werden, verbessern die Welt für alle. Das Großraumbüro, das stressfreier gestaltet wird, hilft nicht nur Autist, sondern auch denen, die es gar nicht gewusst haben, dass sie von Lärm und Chaos gestresst waren. Der klare, direkte Kommunikationsstil, den wir kultivieren, hilft nicht nur denen, die mit Subtilitäten kämpfen, sondern sorgt für weniger Missverständnisse in allen Beziehungen.

Hören wir den „Kanarienvögeln“ in unserer Mitte zu, bevor es zu spät ist. Ihre Stimmen sind nicht nur Warnungen, sondern auch Wegweiser. Wenn wir bereit sind, zuzuhören, können wir eine Welt gestalten, in der niemand sich verstecken oder anpassen muss—eine Welt, in der Platz für alle ist.

LG Martin 🧠💡🌈🤝🧣✨🔗🎨💬🚀
Steady-Community: Neurodiversität und ADHS (Abre numa nova janela)

Masking



Ausserdem möchte ich eine bedeutende Studie mit euch teilen, die sich mit der Frage auseinandersetzt, ob das sogenannte "Camouflaging" (Maskierung autistischer Merkmale) die Lebensqualität von Menschen im Autismus-Spektrum beeinträchtigt. Letztlich dürfte sie auch gut auf ADHS zu übertragen sein. Es handelt sich dabei um eine Co-Twin-Control-Studie, die interessante Einblicke in die Auswirkungen des Camouflaging-Verhaltens liefert.

Camouflaging und seine Auswirkungen

Camouflage bei Autismus : Silouette vor Puzzleteilen (Abre numa nova janela)

Camouflaging beschreibt die bewusste Anpassung und das Verbergen autistischer Verhaltensweisen, um sich besser in soziale Situationen einzufügen oder um Vorurteile und Ablehnung zu vermeiden. Viele Autistinnen und Autisten greifen auf diese Strategien zurück, um soziale Erwartungen zu erfüllen oder um ihre neurotypischen Mitmenschen nicht zu irritieren. Dabei geht es unter anderem um das Erzwingen von Augenkontakt, das Nachahmen sozialer Verhaltensweisen oder das Verwenden vorbereiteter "Skripte" für Gespräche. Besonders häufig wird dieses Verhalten von Frauen im Autismus-Spektrum gezeigt, was vermutlich auch durch gesellschaftliche Erwartungen an weibliches soziales Verhalten beeinflusst ist.

Die Studie, die ich hier vorstellen möchte, wurde mit 140 Zwillingen durchgeführt, darunter 42 eineiige und 28 zweieiige Zwillingspaare. Sie nutzte das Co-Twin-Control-Design, das eine besondere Kontrolle für genetische und umweltbedingte Faktoren bietet, um den Einfluss von Camouflaging auf die Lebensqualität zu untersuchen. Die Ergebnisse zeigen, dass höhere Werte beim Camouflaging mit einer verringerten Lebensqualität einhergehen – sowohl bei autistischen als auch bei nicht-autistischen Teilnehmer. Bei Zwillingen, von denen einer stärker maskierte als der andere, zeigte der maskierende Zwilling eine signifikant niedrigere Lebensqualität, was auf eine mögliche kausale Beziehung zwischen Camouflaging und verringertem Wohlbefinden hinweist.

Die Vor- und Nachteile von Camouflaging

Camouflaging hat einige kurzfristige Vorteile. Es kann zum Beispiel helfen, in sozialen Situationen akzeptiert zu werden, Freundschaften zu schließen oder berufliche Chancen zu verbessern. Gerade für Frauen im Spektrum kann Camouflaging helfen, den gesellschaftlichen Erwartungen zu entsprechen und weniger negativ aufzufallen. Es handelt sich also um eine Strategie, die sozialen Schutz bietet und oft auch aus einem Bedürfnis nach Zugehörigkeit heraus entwickelt wird.

Allerdings zeigt die Studie, dass die langfristigen Folgen von Camouflaging oft negativ sind. Menschen, die stark maskieren, berichten häufig über ein Gefühl der Inauthentizität und über Probleme, echte zwischenmenschliche Beziehungen zu entwickeln. Die ständige Anstrengung, sich zu verstellen, ist psychisch belastend und wird oft mit Angstzuständen, Depressionen und sogar mit erhöhter Suizidalität in Verbindung gebracht. In der Studie zeigte sich, dass Camouflaging zu einer Reduktion der Lebensqualität führt – sowohl in Bezug auf psychologisches Wohlbefinden als auch auf soziale Zufriedenheit.

Interessanterweise waren die negativen Auswirkungen des Camouflaging bei Frauen besonders ausgeprägt. Das könnte daran liegen, dass Frauen häufiger und intensiver maskieren und die gesellschaftlichen Erwartungen an sie, emotional kompetent zu sein, größer sind. Dadurch setzen sie sich oft einem stärkeren Druck aus, der die negativen Folgen des Maskierens verstärkt.

Wie können wir helfen?

Die Ergebnisse der Studie machen deutlich, dass Camouflaging zwar kurzfristig hilfreich sein kann, langfristig jedoch erhebliche Kosten mit sich bringt. Deshalb ist es wichtig, dass wir sowohl bei der Diagnostik als auch bei therapeutischen Ansätzen auf diese Verhaltensweisen eingehen. Eine zentrale Aufgabe ist es, eine Umgebung zu schaffen, in der Menschen im Autismus-Spektrum sich authentisch verhalten können, ohne für ihre Andersartigkeit verurteilt zu werden. Sensibilisierungsarbeit bei neurotypischen Menschen ist dabei genauso wichtig wie die individuelle Stärkung autistischer Menschen, damit sie selbstbestimmt entscheiden können, wann und in welchem Maße sie camouflieren wollen.

In der Praxis könnte das bedeuten, dass wir in sozialen Kontexten mehr Raum für neurodivergente Verhaltensweisen schaffen, beispielsweise durch öffentliche Aufklärung über Autismus, durch die Arbeit in Selbsthilfegruppen oder durch therapeutische Interventionen, die ein gesundes Selbstbewusstsein fördern. Es ist auch wichtig, Menschen im Spektrum dabei zu unterstützen, alternative Bewältigungsstrategien zu entwickeln, die weniger belastend sind als Camouflaging.

Die Studie zeigt deutlich, dass wir noch viel tun müssen, um die Lebensqualität von Menschen im Autismus-Spektrum nachhaltig zu verbessern – und das beginnt bei einem verständnisvolleren Umgang mit der Herausforderung des Camouflaging.

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Was denkst du über das Thema Camouflaging? Kennst du solche Erfahrungen vielleicht aus deinem eigenen Leben oder von Menschen in deinem Umfeld? Teile deine Gedanken gerne mit uns in der Community!

LG Martin ✨🔗💬

Quelle : Remnélius, K.L., Neufeld, J., Isaksson, J. et al. Does Camouflaging Cause Reduced Quality of Life? A Co-Twin Control Study. J Autism Dev Disord (2024). https://doi.org/10.1007/s10803-024-06583-0 (Abre numa nova janela)

ADHS und Kintsugi: Die Kunst der Zerbrochenheit

ADHS kann das Leben manchmal wie ein zerbrochenes Puzzle erscheinen lassen. All die Herausforderungen – von Unaufmerksamkeit über Impulsivität bis hin zu emotionaler Dysregulation – können uns das Gefühl geben, dass wir nicht „zusammenpassen“. Doch was, wenn genau diese Brüche ein Teil unserer einzigartigen Schönheit sind?

In der japanischen Kunst des Kintsugi werden zerbrochene Keramiken nicht versteckt, sondern mit goldenen Fugen repariert. Die Risse werden nicht als Fehler angesehen, sondern als Teil der Geschichte des Objekts, das durch das Gold seine Einzigartigkeit und Wertschätzung erhält.

ADHS ist kein Defekt, den wir verbergen müssen. Die Herausforderungen und Brüche in unserem Leben können uns helfen, tieferes Verständnis, Resilienz und Kreativität zu entwickeln. Wir alle haben unsere „goldenen Fugen“ – die Strategien, die wir entwickelt haben, um mit unseren Stärken und Schwächen umzugehen.

Anstatt uns für unsere Unterschiede zu schämen, sollten wir unsere individuellen Wege, mit ADHS zu leben, feiern. Genau wie beim Kintsugi machen uns unsere Herausforderungen stärker und formen eine einzigartige, strahlende Version unserer selbst.

Wie geht ihr mit euren eigenen „goldenen Fugen“ um?


So, das war es mal wieder für heute.


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