PBN-Labor #18 mit gähnender Leere
Liebe alle,
ich verrate euch ein Geheimnis: Während ihr diesen Text lest, sitze ich in einem ICE und fahre aus dem Urlaub Richtung Berlin.
Euch muss das nicht grämen, denn
fährt der Zug, wenn er denn fährt, mit Sicherheit in umgekehrter Wagenreihung ohne Klimaanlage und Bordbistro,
habt ihr vermutlich selbst bald Urlaub, und
habe ich wie jede gute Fernsehköchin da schonmal was vorbereitet.
Das normale Volk ist wieder da. Von Friedrich Merz bis Sahra Wagenknecht erklären sich politisch Handelnde heute für die Stimme der „normalen Bevölkerung“. Aber auf welche Normalität berufen Sie sich dabei? In seinem Essay „Neue Normalisten“ findet Thorsten Holzhauser überraschende Antworten – jetzt kostenlos zu lesen (Opens in a new window) im Newsletter der Kulturzeitschrift MERKUR.
Thema der Woche: Tote Hose Erdgeschoss
Worum geht’s?
Leer. Leer. Leer. Zu vermieten.
Ich leide unter notorischer Neugierde und kann nicht anders, als beim Laufen durch den Kiez in Erdgeschossfenster zu schielen. Aktuell sieht man da recht häufig: nichts. Egal ob große Magistrale oder kleine Nebenstraße, viele Laden- und Büroflächen stehen leer, und das monatelang.
Warum ist das wichtig?
Mit ein Grund, weshalb Altbauviertel wie der Prenzlauer Berg so beliebt sind, ist die funktionale Mischung, wie Auskenner:innen sagen. Hier kann man wohnen, arbeiten, einkaufen und sich vergnügen, ohne den Kiez groß verlassen zu müssen.
Der letzte Schrei der aktuellen Stadtplanung ist die 15-Minuten-Stadt (Opens in a new window), in der alles für den Alltag Wichtige innerhalb von einer Viertelstunde erreichbar ist.
Wir leben das hier seit 1870. Doch wenn statt Büros, Läden und Cafés der Leerstand herrscht, ist dieses Ökosystem gestört.
Was sagt die Statistik?
Die Zahl der Unternehmensinsolvenzen ist in Berlin zuletzt gestiegen (Opens in a new window). Besonders betroffen: der Handel.
Anfang 2020 waren 16 Prozent der Berliner Gastronomien von einer Insolvenz bedroht (Opens in a new window). 2022 waren es 23 Prozent. 149 Läden mussten im vergangenen Jahr wegen Geldmangel dicht machen (Opens in a new window).
In Berlin ist die durchschnittliche Gewerbemiete von 9,50 Euro im Jahr 2012 auf 19 Euro bis 2020 hochgeschnellt (Opens in a new window). Innerhalb des S-Bahnrings ist diese Entwicklung besonders krass.
Beschleunigt durch die Pandemie gehen die Mieten im Einzelhandel deutschlandweit zurück. Der Trend zum Onlinehandel hat Folgen – außer in Berlin. Dort haben die Mieten in beliebten Lagen im Schnitt um 19 Prozent zugelegt (Opens in a new window).
Was sagen die Betroffenen?
Nils Busch-Petersen ist Geschäftsführer des Handelsverbandes Berlin-Brandenburg. Er meint:
Der stationäre Handel hat sich immer noch nicht von Corona erholt. Anders als etwa die Gastronomie hat der Einzelhandel bislang keine Novemberhilfen erhalten. Die Klage dagegen läuft aber noch. Er erzählt von Menschen, die ihre Läden mit ihrer gekündigten Altersvorsorge über die Pandemie gebracht haben – und denen jetzt doch die finanzielle Luft ausgeht.
Die Verlagerung des Einkaufens in Netz sowie das zurückhaltende Shoppingverhalten der Menschen in Zeiten der Dauerkrisen sorgen ebenso für Geschäftsaufgaben. Im Einzelfall sind auch steigende Mieten ein Problem.
Als Hilfe sieht er, dass das Land Berlin auch 2024 auf die Sondernutzungsgebühr verzichtet (Opens in a new window), die Läden und Gastonomien zahlen müssen, wenn sie ihre Tische und Waren auf den Bürgersteig stellen wollen.
Zudem fordert er mehr verkaufsoffene Sonntage. Bislang reizt Berlin die rechtlich mögliche Zahl nicht aus.
Gerrit Buchhorn in stellvertretender Vorsitzender des Berliner Hotel- und Gastronomieverbands (DEHOGA). Sein Statement:
Die Gastronomie hat gerade viele Probleme: gestiegene Lebensmittelpreise, gestiegener Mindestlohn, Rückkehr zu 19 Prozent Mehrwertsteuer nach 7 Prozent in der Pandemie. Zudem sind die Gewerbemieten eine Belastung, die immer größer wird.
Die Gesamtsituation gefährdet die Gastroszene; die Zahl der Pleiten steigt (s. Statistik oben).
Er wünscht sich eine erneute Senkung der Mehrwertsteuer. Zuständig ist der Bundestag, in dem es zuletzt (Opens in a new window) dafür jedoch keine Mehrheit gab.
Pia Lehmkuhl ist Center-Managerin der Schönhauser Allee Arcaden. Sie meint:
Aktuell ist das Center sehr gut ausgelastet.
Zuletzt waren zwar einige Flächen nicht belegt. Das war jedoch strategischer Leerstand.
Die größte Lücke ist aktuell der einstige Edeka im Untergeschoss, der nun durch einen Rewe ersetzt wird. Die Eröffnung ist für Frühjahr 2025 geplant.
Was sagt die Politik?
So mannigfaltig die Probleme, so vielseitig die potentiellen Möglichkeiten, etwas gegen die Pleiten und den Leerstand zu tun.
Anfang Juni hat der Senat zu einem Zentrengipfel (Opens in a new window) geladen und sich dazu entschlossen, erstmal zwölf Einkaufsstandorte gezielt zu fördern, darunter die Schönhauser Allee Arcaden. Was genau gemacht werden soll? Dafür wird jetzt erstmal ein Jahr lang ein Konzept erarbeitet. Denkbar sind wohl Dinge wie ein Zusammenschluss von Händler:innen, um eine gemeinsame Weihnachtsbeleuchtung zu organisieren und das Einkaufen damit noch mehr zum Event zu machen.
Auf Bezirksebene ist Pankows grüne Bürgermeisterin Cordelia Koch auch die Fachfrau für Wirtschaftsförderung. Sie sagt:
Der Bezirk versucht, etwa über Pilotprojekte Einfluss zu nehmen. Als Beispiel nennt sie “Design.Window.Berlin (Opens in a new window)” – eine Aktion aus dem vergangenen Winter, als Designer:innen ihre Entwürfe in leerstehenden Ladengeschäften zeigten. Dadurch wurden die Geschäfte zumindest kurzfristig belebt.
Ansonsten kann die Politik wenig machen, wenn es darum geht, wer zu welchem Preis an wen Gewerbeflächen vermietet. Anders als der Miet- ist der Gewerbemarkt kaum reguliert. Eine Möglichkeit sieht sie jedoch bei den städtischen Wohnungsbaugesellschaften, die auch Ladenlokale im Angebot haben. Hier wünscht sie sich eine stärkere Zusammenarbeit.
Was sagen die Vermieter:innen?
Leider: nichts. Ich habe diverse Interessenverbände angefragt und auch immer wieder nachgehakt. “Wenn sich der Herr X noch nicht bei Ihnen gemeldet hat, möchte er nichts dazu sagen”, war die konkreteste Antwort, die ich bekommen konnte.
Julianes Kommentar
Ja, die Altbaufassaden sind auch hübsch. Aber was ich am Prenzlauer Berg besonders mag, ist das Gewusel auf den Straßen. Da sind eben nicht nur Menschen, die früh zur Arbeit und abends zurück aufs Sofa hetzen, sondern Leute, die im Café sitzen, durch Postkartenaufsteller scrollen oder eine Sitzbank vor ihr Erdgeschossbüro gestellt haben.
Einerseits.
Andererseits sollte ich letztens 4,50 Euro für einen kleinen Kaffee und 4 weitere für ein Pain au Chocolat bezahlen, und irgendwo hört es dann auch auf. Wenn wir solche Preise brauchen, damit sich das für die Gastronom:innen noch rechnet, bin ich raus (außer, jemand erhöht noch rasch die Honorare für freie Journalistinnen. Werdet gerne zahlendes Mitglied (Opens in a new window), by the way).
Ich habe gar nichts gegen Veränderung. Doch wenn wir etwas verlieren, das die Stadtplanung gerade erst als mega-erhaltenswert wiederentdeckt hat, sollten wir vielleicht doch ins Nachdenken kommen. Viele Stellschrauben, um etwas gegen den Leerstand zu tun, gibt es (siehe oben) ja.
Gemeinsam mit Euch bauen wir die kleine, sympathische Zeitung für Prenzlauer Berg. Für ein besseres Leben, Hilfe im Alltag und Überblick im Kiez. Sei dabei uns gestalte mit! Ist nicht teuer und Du kannst jederzeit kündigen. No questions asked.
Kurze Zwischenfrage: Vielleicht ist euch schon aufgefallen, dass wir unsere Artikel seit einiger Zeit strukturieren, in “Worum geht’s?”, “Warum ist das wichtig?” usw., garniert mit ein paar Spiegelstrichen.
Wir machen das, weil wir glauben, dass Themen so leichter zugänglich sind und sich jede:r einfach und bequem die Aspekte rauspicken kann, die ihn oder sie interessieren. Und überlesen, was halt nicht.
Funktioniert das für euch?
🤩 Ich bin Fan, bitte weitermachen! (Opens in a new window)
🙅♀️ Och nö, ich will meine langen Fließtexte zurück! (Opens in a new window)
Machen
„Berlin – Ecke Schönhauser“, Donnerstag, 18.07, 21 Uhr
Klassiker von 1957 im Open-Air-Kino im Hof vom Kultur- und Bildungszentrum Sebastian Haffner. Danach Gespräch mit Journalist Alexander Osang, Eintritt frei (mehr (Opens in a new window))
Liebe Grüße und bis bald,
Juliane von den Prenzlauer Berg Nachrichten.