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Über die Sucht junger Menschen berichten (?)

Vor ein paar Tagen habe ich eine funk-Redaktion beraten. Das Team hatte die My Brain My Choice Initiative (Opens in a new window) kontaktiert und uns gefragt, ob wir junge Menschen kennen, die mit Sucht zu kämpfen haben und über die sie eine Reportage machen könnten. Ich habe ihnen bei der Gelegenheit recht ausführlich mit deutlicher Kritik geantwortet. Viele im MBMC-Netzwerk finden funk-Reportagen zu dem Thema und überhaupt über Personen in vulnerablen Lebenssituationen oft hochproblematisch.

Die Redaktion hat positiv geantwortet und offenbar angefangen, sich mit der Kritik produktiv auseinanderzusetzen. Vor ein paar Tagen, habe ich ihnen die Bedenken genauer erläutern können. Zukünftig werden möglicherweise weitere Mitwirkende der MBMC-Initiative (Opens in a new window) in den Austausch einbezogen.

Die Frage lautet: (Wie) kann man über Jugendliche oder junge Erwachsene, die mit Sucht und Stigma zu tun haben, verantwortungsvoll in Reportagen berichten?

Was denkt ihr?

Habt ihr Beispiele für Reportagen über drogengebrauchende Heranwachsende (in dem Fall mit, aber gern auch ohne Abhängigkeit), die ihr hilfreich und gelungen findet?

Der Artikel ist ursprünglich am 30.9.2024 mit Paywall erschienen. Als Mitglied erhältst du das Drogenpolitik Briefing für 3€ im Monat (oder mehr für Förder*innen) ohne Verzögerung und zusätzlich exklusive Updates.

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Hier fasse ich euch meine Bedenken zusammen:

Die Absicht, über junge Menschen, die mit dem Stigma zu kämpfen haben, zu berichten und so für Mitgefühl und Verständnis zu sorgen, ist sicherlich gut gemeint. Beim Ansatz von funk-Reportagen geschieht das aber nicht etwa in Form von Interviews mit erwachsenen Fachleuten, sondern wird anhand des Alltags von einzelnen Personen portraitiert. Es werden nicht unbedingt Minderjährige gesucht, aber auf jeden Fall junge Erwachsene.

Das geht mit einer großen Verantwortung einher. Gerade junge Menschen können die gesamte potenzielle Bedeutung des Stigmas auf ihr Leben noch nicht abschätzen. (Muss man ja erstmal erfassen, in was für eine Welt man da reinwächst.) Während mit solch einer Reportage ein Beitrag zur Entstigmatisierung versucht werden will, steht dem die Gefahr des lebenslangen Stempels als Süchtige*r und Drogenopfer etc. gegenüber.

Erwachsene Menschen, die Drogen konsumieren, entscheiden sich in der Regel bewusst gegen eine öffentliche Darstellung ihres Konsums. Dies liegt nicht nur an der potenziellen Kriminalisierung, die der Besitz und Erwerb (und ggf. Weitergabe und Handel) bestimmter Substanzen mit sich bringt, sondern vor der teils viel unmittelbarer drohenden Schublade, die man kaum noch verlassen kann. Mit allen möglichen und schwer nachweisbaren Folgen von Vorurteilen auf dem Arbeitsmarkt, in sozialen Beziehungen, einfach überall im gesellschaflichen Leben.

Selbst bei einer Anonymisierung gibt man von seiner sehr persönlichen Geschichte preis und serviert sie der Beurteilung von Zuschauenden in YouTube-Kommentaren. Kann man das sinnvoll moderieren? Weiß ich nicht.

Im Wesentlichen problematisch an der Herangehensweise der individuellen Portraitierung finde ich:

Es ist nicht die Aufgabe von bereitwilligen Heranwachsenen, die sich dem Stigma mutig medial widersetzen würden, das Problem zu beheben. Sie sind es, die ihr Gesicht hergeben und das volle Risiko eingehen. Dabei liegen die Hebel für Veränderung woanders.

Als Jugendliche und Heranwachsende treffen wir mitunter Entscheidungen, die wir als Erwachsene nicht mehr reizvoll und zu riskant finden (bspw. Rauchen anfangen oder Jahrmarkt-Fahrzeuge). Daraus lässt sich ableiten, dass wir als Erwachsene besonders verantwortungsvoll mitdenken müssen, welche Angebote wir jungen Menschen machen.

Betroffene von Sucht finden sich in einer äußerst verletzlichen Situation. Eine Abhängigkeit und die Suche nach passender Hilfe wäre eigentlich anstrengend genug, doch hinzu kommen zusätzliche Belastungen wie Selbstvorwürfe, Vorwürfe anderer, Scham, Beschämung, Ausgrenzung, Rückzug und eine Politik der Kriminalisierung. Wenn es einen erwischt, Probleme mit der Justiz, Führerscheinentzug (als Strafe für Besitzdelikte oder irrelevante Restwerte), möglicherweise Schulverweis und traumatisierende Hausdurchsuchungen durch die Polizei und Staatsanwaltschaften.

Familienmitglieder sind oft überfordert. Die Schuld-Frage steht ständig im Raum und belastet alle Beteiligten noch weiter. In Deutschland gibt es ein Hilfesystem, aber von flächendeckender Gewährleistung wie es die Menschenrechte vorsehen (Opens in a new window) und stabilen Haushaltsmitteln durch die Bundesländer sind wir weit entfernt und entfernen wir uns mit den aktuellen Wahlergebnissen weiter.

Wer entstigmatisieren und aufklären möchte, muss den Fokus vom Individuum nehmen.

Eine erfolgreiche Entstigmatisierung von Sucht kann nicht erreicht werden, solange man sich nur auf das Individuum fokussiert. Sucht ist keine Frage von “moralischem Versagen” oder “Willenschwäche” und auch keine Krankheit, die mit dem Gang zum Arzt erledigt ist. Eine Abhängigkeit von illegalisierten Substanzen steht immer im Kontext von Stigmatisierung und Kriminalisierung.

Mediale Berichterstattung sollte also verstärkt die strukturellen Ursachen und Hindernisse in den Blick nehmen. Eine mehr oder weniger große Rolle können spielen: Das persönliche Umfeld, Jugendamt, Politik, Gesundheitssystem, Schule, Arbeitsplatz, Justiz, Gewalterfahrungen und mangelnder Schutz, strukturelle Diskriminierung, die gesundheitlichen Folgen von Armut und Elend. Es reicht nicht aus, den Fokus allein auf die betroffene Person und ihren Gebrauch zu legen. Die mit Sucht verbundene Stigmatisierung wird nicht nur passiv aufgenommen, sondern auch aktiv verübt.

Ein besonders haarsträubender Skandal ist das fortlaufende Unterlassen evidenzbasierter Prävention (Opens in a new window) in den Schulen. Statt das Schicksal einzelner Heranwachsender mit ihrer Abhängigkeit in einer Reportage zu beobachten würde ich viel lieber sehen, wie verantwortliche Schulleiter*innen die Chance erhalten, sich Journalist*innen zu erklären.

Auch fände ich es im Sinne der journalistischen Aufklärung gut, den Scheinwerfer auf die Vorurteile und Diskriminierung zu werfen, die drogenkonsumierenden Menschen in Behörden, Medien und Politik begegnen.

Ein verantwortungsvoller medialer Fokus sollte also auf die breiteren gesellschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen gerichtet sein, die das Leben von Menschen mit einer Abhängigkeit von (illegalisierten) psychoaktiven Substanzen maßgeblich beeinflussen. So könnte man Verständnis über die vielschichtigen Herausforderungen schaffen und Betroffenen einen Dienst erweisen, ganz ohne ein Risiko, sie öffentlich und für immer bloßzustellen.

Warum verwende ich trotz der negativen Assoziationen den Begriff "Sucht"?

Der Begriff ist mit vielen Vorurteilen behaftet, aber anstatt schlichtweg nur alternative Begriffe zu verwenden, sehe ich bei diesem Begriff eine Chance darin, sich mit den dahinter liegenden Bedeutungen aktiv auseinanderzusetzen. Unter “Sucht” werden, auch im Hilfesystem, so viele unterschiedliche Dinge verstanden, die man, zusammen mit den Vourteilen, vor dem Hintergrund der lange tabuisierten Debatte ans Licht holen kann.

Was ich vermeide sind Bezeichnungen wie “Süchtiger” bzw. “die Süchtigen” genauso wie “die Abhängigen”, denn Menschen sind grundsätzlich mehr als ihre Sucht/Abhängigkeit/Konsumstörung. Darauf sollte auch sprachlich niemand reduziert werden.

Mehr Erklärungen und Beispiele findet ihr hier im Sprachleitfaden, den ich zusammen mit Kooperationspartnern herausgegeben habe: "Drogen Sprache" (Opens in a new window)

Ich freue mich darauf, eure Meinungen zu hören!

Beste Grüße
Eure Philine

Über mich & Anstehende Termine

Seit 2015 setze ich mich für einen Paradigmenwechsel in der deutschen Drogenpolitik ein. 2017 habe ich die My Brain My Choice Initiative als ehrenamtliche Plattform und Thinktank mitbegründet und vertrete unsere Konzepte und Kampagnen gegenüber Medien und Politik. Als Schildower Kreis-Mitglied stehe ich auch nach meinem Studium der Regionalwissenschaften (M.A.) im Austausch mit Expert*innen aus der Wissenschaft.

Die My Brain My Choice Initiative

My Brain My Choice (MBMC) ist eine zivilgesellschaftliche Initiative, die sich der Vertretung der Interessen von Menschen widmet, die Drogen gebrauchen. Wir setzen uns dafür ein, dass deren Perspektiven gehört und respektiert werden. Mit unseren Projekten und Kampagnen arbeiten wir seit 2017 daran, die Stigmatisierung und Diskriminierung von illegalem Drogengebrauch zu verringern und eine aufgeklärte, menschliche Drogenpolitik zu fördern, welche die gescheiterte Drogenprohibition überwindet.

Das Drogenpolitik Briefing

Danke fürs Lesen des Briefings! Die gesellschaftpolitische Aufklärung ist mir ein wichtiges Anliegen, weil wir nur so bessere Entscheidungen über dieses stark stigmatisierte Thema treffen können.

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Topic Medienkritik

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