Kneecap (Rich Peppiatt)
“Every fucking story about Belfast starts like this”, hören wir aus dem Off, bevor Amateuraufnahmen von Autobomben die Leinwand förmlich zerreißen. “But not this one and don't be acting the fuckin' balloon, that's not the start. This is the start.” Wir bezeugen die geheime Taufe, nachts im Wald, von Baby Naoise, die unverhofft von einem Polizeihubschrauber unterbrochen wird. Der Vater und Täufer des Kleinkinds reckt den Mittelfinger direkt in den Suchscheinwerfer der Ordnungshüter. Unweigerlich stellen wir uns die Frage, welchem Anfang wir hier beiwohnten.
Ist dies der Start einer neuen Generation von Iren, die sich ihrer Identität beraubt fühlen? Der erste Schritt, der zu der Schlussszene des Films hinführt, wo wir lernen, dass die irische Sprache offiziell als Nationalsprache anerkannt wird? Oder handelt es sich lediglich um die individuelle Sozialisierung der Hip-Hop Gruppe Kneecap, um deren Geschichte sich das Semi-Biopic dreht?
Welche Antwort man auch immer aus dem Film ziehen will, sehen wir in jedem Fall die Geschichte einer Generation, die noch immer allen Grund zur Rebellion hat, allerdings keine Orientierung, wie sich diese Rebellion konkret ausleben lassen soll.
Sozialer Ungehorsam
Der Film beginnt mit Naoises Taufe. Der Zeitpunkt muss so ungefähr um den ersten Waffenstillstand 1994 liegen. Der Mittelfinger empor gereckt, mitten im Suchscheinwerfer des Staates - der Invasoren, aus der Sicht der irischen Widerstandskämpfer. Arlo, Naoises Vater und organisiert in der IRA, täuscht kurz darauf seinen Tod vor, um der Polizei zu entkommen. Ein Umstand, der Mutter und Sohn ohne Führungsperson zurücklässt. Auf die soziopolitische Lage in Nordirland übertragen sind ohne den offenen Konflikt und eine starke politische Agenda, hinter der man sich versammeln kann, die irisch-katholischen Aktivisten in eine tiefe Orientierungslosigkeit gestürzt worden.
Das Resultat lässt nicht lange auf sich warten: Die Mutter stürzt in eine tiefe Agoraphobie und traut sich nicht mehr aus dem Haus, der Sohn in Antriebslosigkeit. Zudem geht die größte Gefahr für die beiden Jungs von RRAD aus, einer Splittergruppe, die sich ehemals der gleichen Sache verschrieben hat. Inmitten dieser Desorientierung sehen wir J.J. Ó Dochartaigh, a.k.a. DJ Próvaí, ein Sprachlehrer für Irisch-Gälisch an einer Integrationsschule, der von der Staatsgewalt als Dolmetscher ausgeliehen wird. Auch in seiner Person haben wir zwei Agendas: die, des Sprachlehrers, der mit den Briten kooperiert und auf das System als Integrationsmechanismus setzt, und die, des maskierten Radikalen, der seinen blanken Hintern zeigt, auf dem “Briten, raus” steht. Es ist klar, dass die beiden Rapper, Naoise und Liam, nicht Teil von beiden Welten sein können. Sie werden gescholten, wenn sie vor dem Schultor auf J.J. warten und können nur bei Nacht in die Schule einbrechen.
Sich gegenseitig zerfleischen oder als braver Systemling auf die Staatsgunst zu hoffen, bringt nichts. Zu einfach kann sonst die Polizei das Studio der Band in Brand setzen und die Schuld auf RRAD schieben. Bis heute haben Linke ein großes Problem mit inneren Kämpfen. Vor allem die Situation in Nahost hat hier wieder alte Wunden aufgerissen, so diskreditiert man sich gegenseitig, ob jetzt Palästina befreit werden soll, oder die Juden geschützt werden müssen. Auch bei identitäts-politischen Fragen ist man allzu schnell dabei, anderen das Linkssein abzusprechen, sobald sich hier Differenzen auftun. Rechte hatten bisweilen selten das Problem, ob die Ausländer jetzt alle abgeschoben werden sollen, oder man sich bemühen muss, Fachkräfte aus dem Ausland anzuwerben, ist, wenn man einmal zusammen marschiert, auch eher Nebensache. Tarek rappt auf Sehr Sensibel: Linke diskutier'n auf Twitter: Wer darf links sein, wer darf's nicht? Und die Rechten, sie trainieren auf dem Schießstand für Tag X.
Kunstfreiheit
Mit dem Aufkommen der digitalen Plattformen wie Youtube oder Spotify wurde vielfach der Abbau der Gatekeeper proklamiert. Nun könne jeder, der ein Mikrofon zu Hause habe, einfach seine Kunst selbst aufnehmen und einem quasi unendlich großen Publikum präsentieren, ohne auf die Vertriebswege der Plattenfirmen angewiesen zu sein. Es ist sicherlich richtig, dass die Relevanz der Plattenfirmen zurückgegangen ist, allerdings sind an deren Stelle die Algorithmen der sozialen Medien getreten. Die Theorie des unendlichen Publikums stimmt nur so halb, wenn die eigenen Videos und Songs vom Algorithmus derart runter gerankt werden, dass schlicht niemand etwas von der Musik mitbekommt.
Ein zweiter Gatekeeper tritt in Kneecap aufs Parkett: der Staat. DJ Próvaí fürchtet um seine Anstellung als Lehrer und muss entsprechend maskiert auftreten. Zudem wird der Band der Platz im Radio mit Verweis auf den öffentlichen Frieden verwehrt. Ähnliches konnten wir auch über den Skandal des Dokumentarfilms No Other Land beobachten. Diskreditiert als antisemtisch wurde dem Film faktisch die Möglichkeit geraubt, auf Filmfestivals stattzufinden. Auch liest man immer häufiger, dass Talkformate und Foren die öffentliche Finanzierung entzogen wird, wenn diese besonders links-gerichtete Personen einladen, während weiterhin Alice Weidel und Carsten Linnemann in den Primetime-Formaten des öffentlich Rechtlichen hofiert werden. So findet zwar keine Zensur im eigentlichen Sinne statt, aber durch den Entzug der Zuschüsse und Finanzierung werden sich besonders kleinere Formate zweimal überlegen, ob sie sich diesem Risiko aussetzen wollen oder ob kritische Stimmen dann lieber doch nicht eingeladen werden.
Die Relevanz der Kunst allerdings wird in Kneecap besonders unterstrichen. Naoises Vater und IRA-Kämpfer Arlo wirft seinem Sohn immer wieder vor, nichts mit seinem Leben anzufangen und nichts für die irische Kultur zu tun. Jedoch ist es die Macht der Musik, die die Menschen in dem Film bewegt und schließlich zum politischen Einlenken führt, wo die gewaltsamen Terrorakte der IRA versagt haben.
Fazit
Die Biographie von Kneecap muss allegorisch auf die generelle Situation im Westen gelesen werden. Wenn wir verstehen, wie die herrschende Mehrheitsgesellschaft systematisch versucht, Kritik und Minderheiten klein zu halten, sehen wir hoffentlich auch, wie wichtig es ist, gemeinsam für das Gemeinsame zu kämpfen. Ein Kampf, der von jedem auf seine Art geführt werden kann, ob es die rüpelhafte Musik auf der Bühne ist oder mit der lokalen Community im freundschaftlichen Gespräch, jede Stimme zählt.