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Das Dekadenz-Narrativ

Hallo,

ich weiß nicht, ob du es mitbekommen hast:

Am 28. Januar 2025 empfing ein CDU-Politiker im Bundestag eine Delegation der Heritage Foundation. Genau, die Heritage Foundation, die das Project 2025 (Opens in a new window) ersonnen hat, das jetzt (zumindest in Teilen) Vorbild für den autoritären Umbau der USA unter Donald Trump ist. Ziele sind beispielsweise unabhängige Institutionen wie Justiz und Verwaltung stark zu schwächen - und genau das macht die Trump-Regierung in rasender Geschwindigkeit und mit großer Effektivität. Wer sich dafür interessiert, findet beim Project 2025 Tracker (Opens in a new window) genaue Infos, was schon alles umgesetzt wurde und was derzeit geschieht (wir hatten schon einmal darauf verwiesen).

Über das Treffen zwischen einem CDUler und der Heritage Foundation hat Correctiv berichtet. In dem Beitrag kommt auch E.J. Fagan, Politologe an der University of Illinois, zu Wort. Er sagt über die Heritage Foundation: “Sie haben ihre Aktivitäten verstärkt und wollen ihre Ideologie exportieren. Das sind wahre Gläubige, und sie wollen, dass die ganze Welt ihre Version des ultra-rechten Konservativismus übernimmt.“

Die CDU schweigt dazu, wieso sich ein Politiker mit der Heritage Foundation getroffen hat. Auch erklärt sie auf Nachfrage von Correctiv nicht, ob das Treffen mit der Parteispitze abgeklärt war.

In diesem Licht betrachtet sieht die vielfach kritisierte Kleine Anfrage (Opens in a new window) der Union gleich noch düsterer aus. Darin hatte sie im Januar 551 Fragen an die Regierung und einige zivilstaatliche Organisation gestellt, und wollte wissen: Gibt es staatliche Förderungen für diese Organisationen, die nach der parlamentarischen Zusammenarbeit von Union und AfD gegen rechts - und viele explizit eben gegen die Christsozialen - demonstriert haben? Und wenn ja, sei das dann erlaubt, da man sich dann ja “politisch neutral” verhalten müsse?

Das Ziel der Anfrage: Finanzierungen dieser Organisationen infrage stellen und - vermutlich auch - Druck ausüben.

Dass dahinter ein mindestens wackeliges Demokratieverständnis steht, hat zwischenzeitlich auch die Bundesregierung in ihrer Antwort klargemacht: Der demokratische Verfassungsstaat” lebt von zivilgesellschaftlichem Engagement für ein friedliches und respektvolles Zusammenleben und den Einsatz gegen menschen- und demokratiefeindliche Phänomene”.

In diesem Sinne, bleib achtsam und alles Liebe!

Um was geht’s?

Ja, haben wir keine anderen Probleme in Deutschland, liebe Freundinnen und Freunde, als so einen ideologischen Unsinn zu verbreiten?”,

das fragte CSU-Chef Markus Söder Anfang des Jahres auf dem Wahlparteitag der Union (Opens in a new window). Der ideologische Unsinn, um den es geht: das Selbstbestimmungsesetz (SBGG).

“Haben wir denn keine anderen Probleme?” - eine Aussage, die man nicht nur aus der Politik hört, sondern auch in den Kommentarspalten liest. Nicht nur zum Selbstbestimmungesetz, sondern zu vielen ähnlichen Themen.

Vordergründig soll die Aussage Themen ins Lächerliche ziehen, die man für unwichtig hält. Aber es schwingt mehr mit. Sie kann auch als Vorwurf verstanden werden, dass die Regierung und Teile Deutschlands so übersatt sind, so vollgefressen in ihrem Wohlstand, dass sie nichts anderes tun, als sich mit vermeintlich unwichtigen Themen zu beschäftigen. Themen, die nicht nur keine Priorität haben sollten für die Regierung, sondern noch schlimmer: die der Regierung die Zeit rauben, sich mit angeblich viel wichtigeren Dingen zu beschäftigen.

Im Gegensatz dazu steht der/die Verfasser:in solcher rhetorische Fragen. Er oder sie sieht nämlich die wahren Probleme Deutschlands, erkennt die großen und wichtigen Fragen und will sich diesen annehmen - und wäre so natürlich Teil einer vermeintlich besseren Regierung.

Ein anderes Wort für dieses übersatte vollgefressene Regieren, ist das Wort: “Dekadenz”. Ein Wort, das vor allem die AfD gern benutzt. Im November schrieb die AfD auf X: (Opens in a new window)

“In Deutschland darfst Du das Geschlecht frei wählen - aber nicht Deine Heizung! Es gibt kaum ein schlimmeres Symbol für die Dekadenz unserer vermeintlichen politischen ‘Eliten’.”

Hier macht die in Teilen gesichert rechtsextreme AfD ebenfalls Stimmung gegen das Selbstbestimmungsgesetz. Seit dem Inkrafttreten des SBGG am 1. November 2024 sei “eine neue Ära der mittelalterlichen Wissenschaftsverachtung eingeleitet” worden. Denn: Es würden “biologische Fakten” ignoriert: “Es gibt nur zwei Geschlechter.”

Dass die AfD hier das SBGG einem angeblich herrschenden Heizungszwang gegenüberstellt - man dürfe in Deutschland sein Geschlecht beliebig wechseln, seine Heizung aber nicht - ist auf den ersten Blick ein lächerlicher Vergleich.

Er zeigt aber einmal mehr, wie in der neurechten Weltdeutung alles mit allem verknüpft wird. Geschlecht, Geschlechtsidentität, Elitenkritik und Energiepolitik - das geht hier problemlos Hand in Hand. Das Ziel dieser Vermengung: Wer sich über eines der Themen empört, findet sich nicht nur in neurechter Gesellschaft wieder, sondern bekommt auch gleich weitere kritische Themen aufgezeigt, die angeblich damit zusammenhängen.

Was genau bedeutet Dekadenz überhaupt?

Im AfD-Post wird von einer verkommenen Welt erzählt: Korrupte Polit-Eliten deindustrialisieren Deutschland mit Wärmepumpen und wollen Kinder in den Schulen frühsexualisieren.

Teil dieser Erzählungen ist oft die “Dekadenz”.

Während der Volksmund einen Lebensstil abwertend als “dekadent” betitelt, der subjektiv als unnötig, unanständig oder unmoralisch wahrgenommen wird, bezeichnet die Neue Rechte all jenes als dekadent, was eine plurale Gesellschaft ausmacht.

Das fängt nicht erst beim Selbstbestimmungsgestz an, sondern setzt bereits Emanzipationsbemühungen von Frauen gleich mit Niedergang. Emanzipation ist für die Neue Rechte ein Symbol einer dekadenten Gesellschaft, die auf dem besten Weg ist, sich abzuschaffen.

Der Begriff Dekadenz hat eine lange Vergangenheit. Ein interessanter Wegbereiter des Wortes, wie es heute von der Neuen Rechten verwendet wird, ist der neurechte Philosph Renaud Camus. Er hat nicht nur die rassistische und antisemitische Verschwörungserzählung des Großen Austauschs bekannt gemacht (hier geht es zu unserer Newsletter-Ausgabe dazu (Opens in a new window)), sondern auch die Idee eines “Kleinen Austauschs (Opens in a new window)”.

Unter dem “Kleinen Austausch” versteht Camus den “vermeintlichen Niedergang der einheimischen Kultur (‘Zivilisationsverfall’) durch die Massen- und Konsumgesellschaft. Der “Kleine Austausch” bedrohe traditionelle Eliten und ihre Werte.

Camus knüpft damit laut dem Handbuch “Begriffe und Sprache der Neuen Rechten (Opens in a new window)” an eine uralte rechte Erzählung an, die Liberalismus und Demokratie als Dekadenz- und Verfallserscheinungen einer traditionellen Gesellschaftsordnung deutet.

In Camus eigenen elaborierten Worten klingt das dann so: “Als Phänomen aber ist der Kleine Austausch die Auswechslung der tonangebenden Kulturklasse, die Substitution der Kultur durch die Kulturindustrie oder, um es brutal auszudrücken, der Zusammenbruch der Kultur, die Verdummung der Massen, das Unterrichtsprogramm des Vergessen, die Thronerhebung des Stumpfsinns.”

Camus bezieht sich hier auch auf Oswald Spengler. Laut der Gegneranalyse des “Zentrum Liberale Moderne” gilt der 1880 geborene Spengler als “Unter­gangs­den­ker und Kul­tur­pes­si­mist” und als “einer der anti-demo­kra­ti­schen und anti-libe­ra­len Vor­den­ker eines moder­nen auto­ri­tä­ren Zeit­al­ters in der ersten Hälfte des 20. Jahr­hun­derts”.

Zentral in seinem Denken war, dass Spengler Kulturen als Organismen begriff, die “Wachs­tum, Auf­stieg, Abstieg, Ver­wel­kung, Erstar­ren und Unter­gang” unterlagen - diese Entwicklung war für ihn unausweichlich.

Spenglers Hauptwerk heißt “Der Untergang des Abendlandes”. Den Untergang verkörperte für Spengler die “Zivilisation“. Sie ist der Gegensatz zur ursprünglichen und reinen Kultur, oder besser: die “letzte Phase einer Kultur, in der sie erstarrt und schließ­lich abstirbt”.

Zivilisation beschreibt Spengler als “müde, verdrossen und kalt”, sie ist frei von Moral und Religion und wird durch die Dominanz der “anor­ga­ni­schen Groß- und Welt­stadt” mit ihren “atomisierten Individuen” gekennzeichnet.

Spengler verachtete laut Gegneranalyse “die Idee eines demo­kra­ti­schen Ver­fas­sungs­staa­tes und plu­ra­lis­ti­scher, libe­ra­ler Demo­kra­tie ins­ge­samt”, er verachtete Ideen von “Kompromiss, Ausgleich und Verständigung” - stattdessen wollte er einen “autoritären Obrigkeitsstaat” aus einer “homogenen, hermetisch essentialistisch voneinander abgegrenzten und sich fremder nationaler Kulturseelen”.

Welche Feindbilder strickt die Neue Rechte mithilfe der Dekadenz?

Aus dieser Spenglerschen Ideologie leitet die Neue Rechte heute Feindbilder ab und nimmt dafür das Narrativ der Dekadenz zu Hilfe.

Noch einmal: Zentral ist die Überzeugung, dass jede Kultur Schritte und Entwicklungsstadien durchläuft. Jede Kultur verfolgt dabei laut der Rechtsextremismus-Expertin Natascha Strobl ein Ziel: “Größe erringen oder zur vollen Blüte zu gelangen (Opens in a new window)”.

Das aber gelingt natürlich nur starken Völkern.

Starken Völkern, die keine “schwachen Elemente” haben. Strobl schreibt:

“Ihr seht, wo das hinführt und wer als ‘Schwächung’ identifiziert wurde? Juden, Emanzipationsbewegungen oder eben Migrant:innen, Feminist:innen, schwule Männer, lesbische Frauen, Transpersonen.”

Sie alle werden zu Symbolen für den Niedergang einer Kultur. Sie alle werden zu Symbolen der Dekadenz. Symbole für etwas, das man sich nicht leisten kann.

“Gerne wird dafür eine […] städtische Elite verantwortlich gemacht, die zu echter körperlicher Arbeit gar nicht mehr fähig ist, ungläubig und hedonistisch. Gerne kontrastiert mit ‘echten’ Leuten vom Land.”, sagt Strobl.

So wird das vorgeblich “Schwache” zum Feindbild und für den kulturellen Verfall verantwortlich gemacht.

Und genau das sagen hochrangige Neurechte immer wieder.

In der rechtsextremen Freiheitlichen Partei Österreichs (Opens in a new window) (FPÖ) sind beispielsweise Pride-Paraden ein “Zeichen der Dekadenz”. Die FPÖ wirbt für ein sofortiges Ende des “Regenbogenkults”. Ein Politiker der Partei hat kürzlich eine Regenbogenflagge in den Müll geworfen. Nach ungarischem Vorbild soll es ein “Trans-Verbot” geben und der beinahe-Kanzler Herbert Kickl hat sich gegen die Ehe für alle positioniert.

Auch die AfD dämonisiert immer wieder queere Bewegungen. Maximilian Krah twitterte einmal (Opens in a new window):

“Die Regenbogenfahne ist das wahre Zeichen dessen, was wir heute als ‘westliche Werte’ bezeichnen: Identitätspolitik für winzige sexuell definierte Minderheiten auf Kosten der Mehrheit, Hass auf die eigene Tradition und Kultur, Ablehnung der Familie. In einem Wort: Dekadenz.”

Heftig reagierte die Partei auch auf die Eröffnungsfeier der vergangenen Olympischen Spiele, in der ein Beitrag von Dragqueens und einem trans Model stammte.

Dazu sagte beispielsweise der rechtsextreme Björn Höcke (Opens in a new window), dass die Show Ausdruck dessen gewesen sei, “was nicht nur in diesem Land, sondern in Europa und dem Westen grundsätzlich falsch geht”. Laut Höcke liege das am “Selbsthass Europas und der Deutschen”, an einer “weitverbreiteten Dekadenz des Westens”, dem “Drang, unsere Geschlechtsidentität zu schreddern” und dass man „die europäische Kultur und Identität überwinden möchte“.

Ultramännlichkeit gepaart mit Antifeminismus

Die Dämonisierung queerer Lebensweisen und geschlechtlicher Vielfalt ist nur ein Aspekt des Großangriffs auf Gleichstellungsbemühungen - auch feministische emanzipatorische Entwicklungen stehen für extrem Rechte für Dekadenz.

Feminismus gilt in dieser Weltsicht nicht nur als Fehlentwicklung, sondern als eine der Hauptursachen für den vermeintlichen kulturellen Verfall westlicher Gesellschaften.

Der Sozialwissenschaftler Enrico Glaser erklärt für die Amadeu Antonio Stiftung (Opens in a new window), dass sich die Neue Rechte als “Gegnerin eines vermeintlich omnipotenten Feminismus (begreift), welcher aus ihrer Sicht eine wesentliche Facette der Dekadenz ‘westlicher Gesellschaften’ und der Zerstörung einer naturgegebenen sozialen Ordnung mit heteronormativen Geschlechter- und Familienvorstellungen darstellt”.

Anders ausgedrückt: Hier wird eine Rückbesinnung auf vermeintlich traditionelle Männlichkeit, die verbunden ist mit autoritären Tugenden wie Härte, Disziplin, Opferbereitschaft und Führungsanspruch gefordert.

Eine ideologische Einordnung dieser Fokussierung auf die Heteronormativität bietet der US-amerikanische Philosoph Jason Stanley. Er hat das Buch “Wie Faschismus funktioniert” geschrieben, darin zählt er zehn faschistische Merkmale auf - eines davon heißt “Sexuelle Ängste”.

Dort wird erklärt (Opens in a new window), dass “die patriarchal strukturierte Familie als Keimzelle der faschistischen Gesellschaft begriffen wird” und deshalb “sexuelle Kontakte jenseits der Mehrheitsgesellschaft und außerhalb vermeintlich traditioneller Heteronormativität als eine direkte Bedrohung der biologischen Grundlagen der faschistischen Gesellschaft” gelten.

Und um an dieser Stelle den Bogen zur Dekadenz zu schlagen und ihren Sinnbildern:

Verantwortlich für diese “direkte Bedrohung” seien Stanley zufolge vor allem “kosmoplitische urbane Zentren, die dadurch ihrerseits - in Kontrast zum ‘echten, unverfälschten Leben auf dem Lande’ - als Orte der Dekadenz und Maßlosigkeit markiert werden“.

Rechtfertigung für eigenes Handeln und Mobilisierung der Anhänger:innen

Zuletzt noch, weil es in der extrem rechten Weltdeutung eigentlich nie fehlt, noch ein weiterer Aspekt, der im Dekadenz-Narrativ eingebaut ist: Weil darin ein Untergang erzählt wird, ein Angriff auf die (männliche) Identität, auf das “Wohl” der Kultur und der Gesellschaft, wird ein Bedrohungsszenario entworfen. Das soll Handlungsdruck erzeugen und die Anhänger:innen mobilisieren, ihre Unterstützung festmachen.

Denn während der Untergang zwar bei Oswald Spengler unausweichlich ist, gilt das längst nicht für andere extrem Rechte - viele erzählen die Symptome des Untergangs, die Zeichen der Dekadenz, stattdessen als Auftrag, der ihnen erteilt wird und den sie annehmen, um den Untergang aufzuhalten und die Ordnung wiederherzustellen.

Und um den Untergang, die Apokalypse, aufzuhalten, ist jedes Mittel recht. Natascha Strobl drückt es so aus (Opens in a new window): “Welche demokratischen Aushandelsprozesse sollen in einer Gesellschaft möglich sein, die von der eigenen Apokalypse bedroht ist? Keine. Das ist Krieg, dem wird alles untergeordnet.”

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