Gefühlte Wahrheiten
Gefühlsmanagement lernen ist eine Superpower
Dieser Text erschien das erste Mal im Oktober 2023 im SodaKlub Newsletter (Opens in a new window)
Ich sitze in einem Meeting und rede darüber, wie ich den Alkohol dekonstruiert habe. Wie ich ihn kaputt analysiert habe, bis er keine Macht mehr über mich hatte. Wie ich ihn so gründlich intellektuell seziert hatte, bis er den schlimmsten aller Tode starb: Tod durch Irrelevanz.
Nach dem Meeting kommt ein Freund zu mir und sagt: »Ey, ich wollte dich die ganze Zeit schütteln. Fühl doch mal Sachen. Du kannst nicht immer nur Geist sein, du kannst doch nicht immer nur denken.«
Ich verstehe, wo er herkommt. Er ist ein GenX Mann und gehört zu den Leuten, die sich den Zugang zu ihren Gefühlen erst spät im Leben und nicht aus Spaß, sondern aus Notwendigkeit angeeignet haben, wie eine Fremdsprache im Exil. Ich komme aus der anderen Ecke. Ich musste lernen, dass meine Gefühle nicht meine Identität ausmachen.
Früher war ich ein Bündel unkontrollierbarer Gefühle und fand das nicht nur unproblematisch, sondern sehr schick. Ich war eine Dramaqueen und zeigte das in meinem Tinder-Profil. Weil ich Emotionalität als tiefsinnig und kreativ begriff. Und weil ich Rausch mag. Und was ist besser, als den Rausch im eigenen System kochen zu können?
Als meine Therapeutin mir sagte, dass es nicht so gut ist, wenn Gefühle mein Leben bestimmen, fand ich das naiv und unrealistisch und wenig erstrebenswert. Heute finde ich nichts besser als Gefühlsmanagement. Im Sinne von: Ich bin der Boss und die Gefühle arbeiten für mich. Nicht umgekehrt. Das soll überhaupt nicht heißen, dass ich mich für die eiskalte, technokratische Diktatur des Intellekts einsetze. Ich mag Gefühle, ich mag meine Leute auch immer gerne emotional. Ich heule bei jeder zweiten Deo Werbung und ich habe sehr gerne angenehme Gefühle, auch wenn sie irrational scheinen. Aber ich wahre auch gerne eine freundliche Distanz. Emotionale Nüchternheit nennen manche das.
Als ich das erste Mal in ein Meeting ging, hatte das nichts, aber auch gar nichts mit Gefühlen zu tun. Hätte ich auf mein Herz gehört, wäre ich mit Mat in den Park gegangen, Bier trinken. Aber ich entschied mich gegen mein Gefühl. Beste Entscheidung ever, wie ich heute weiß.
Auch heute noch geben mir meine Gefühle hundertmal am Tag schlechte Ratschläge: Abends um elf zwei Packungen Tofiffee essen, einem Ex schreiben, den ich romantisiere, obwohl er mich mies behandelt hat, mich in einer Kommentarspalte streiten oder dem Lack des SUV, der mich gerade fast umgebraucht hätte, eine lange, teure Narbe mit meinem Haustürschlüssel zu verpassen.
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