»Der Sperber im Roggen«
Du Lukas, ich sage es dir gleich: Meine Idee war das nicht. Drei Jahre lang habe ich um einen Therapeuten gebettelt, und was habe ich bekommen? Den neuen Pfarrer aus der Südstadt. Pfarrer Berger heißt er. Die Predigten von dem sind ganz unterhaltsam, aber psychiatern kann der nicht. Gut, ich kenne mich nicht so aus, aber meiner Meinung nach ist der streckenweise kontraproduktiv. Meint er natürlich nicht so. Und immerhin umsonst, sagt Papa. Und so wie Mama seit Jakobs Tod dagegen gehalten hat, dass auch nur einer von uns dreien eine Therapie macht, muss ich mich schon glücklich schätzen, dass ich überhaupt mit jemandem darüber reden darf. Therapie macht Mama fuchsig. Deshalb sagt Papa nur das T-Wort dazu.
Nächste Woche ist übrigens Stichtag. Nächste Woche ist Bruder Jakob seit drei Jahren tot. Stichtag ist ein bisschen lustig, das musst du schon zugeben. Kann man sogar beugen: Stichtag, Abstichtag, Abgestochentag. Wenn Mama das jetzt lesen würde, hätte ich drei Tage lang ein Klingeln auf dem Ohr, für jedes der drei Jahre einen. Drei Jahre ohne Jakob. Ist gar nicht lange her und irgendwie dann doch, irgendwie schon super lange her. Die Leute haben mittlerweile aufgehört, mich auf der Straße anzuquatschen, wie es mir geht. Lukas, wie geht es dir? Hat plötzlich jeder in der Stadt gewusst, wie wir beide heißen, naja, wie der eine heißt, der übrig ist. Die beste Antwort ist mir erst im letzten Jahr eingefallen: halb so gut. Das passt den Leuten nicht als Antwort. Witzig findet's keiner. Aber nur weil mir der Zwillingsbruder weggestochen wurde, muss ich den Omis aus der Nachbarschaft nicht dauernd ihre Geilheit nach dem Leid anderer Leute bedienen.
Mama wird langsam wieder dickhäutiger. Die hätte bei einem Spruch wie »Halb so gut« nicht mal mehr gezuckt. Ich habe mitgezählt: Zwölfmal ist Mama seit dem Stichtag aus der Haut gefahren, so aus der Haut gefahren, dass sie mich geschlagen hat. Nicht direkt geprügelt. Schön wär's, denke ich. Glaube, das täte ihr ganz gut. Sich einmal richtig auspowern. Aber mehr als eine Schelle gönnt sie sich nicht. Applaus aufs Ohr, sagt Papa. Kennst du vielleicht noch. Ich glaube, das gute Dutzend Backpfeifen wird jetzt kein Trauma hinterlassen haben bei dir und mir, aber du wirst es schon behalten haben, wie Mamas Hand sich anfühlt. Treffsicher mit Zug. Mal gucken, ob noch eine kommt. Vielleicht hast du die Letzte noch im Ohr. Kann ich mir gut vorstellen, dass die letzte Schelle nachhallt. Kommt aber drauf an. Ich habe ja keine Ahnung, wann du das hier liest. Ob überhaupt.
Das war übrigens dem Berger seine Idee. Also nicht die Schelle jetzt, sondern das hier, dieses Journaling. Tagebuch für später, hat der Berger gesagt. Aber bloß kein Tagebuch, hat er betont. Was auch immer das bedeuten soll. Bescheuert. Im Gitter vor der Regenrinne hängt übrigens ein toter Sperber. Ich glaube, genau sowas meint der Berger mit kein Tagebuch, sowas eben nicht. Der Berger war es auch, der mir gesagt hat, das mit den Schellen, das dürfe Mama gar nicht. Pfarrer halt, der hat es nicht mit Züchtigung, allenfalls privat, aber das will ich gar nicht wissen. Ich habe ihm gesagt, dass ich jede einzelne Schelle verdient habe. Na gut, vielleicht nicht jede einzelne, aber zehn von zwölf bestimmt. Auch wenn ich die Hälfte davon gar nicht so gemeint habe. Das habe ich ihm nicht gesagt, das sage ich nur dir. Mir rutschen so Sachen immer raus, vor allem die verbalen. Du kennst das ja. Da ist irgendwas zu kurz bei uns im Kopf, als gäbe es zwei Nervenbahnen, eine für das verbale und eine für das körperliche. Zusammen sind die Bahnen immer gleich lang, bei allen Menschen, nur bei uns nicht. Und weil die eine Bahn zu kurz ist, muss die andere zu lang sein. Die Verbalbahn ist so kurz bei uns geraten, da rutscht schnell mal was raus. Und die Körperbahn, die ist zu lang. An der ist dran, was bei der anderen fehlt. Da rutscht nur wenig, und wenn, dann viel zu spät. Körperlich kommt gar nichts oder hart verzögert. Ich frage mich, ob die Omis aus der Nachbarschaft klammheimlich denken, es wäre der falsche Bruder abgestochen worden, der Langsame. Schnell bin ich wirklich nicht und impulsiv schon gar nicht. Nicht wie der Typ, der Jakob abgestochen hat. Oder wie Mama mit dem Applaus aufs Ohr.
Weißt du was: Nach der dritten oder vierten Schelle, gleich im ersten Jahr, da ist mir aufgefallen, dass es Mama immer besser geht danach. Komisch, oder? Vielleicht auch gar nicht komisch. Vielleicht genau das Gegenteil von komisch. Als hätte sie das mit der Schelle geradezu gebraucht, verstehst du? Durchatmen, ausholen und Zack: Schelle. Mit der flachen Hand aufs Ohr. Powerslap. Kurz im Alltag innehalten und eine durchziehen. Als wäre jede Schelle ein kleines Stück Vergeltung, ein winzig kleines Scheibchen. Weiß nur leider keiner, wie viele Schellen es braucht, für einmal abgestochen. Mama hat früher Tennis gespielt, damals kurz vor der Matura. Ich finde, die Rückhand merkt man noch. So wie es Mama nach jeder Schelle besser geht, muss sie damals nach dem Tennis der entspannteste Mensch der Welt gewesen sein. Kennst du noch das alte Foto in der Diele? Das mit Trägertop und Faltenrock bis Mitte Oberschenkel. Es gab so Tage, da hat es Jakob morgens wegdrehen müssen, weil es ihn mit 14 untenrum so angefasst hat. Boah, das macht nichts Gutes mit mir, hat er immer gesagt. Das war sein Code für untenrum passiert was. Nicht wegen Mama, natürlich nicht, aber dieses Foto, der Faltenrock und der angespannte Oberschenkel, das war halt so die Zeit. Da hat man Jakob nur zwei Quitten zeigen müssen oder den unförmigen Spalt zwischen den Sofakissen oder das Auspuffrohr an Papas alter Schwalbe und Zack: Ständer.
Da muss ich jeden Tag dran denken, wenn ich morgens in der Diele stehe. Wirklich jeden Tag. Das nervt mich richtig. Es gibt Tage, da ist der Gedanke in der Diele der einzige Gedanke, den ich überhaupt an Jakob habe. Wie er vom Tennisbild von Mama untenrum halb hart geworden ist. Ein richtig praller Ständer war das nicht, hat er gesagt. Das glaube ich ihm auch. Aber halb war schon. Und wenn ich heimkomme, muss ich wieder durch die Diele – und wieder das Bild und wieder der Gedanke. Es gibt Tage, da sind das die einzigen beiden Gedanken, die ich an Jakob habe, und du kannst dir nicht vorstellen, wie mich das nervt manchmal. Keine guten Gedanken, keine schlechten Gedanken, nur so Quarkgedanken. Dabei sind das nicht mal zwei Gedanken, ist ja eigentlich nur einer, ein Quarkgedanke. Wegstellen kann ich das Tennisbild auch nicht. Das merkt Mama ja gleich. Das kriegt Mama auf alle Fälle in den falschen Hals. Da wird sie wieder fuchsig, aber sowas von. Und im schlimmsten Fall, muss ich es ihr erklären, und erkläre das mal. Welche Mutter will das hören, drei Jahre nach dem Tod vom Erstgeborenen, acht Minuten vor mir, dass dein Sohn, der Abgestochene, beim Anblick deines Tennisbilds immer mal wieder einen Halbsteifen bekommen hat, manchmal jeden Tag, vielleicht sogar an seinem letzten. Erklär das mal. Deshalb gibt es Tage, da gehe ich durch den Garten. Das erzähle ich dem Pfarrer Berger lieber nicht. Dem Berger nichts mit Ständern oder Halbsteifen. Du weißt, warum. Dem Berger steht der Saft bis unters Kinn. Boah, würde Jakob sagen, das macht nichts Gutes mit dem.
Herzlich willkommen zur zwölften Ausgabe von »Feine Auslese«.
#1 / Ich glaube ja noch immer …
»… , dass man sich jeden Tag ein kleines bisschen Wut gönnen sollte. Schaut man sich Wut aus der sportmedizinischen Perspektive an, ist das auch nichts anderes als Cardiotraining. Warum machen denn die Quadratköpfe im Freihantelbereich immer so Anger-Fuck-Geräusche? Weil man keinen von diesen Steroid-Stefans je auf einem Stepper gesehen hat. Klar kommt da beim Bankdrücken ganz kurz der ejakulierende Gorilla um die Ecke. Und trotzdem: Ein bisschen Wut ist super, meine Meinung. Große Themen würde ich eher meiden. Klar, was könnte ich mich aufregen über Lindner, Gottschalk und den Vorstand von VW, aber tagesfüllend brauche ich das gar nicht. Mir reichen fünf Minuten. Wüten ohne Reue. Für den Jieper zwischendurch. Parcours-Sportler zum Beispiel. Brauche ich gar nicht gendern. Wenn so ein Hannes aus Köln-Ehrenfeld das kantige Betonparkhaus über den erstbesten Laternenpfahl verlassen muss und sich beide Beine in Muss & Keksbruch verwandelt. Lass so Leute mal aus der Krankenversicherung nehmen. Versteh ich nicht, warum da nicht einmal im Jahr ein Auflagenkatalog per Mail rausgeht: Ach, Sie wollen den Nanga Parbat in Birkenstock besteigen? Übernehmen wir gerne, aber erst ab 40.000 Euro Selbstbeteiligung. Müssen Sie selber wissen. Hier unser Bürgschaftsvordruck für Achim und Renate. Liebe Grüße an die Eltern, ihre TKK Rhein-West. Spürt ihr, wie es prickelt? Dieser süße Zorn!«
#2 / Toujours la tristesse
Warum ich Berlin liebe:
»Die Backstation in Schöneberg. Backzubehör Berlin. Mürbe am Apparat.«
»Mürbe?«
»Ja, Mürbe.«
»Guten Tag, Bokowski.«
»Tach!«
»Komische Frage, aber haben Sie zufällig eine Alpaka-Form?«
»Kuchen oder Plätzchen?«
»Plätzchen.«
»Alpaka oder Lama?«
»Wo ist denn da der Unterschied?«
»Na rufen Sie mal lieber wieder an, wenn Sie wissen, was Sie wollen.«
[Mürbe legt auf.]
#3 / Feine Ablese
Angelesen: Ich an meiner Seite (Opens in a new window) von Birgit Birnbacher
Im nächsten Leben werde ich Österreicher. Wie selbstverständlich man bei unseren Nachbarn kauzige Charaktere bauen kann, das macht mich ernsthaft neidisch. In Kürze: Junger Mann war im Knast, kommt frei, krankt am Label Ex-Knacki und stückelt sich mithilfe eines Therapeuten und einer Ersatzmutter eine Art Überidentität zusammen. Autorin ist Soziologin und Bachmann-Preisträgerin. Merkt man beides deutlich. Was dem Buch dankenswerterweise an Pathos fehlt, das machen die gut gebauten Rückblenden wieder wett. Wer Außenseiterliteratur mag, ist gut bedient. Hat mich mühelos gekriegt. Tolles Buch bisher.
Ausgelesen: Liebe in Zeiten des Hasses (Opens in a new window) von Florian Illies
OK, Hand aufs Herz: Deep down inside bin ich ein bisschen so ein Gossip Girl. Nur halt leider für Leute, die seit 80 Jahren tot sind. Wenn man mir eine Freude machen will, erzählt man mir eine nasty Episode über Bertolt Brecht (the original HuSo) oder an welcher Geschlechtskrankheit Erika Mann gestorben ist. Spoiler: Keiner, aber Fentanyl hätte sie geliebt. Das klingt krass intellektuell, ist aber nur Sommerhaus der Stars in Sepia. Liebe in Zeiten des Hasses ist das Standardwerk für den großen Kulturgossip zwischen den Weltkriegen und ein Muss für überambitionierte Arbeiterkinder wie mich. Und über allem die Angst und Sorge, dass dieses europäische Ausbluten, diese Geistesflucht vor dem Faschismus, dieses Jahrzehnt des Exils und der Vernichtung sich früher oder später wiederholen könnte.
Abgelesen: Sand (Opens in a new window) von Wolfgang Herrndorf
Seit der sehr guten Biografie von Tobias Rüther denke ich hin und wieder darüber nach, ob ich mir nach »Tschick«, »Arbeit und Struktur« und »In Plüschgewittern« noch ein viertes Buch von Wolfgang Herrndorf gönnen soll. Dahinter steckt der Gedanke des leider absehbar endlichen Gesamtwerks – ich will mir gerne aufsparen, was noch übrig ist – und die nicht ganz von der Hand zu weisende Sorge, dass das Plüschgewitter und die Biografie meine Begeisterung für »Tschick« rückblickend geschmälert haben. Tobias Rüther zeichnet Herrndorf nicht nur als talentiertes Wunderkind, sondern vor allem als klugen Analysten & gründlichen Reproduzierenden, sowie nicht zuletzt als eine Art trollenden Theoretiker. Die ersten 30 Seiten »Sand« geben diesem Fazit Feuer. Ich sehe den kichernden Herrndorf vor mir, der mich mit einem durchkonstruierten Metakrimi ein bisschen hopsnehmen möchte. Ich spare es mir auf für ein anderes Mal.
#4 / Das Letzte von der Rolle
Wer dieser Welt Besuch beschert,
Hält damit selten hinterm Berg.
Ich gönne jedem seine Reise,
Und bleibe so auf diese Weise,
Der eig’nen Wahrheit mehr als treu:
Dass ich mich über’s Rasten freu’.
Ich hab’ nicht minder gut gelebt,
Weil mir der Arsch am Sofa klebt.
Macht ihr mal eure Kilometer.
Ich pimmel rum und seh euch später.
#5 / Feiaahmnt.
Wer hätte gedacht, dass Newsletterschreiben so viel Laune macht. Hoffe, dass sich die leidenschaftlichen Stunden an der einen oder anderen Stelle transportiert haben. Wenn ihr die Arbeit an diesem Newsletter finanziell supporten wollt, sehr gerne! Dann kaufe ich mir Lesestoff oder dieses Kokoswasser für 5 Euro, das so viele meiner veganen Freunde in den Ruin getrieben hat. In diesem Sinne: Prosit.
#6 / Nachklang
🔊 Sinéad O’Connor mit »All Apologies« 🔊
https://open.spotify.com/intl-de/track/5nJ96pOx3kXvmISLO7xKIb?si=0d3a3e36911747ca (Opens in a new window)