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Für den Ukrainischen Sieg

Danke

An welchem Punkt soll man anfangen? Es gibt momentan keinen Schwung hinter dem Gedanken an einen ukrainischen Sieg, aber irgendwo muss dieser Gedanke wieder Schwung bekommen. Wieso muss? Es gibt verschiedene Szenarien, wie der Ukraine-Krieg enden könnte, Sieg der Verteidiger oder Unterwerfung (und mehr Krieg) als die zwei Optionen, die die Art des Krieges zulässt. Aber wem das erklären? Nur wenn ich depressiv bin, ist mir „egal“, wie der Ausgang des Krieges ist, bevor ich an die ukrainische Bevölkerung – die Gefolterten, die Ermordeten, die Bedrohten –, die Tiere, die Soldaten und Soldatinnen, und andere Betroffene denke.

Morgens erstmal alle schlimmen Nachrichten konsumieren, die die Welt zu bieten hat. In einem Beitrag auf Social Media Inc. erwähnte jemand dieses Morgenritual. Warum tut man das? (Ich tue es auch.) Für die Uni habe ich vor kurzem einen Aufsatz über „Klima und Melancholie“ geschrieben, wo ich argumentiere, dass der Hang zur Melancholie aus einer Bindung zur Welt hervorgeht. In dem Sinne bin ich mir gar nicht sicher, ob es mir tatsächlich besser gehen würde, wenn ich auf dieses Morgenritual verzichten würde. Ich will wissen, was in der Welt vorgeht, und manchmal fühlt es sich dann ‚gut‘ oder richtig an, wenn ich im Bilde über das Weltgeschehen oder zumindest das, was ich davon im Blick habe, bin, selbst wenn es (sehr) düster aussieht. (Andere Male zieht es mich hinab in eine Tiefe, wo ich wie gelähmt bin, weil ich keine Ahnung habe, was getan werden könnte – da muss ich aufpassen oder ggf. mich danach wieder hochziehen.) Ich interessiere mich aber auch für die Gedanken, die man sich nicht extra morgens ins Bewusstsein holen muss, sondern die über die Nacht bei einem bleiben. Das hört sich vielleicht etwas kryptisch an. Ich meine zum Beispiel die Nachricht über eine schwere Krankheit oder (im Kontext von Krieg) einen Verlust, die sich, nachdem man von ihr erfährt, so sehr ins Bewusstsein eingräbt, dass man auch beim Schlafen gefühlt nicht darum vergisst oder am Morgen durch den ersten Gedanken daran erinnert wird. Ich will nicht sagen, dass ich immer in dieser Intensität an den Ukraine-Krieg denke, aber worauf ich hinauswill, ist, dass die Realität dieses Krieges auch die Leben derer, die nicht direkt betroffen sind, geprägt hat, für Kummer bei ihnen gesorgt hat, Energien gezehrt hat, ohne die Zentralität der Schicksäle derer, die direkt vom russischen Angriffskrieg, Völkermord und Terror betroffen sind, aus dem Blick zu verlieren.

Einen Gedanken in ein Danke umwandeln. Als ich vor einiger Zeit eine erste Fassung dieses Textes schrieb, erzählte ich von meinen Gefühlen beim Mitverfolgen des Kriegsgeschehens in der Ukraine, von meiner anfänglichen Euphorie bei der Befreiung besetzter Gebiete durch das ukrainische Militär und der anschließenden Ernüchterung, als klar wurde, dass Deutschland nicht an einem ukrainischen Sieg über russischen Imperialismus interessiert ist. Ich listete dann einige der Verfehlungen von westlichen Staaten bei der Unterstützung des Verteidigungskampfs der Ukraine und deren Folgen auf und sagte, dass ich „nach einem positiven Affekt“ suchte, um meine Beschäftigung mit der Ukraine zu „unterstützen“. Schon damals – eigentlich schon lange davor – war mir bewusst, dass die Dankbarkeit, die ich verspürte und die ich in den Mittelpunkt stellen wollte, eingeschränkt sein musste, weil nicht alle ukrainische Soldaten und Soldatinnen freiwillig für meine Freiheit kämpfen. Der Aktivist Tadzio Müller formulierte den Sachverhalt, wie folgt: „[W]ir lassen die Menschen in der Ukraine ‚für uns‘ kämpfen, wie wir Menschen im Kongo ‚für uns‘ Coltan buddeln lassen. Daraus folgt: Verdrängung.“ Er hat Recht. Die Verdrängung von Schuld erlaubt Personen, in ethischen Beziehungen mit anderen zu leben, die sie niemals sonst dulden würden. Schuld bedeutet in dem Kontext nichts Schlechtes, sofern sie wahrgenommen wird. Manchmal scheint mir, dass die Gewöhnung an das Verdrängen von Schuld das größte Risiko für die deutsche Gesellschaft sein könnte. Als ich einen Artikel mit einer Überschrift wie „Die Top-10-Sorgen der Deutschen“ oder so und generell viele Umfragen über die Ängste der Deutschen gesehen hatte, fragte ich mich, ob die deutsche Gesellschaft erwachsen genug ist, um mit ihren Sorgen und Ängsten umzugehen. Ich verknüpfe die Frage mit der Erinnerung an eine Plattitüde, die vor einiger Zeit kursierte und die ich mit den Merkel-Jahren assoziiere. Die Regierung müsse die Sorgen der Bürger ernst nehmen, die Sorgen der Bürger müssen Gehör finden, die Politik müsse sich um die Sorgen der Bürger kümmern. Die Plattitüde wurde vor allem von politischen Vertretern und Vertreterinnen benutzt. Dabei fand ich merkwürdig, wie die Trennung von Regierung und Bevölkerung gefestigt wurde. Die Bürger*innen sind immer im Recht, Bürger*innen haben keine Verpflichtungen, der Bürger ist König. Die Regierung hingegen kann nur falsch liegen, kann nur die Leben der Bürger*innen immerzu grundlos vermiesen und muss dann vom Wahlvolk sadistisch „abgestraft“ werden. Die selbstverschuldete Unmündigkeit der deutschen Gesellschaft entspringt nicht der Unfähigkeit, sich des eigenen Verstandes zu bedienen, sondern gegenwärtig des Widerwillens, zu akzeptieren, dass die Welt von heute nicht die Welt von gestern ist. Die Opfer des Ukraine-Kriegs sind auch der Preis für den Schimmer von Sorgenlosigkeit, den die Vorstellung, dass der Krieg ohne unsere Initiative gewonnen werden könnte, erlaubt. (Da wir diejenigen sind, die angegriffen werden – auch wenn bis jetzt nur die ukrainische Bevölkerung von Raketenterror und sonstigem Beschuss betroffen ist –, halte ich es für ausgeschlossen, dass das Verpuffen des Krieges, das sich viele Leute einschließlich mir wünschen, anders als dadurch, dass wir den Krieg gewinnen, erreicht werden kann. Das folgt auch aus meiner anfänglichen Behauptung, dass die zwei Optionen für ein Ende des Krieges Sieg der Verteidiger oder Unterwerfung und mehr Krieg (was demnach kein Ende von Krieg in Europa wäre, sondern nur ein Ende des Ukraine-Kriegs, an dessen Stelle ein neuer Krieg tritt), sind.) Was mich an der Plattitüde, die ich wiedergegeben habe, störte, war, dass es für mich so klang, als sei es die Aufgabe der Regierung, den Bürgern und Bürgerinnen ihre Sorgen schnellstmöglich wegzunehmen. Einmal habe ich angefangen, einen Text über die Geschichte von deutschem Wohlstand zu schreiben, in dem ich einen Abschnitt mit dem Titel „Sicherheit und Sorge“ hatte und schrieb, dass es für einige Zeit normal gewesen sei, sich keine Sorgen um Dinge wie Sicherheit machen zu müssen. Ich glaube nicht, dass es möglich ist, Sorge für etwas zu tragen, ohne sich Sorgen um etwas zu machen. Natürlich ist es erstrebenswert, dass das Leben nicht von konstanten Sorgen begleitet wird (für viele Leute, auch wieder ich eingeschlossen, ist das ein Bestandteil von Glück), aber dazu müssen die Probleme und Bedrohungen, die Sorgen bereiten, wahrgenommen und aus dem Weg geräumt werden. Fragen sind das Mittel, um sich mit Problemen und Bedrohungen zu beschäftigen. Vielleicht liege ich falsch in der Einschätzung, dass die deutsche Gesellschaft nicht gewillt ist, sich mit ihren Problemen und Bedrohungen zu beschäftigen. Vielleicht gibt es eine Beschäftigung mit schwierigen Themen, die mit der Zeit die Entstehung einer Zukunftsvision befördern wird. In jedem Fall ist es wichtig, dass ein Staat nicht nur als Elternteil, das sich um alles kümmert, verstanden wird, sondern dass verantwortungsvolle Bürger*innen im Zusammenspiel mit einer verantwortungsvollen Regierung, einer verantwortungsvollen Zivilgesellschaft, usw., Sorge für das Wohl der Bevölkerung tragen. Umsichtig stellen wir fest, dass denjenigen, die uns nun seit Jahren vor Terror und Zerstörung beschützen, unser Dank gelten sollte, wenn wir uns Sicherheit wünschen. Das hat nicht unbedingt irgendetwas mit guter Moral zu tun. Das Denken an die Quelle unserer Sicherheit, auf die uns unser Dank verweist, ermöglicht kluge, strategische Überlegungen. Dennoch will ich die Gelegenheit nutzen, um mich zu bedanken:

Dankbarkeit erlaubt mir, mich aufgrund dessen, was andere für mich tun, glücklich zu schätzen oder sogar glücklich zu sein. Sie lindert Schmerz. Ich bin dem ukrainischen Militär sowie allen, die es unterstützen, dankbar. Gerade fährt der Zug, der mich nach Hause bringt, an einer Vielzahl von Vistas, die der wolkenlose Himmel schwach blau noch mit dem dunkelroten Hauch unten zur späten Abenddämmerung zeigt, vorbei. Der Tag war bestimmt von allerlei, aber er war nicht bestimmt von Nachrichten und der Realität eines sich bis an die polnischen Grenzen erstreckenden russischen Reichs, das ununterbrochen mit den Säbeln rasselt und weitere ‚Spezialoperationen‘ plant, was natürlich nicht komplett wäre ohne die Stimmen, die ihrer deutschen Regierung dieses Säbelrassen vorwerfen, selbst wenn Putins Truppen bereits einmarschieren. Vor kurzem dachte ich an meine Kindheitstage und an die Besonderheit der Erlebnisse, die Art und Weise, wie sich einzelne Eindrücke, Gedankengänge, Gefühle an einem Tag verbanden und zu ganz persönlichen Erinnerungen wurden. Mir ist jetzt bewusst, dass diese Erlebnisse und Erinnerungen nicht in einem Vakuum stattgefunden haben. Als deutsche Person verdanke ich meine Freiheit maßgeblich denjenigen, die sich damals Hitler entgegengestellt haben. Heute sind es ukrainische Soldat*innen, die auch mein Leben beschützen. Deswegen: Danke.

Freiheit

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Disney+ und Netflix

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Abrechnung mit Olaf Scholz

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Entscheidungen

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Ich vervollständige den Text, wenn er fertig ist (wollte aber schon mal den ersten Teil teilen). Wer auf dem Laufenden bleiben will, kann gerne den Newsletter abonnieren.