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Ziviler Ungehorsam, Freier Wille und Gegenseitige Hilfe am Beispiel der Ukrainischen Gesellschaft

Inhaltsverzeichnis

  1. Einleitung

  2. Ziviler Ungehorsam

  3. Freier Wille

  4. Gegenseitige Hilfe

  5. Schluss

  6. Anhang

  7. Quellenverzeichnis

1. Einleitung

Aufsätze sind Zeitwesen. Der vorliegende Aufsatz entstand in einem Seminar, das im Winter 2022/23 abgehalten wurde. Im Winter 2022/23 kämpfte die ukrainische Bevölkerung mit der Kälte, die durch die systematischen Angriffe des russischen Militärs auf die Energieinfrastruktur der Ukraine als Kriegswaffe instrumentalisiert wurde, kämpften ukrainische und russische Soldat*innen in der ostukrainischen Kleinstadt Soledar, die nach umfassender Zerstörung schließlich von der russischen Armee eingenommen wurde, und beschloss die deutsche Bundesregierung nach einem halben Jahr des Wartens die Lieferung von Kampf- und Schützenpanzern an die Ukraine. Was verbirgt sich hinter dieser Zusammenfassung? Die Namen der Toten, die in diesen Wintermonaten in der Laufzeit des Seminars im Ukraine-Krieg gestorben sind, mögen nicht einzigartig sein, aber die Personen, denen sie gehören, sind es. Laut Kateryna Mishchenko „gibt es […] nichts Realeres als die Verantwortung“ gegenüber den Toten. („Ein schwarzer Kreis“ 21) Ein zentraler Aspekt dieser Verantwortung ist das Erinnern. Die konstitutiven Bande einer Gesellschaft gehen, wenn es sie gibt, zuallererst auf dieses Erinnern zurück. Einer der grundlegendsten Dienste, die wir einander erweisen können, ist der, dafür zu sorgen, dass unsere Lebenswerke auch nach unserem Tod noch weiter wirken, indem wir einander gedenken. Doch was gehört zu diesem Gedenken und welchen Platz hat es in dem, was wir ‚Wirklichkeit‘ nennen, in unserer Realität? Gemäß des Philosophen Jacques Derrida geht die Realität auf traumatische Ereignisse zurück, worunter er auch Tode, Verletzungen und Massenmorde fasst. (Einsprachigkeit 48) Er sagt, dass solche „markanten“ Ereignisse die Notwendigkeit einer Struktur sichtbar machen. Anders gesagt verweisen sie uns auf die Frage: Warum ist jemand gestorben? Musste die Person sterben? Wenn eine Person im Krieg stirbt, stellt ihr Tod ein Opfer dar. Welches System wird von diesem Opfer zusammengehalten?

Nachdem ich den vorliegenden Aufsatz verfasste, fragte ich mich, was meine Motivation gewesen war. Rückblickend glaube ich, dass mich die Berichte von großen Zahlen von Freiwilligen, die nach der russischen Großinvasion am 24. Februar 2022 dem ukrainischen Militär beitraten, um ihr Land zu verteidigen, inspirierten. Ich interessierte mich für diese ‚Selbstmobilisierung‘ als eine soziale Bewegung, deren Wurzeln ich verstehen wollte. Dazu war es wichtig herauszufinden, für was die Ukrainer*innen kämpfen, welche Werte sie verteidigen. Die Freiheit, nicht für ein Land sterben zu müssen, gehört nicht zu den Rechten, die ukrainische Männer derzeit haben und in Anspruch nehmen können. Sie werden gezwungen, im ukrainischen Militär zu kämpfen, auch wenn sie es nicht wollen. Ich sage das nicht, um das Verteidigungsrecht des ukrainischen Staats in Zweifel zu ziehen. Vielmehr will ich auf die Zerstörung einer Errungenschaft der Ukraine – Freiwilligkeit, Yevgenia Belorusets erzählt von der „Bussifizierung“ genannten Praktik, bei der ukrainische Männer zwecks Mobilisierung in weiße Busse in der Öffentlichkeit gezerrt werden („Die Einberufung“ 22–24), die nicht mit dem Wert von Freiwilligkeit vereinbar ist – durch den russischen Angriffskrieg hinweisen. Um die Ukraine zu beschützen, um die Ermordung von Ukrainer*innen aufzuhalten und ihnen ein Leben in Würde und Freiheit zu garantieren, braucht es, wie ich zum Schluss dieses Aufsatzes schreibe und weiterhin denke, eine radikalere Unterstützung ihres Verteidigungskampfes, die einen tatsächlichen Sieg in Aussicht stellt.

Wenn man ein Gerät entwerfen könnte, um die Anzahl oder das Volumen von Geschichten an einem bestimmten Ort über einen bestimmten Zeitraum zu messen, wären in der Ukraine in den letzten Jahrzehnten besonders hohe Werte erzielt worden. Aber was würde überhaupt bei einem solchen Unterfangen gemessen? Was ist eine Geschichte? Zunächst können wir ganz einfach sagen, dass eine Geschichte erzählt werden kann. Was wir erzählen, kann relativ ‚belanglos‘ sein, wenn es sich um abgesteckte Geschehnisse, die bald wieder verblassen werden, handelt („Wie war dein Tag?“), oder aber, im Fall von schicksalshaften Ereignissen, den Verlaufsbogen eines gesamten Lebens betreffen. In welchem Verhältnis stehen die Geschichten von Einzelnen zu dem, was als Schulfach ‚Geschichte‘ unterrichtet wird? Wenn wir uns mit der Geschichte der Ukraine befassen, merken wir schnell, dass es völlig unzureichend wäre, diese als eine Aufeinanderfolge von voneinander isolierten Ereignissen zu verstehen. Stattdessen können wir sehen, wie sehr die Geschichte eines Landes von einem Wachstum, dessen verschiedene Momente sich aufeinander beziehen, aufeinander aufbauen und einander ermöglichen und das im Laufe dessen eine bestimmte Logik entwickelt, geprägt sein kann. Ich will in diesem Text die Geschichte von sozialen Bewegungen in der Ukraine in den Blick nehmen. Konkret meine ich diejenigen Prozesse und Ereignisse, welche in (vielleicht beliebiger) zeitlicher Begrenzung der letzten zwanzig Jahre zum gegenwärtigen Kampf für Demokratie, Freiheit und Würde gerechnet werden können. Meine Definition von ‚sozialer Bewegung‘ folgt hierbei einem lockeren Begriff, bei dem es schlicht um den Wunsch geht, andere Lebensgeschichten und -realitäten zu kreieren. Um die Dinge, über die ich in Bezug auf ukrainische soziale Bewegungen dieses Jahrhunderts sprechen will, greifbar zu machen, arbeite ich mit drei Konzepten: ziviler Ungehorsam, freier Wille und gegenseitige Hilfe.

2. Ziviler Ungehorsam

Diskussionen über die Rolle zivilen Ungehorsams in Demokratien haben verschiedene Ansätze hervorgebracht, die sich grob in zwei ‚Lager‘ einteilen lassen: das liberale Lager, nach dem Handlungen zivilen Ungehorsams gegen bestimmte Gesetze oder Praktiken einer Staatsmacht bzw. Regierung, die als ungerecht empfunden werden, gerichtet sind, und das radikaldemokratische Lager, das eine ausgeweitete Definition der Handlungsspielräume und Ziele zivilen Ungehorsams, bei denen es um grundlegende Demokratisierungsprozesse durch den freiwilligen Zusammenschluss von Staatsbürger*innen gehe, anstrebt.[1] Anstatt zwischen diesen beiden Lagern zu urteilen, will ich sie in ein gemeinsames Verhältnis zu dem, was ich als Gegenteil von Demokratie begreife, dem ich den Namen ‚Brutalität‘ gebe, setzen und ich will behaupten, dass Phänomene zivilen Ungehorsams in engem Bezug zu Kontexten, in denen der Status von Demokratie ungewiss ist, stehen. „Ziviler Ungehorsam setzt einen Staat, eine legitime Gewalt [authority], die eine territoriale Gemeinschaft durch bindendes Recht regiert, voraus“, schreibt James D. Ingram in einem Text über Anarchismus und zivilen Ungehorsam („Anarchism: Provincializing Civil Disobedience“ 178, Übersetzung von mir, LR), aber ich würde eher sagen, dass ziviler Ungehorsam die Legitimität besonderer Gewalt in Frage stellt. Aus diesem Grund eignen sich Gesellschaften im Umbruch, revolutionäre Gesellschaften, Gesellschaften, in denen alte Strukturen und die alte Ordnung auf Widerstand stoßen, meines Erachtens am besten, um über Mittel und Zwecke zivilen Ungehorsams nachzudenken. Diejenige ukrainische Gesellschaft, die im Zuge der Euromaidan-Proteste vom November 2013 bis Februar 2014 ihren Präsidenten Viktor Yanukovych stürzte – Yanukovych floh in der Nacht zum 22. Februar in die Ostukraine und später weiter ins russische Exil[2] –, war eine solche Gesellschaft. Die autokratische Entscheidung Yanukovychs, das Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Union zur Vertiefung wirtschaftlicher und politischer Beziehungen nicht zu unterzeichnen, die die Proteste auslöste, muss den Menschen das Gefühl gegeben haben, den Kurs ihres Landes nicht bestimmen zu können. „In den paar Monaten ist mir klargeworden, dass wir für die Janukowytsch-Regierung nicht das waren, was gemeinhin als ‚Wählerschaft‘ bezeichnet wird, sondern einfach nur Müll und Gestank, der so schnell wie möglich beseitigt werden muss“, schreibt die Autorin Kateryna Mishchenko („Ein schwarzer Kreis“ 31). Es war die gewaltsame Vertreibung von Protestierenden vom Ort der Proteste – dem Platz der Unabhängigkeit, Majdan Nesaleschnosti, aus dem sich zusammen mit der Abkürzung „Euro“ für Europa der Name „Euromaidan“ ergibt, in Kyiv – durch Einsatzkräfte der Spezialeinheit Berkut am 30. November, bei der die Protestierenden verprügelt wurden, die die Art der Herrschaft, unter der die Menschen lebten, herauskristallisierte. „Weg mit der Bande!“ war ein beliebter Spruch bei den Protesten.

Der Impuls, das Bedürfnis, auf den Maidan zu gehen und einen Platz auf ihm mit dem eigenen Körper zu okkupieren, muss in Bezug auf die Wünsche, Werte, Sehnsüchte, die die Leute motivierten, verstanden werden. In einem Text über die Entwicklung der ukrainischen Zivilgesellschaft von der Orangen Revolution 2004/5 bis zum Euromaidan 2013/14 skizziert Iryna Solonenko zum Schluss die Grundlagen des alten Gesellschaftsvertrags, die die Zivilgesellschaft herausforderte: „Diesem Vertrag entsprechend kümmerte sich der Staat nicht um das Gemeinwohl, sondern ließ die Vereinnahmung des Staates durch einen kleinen Kreis von Personen mit privilegiertem Zugang zu öffentlichen Ressourcen zu. In dieser Situation erhielt die Gesellschaft vom Staat nicht die erwarteten Leistungen. Stattdessen versuchte sie, trotz des Staates zu überleben, indem sie keine Steuern zahlte und die Korruption förderte.“ (267) Wir sehen, dass eine bestimmte Staatsform mit einem bestimmten Gesellschaftsvertrag eine bestimmte Verhaltensweise seitens der Bürger*innen, die in dem Staat leben, erheischt. Das liegt daran, dass verschiedene Akteure innerhalb eines politischen Systems ein organisches Gefüge bilden. Der maßgebliche Befehl, der in den Tagen und Monaten des Euromaidans von Seiten des Yanukovych-Regimes an die ukrainische Bevölkerung erging, war der, zu Hause zu bleiben. Solche Befehle schaffen immer eine Demarkationslinie, die überschritten werden kann, eine Trennung zwischen zwei Bereichen, dem Erlaubten und dem Verbotenen, die zum Beispiel in Form eines Gesetzes, das stets den Befehl, zu gehorchen, in sich trägt, festgeschrieben werden kann (Yanukovych unterzeichnete am 17. Januar die am vorigen Tag vom ukrainischen Parlament verabschiedeten sogenannten ‚Diktaturgesetze‘, die die Freiheits- und Menschenrechte der Ukrainier*innen – unter anderem das Recht auf Versammlungs- und Medienfreiheit – massiv einschränken sollten), die aber auch von einer widerständigen Gesellschaft genutzt werden kann, um aufzuzeigen, welche Arten von Handlungen von ihren Machthabenden kriminalisiert und bestraft werden. „Der Maidan war aus dem Bedürfnis zu schenken und zu teilen entstanden“, schreibt Mishchenko („Ein schwarzer Kreis“ 25). Die Protestierenden, die den Maidan dauerhaft besetzten, brauchten Lebensmittel, Kleidung, Feuerholz, medizinische Versorgung, Rechtsbeistand, usw., um ihre Präsenz auf dem Platz aufrechterhalten und verteidigen zu können. Für die Menschen schufen die Proteste daher die Gelegenheit, durch Sach- und Geldspenden, durch das, was sie besaßen und weggaben („Geld, Lebensmittel, Kleidung, Decken und Zelte“ – die Liste sowie einige folgende Punkte stammen aus Maciej Bartkowskis Analyse der Maidan-Revoltuion, „Die Maidan-Revolution in der Ukraine – Gewaltloser Widerstand in gewaltgeladener Situation“, hier S. 11), durch Expertise (von Rechtsanwält*innen, von Krankenhausangestellten, …), und durch Arbeit (Suppenküche, Errichtung von Barrikaden und Zelten, Installation von Heizungssystemen, …) einander zu helfen; gesellschaftliche Themen in den Vordergrund zu rücken (Mishchenko berichtet von der Integration von Obdachlosen in die Gemeinschaft auf dem Maidan („Ein schwarzer Kreis“ 30)); für Gruppen, die normalerweise wenig oder keine Beachtung in revolutionären Kontexten erhalten, in Aktion zu treten (Bartkowski berichtet vom Engagement blinder Aktivist*innen bei der Essensausgabe und von Protestierenden mit Behinderungen, die „Schilder mit der Aufschrift ‚Erschießt Ihr uns auch?‘ durch die Straßen [trugen] – eine Referenz auf die Polizeigewalt, die im Januar zum Tod von Aktivisten geführt hatte“ (12)); sowie die gegenwärtigen Ereignisse als Möglichkeit für Bildung und Kompetenzerweiterung zu nutzen (hier spielte die Offene Maidan-Universität eine wichtige Rolle, die „während der Besetzung Hunderte von Vorlesungen und Diskussionforen ab[hielt], um die Menschen zu informieren und zu bilden“, wobei Bildung „die Organisierung von Widerstand […], aber auch das Reden in der Öffentlichkeit, die Organisierung von Dienstleistungen, die Verbesserung sozialer und komunikativer [sic] Fähigkeiten und den wirksamen Einsatz Sozialer Medien“ zum Gegenstand hatte (Bartkowski 11)). Diese Schilderung soll zeigen, dass Handlungen zivilen Ungehorsams nicht bloß negativ in Bezug auf bestehendes Recht, geltende Normen, eine alte Ordnung sind, sondern dass das Nicht-Gehorchen einen positiven Inhalt hat, durch den das Abbild und die Aspekte einer zukünftigen, neuen Gesellschaft im Hier und Jetzt präfiguriert werden.

Die Mühen, die sich die ukrainischen Bürger*innen, die an den Euromaidan-Protesten in verschiedenen Kapazitäten teilnahmen, machten, mussten notwendigerweise zur Etablierung einer Infrastruktur, durch die jene gebündelt werden konnten, führen. Die von Bartkowski als Störmaßnahmen charakterisierten Aktionen, zu denen sich das Protestrepertoire im Prozess der Radikalisierung der Proteste verlagerte, nämlich die Besetzung und faktische Kontrolle von Regierungsgebäuden in Kyiv und anderen Regionen, dienten auch der „Unterstützung der größeren Besetzung des zentralen Platzes [des Maidans in Kyiv]. Sie hielten dort medizinische Versorgung bereit und richteten Zentralen zur Essensverteilung sowie Aufwärmplätze für die kalten Wintertage ein. Außerdem entstanden dort Koordinations- und Kommunikationszentralen.“ (Bartwkoski 12) Die Störaktionen umfassten auch die Blockade von Straßen und Schienen, um Sicherheitskräfte und Einheiten der Miliz und der Innentruppen daran zu hindern, nach Kyiv zu gelangen, um die aktivistische Präsenz auf dem Maidan zu bekämpfen und zu entfernen. Der Schriftsteller Juri Andurchowytsch erzählt von Nyshniwer Bauern, die „bewaffnet mit Knütteln und vielleicht auch Heugabeln“ die Straßenbrücke über den Dnister bewachten: „Sie hätten sich vor die Räder geworfen, daran habe ich keinen Zweifel.“ („Sieben raue Februartage“ 12) Bartkowski erzählt von Aktivisten, die „an den entscheidenden letzten Tagen des 20. und 21. Februar“ Schienen besetzten „und […] so einen Zug mit 500 Sicherheitskräften, die aus Dnipropetrowsk kamen und auf dem Weg nach Kiew waren[, blockierten].“ (12) Das Ziel der Besetzung, des Maidans in Kyiv, der ‚Maidane‘ im ganzen Land (neben den Protesten in Kyiv fanden auch lokale Demonstrationen in vielen anderen ukrainischen Städten in der Zeit statt), sowie der Regierungsgebäude, war, ein korruptes Regime zu stürzen, das seinem Volk nur den Platz von Untertanen, die es leer saugen konnte, zuwies. Sowohl die Interaktionen auf dem besetzten Maidan und um ihn herum, das Aggregat von Gefühlen, Leibern und Fahnen bei den Protesten und von gesungenen Hymnen in der U-Bahn (Bartkowski 11–12), als auch ganz allgemein die Erfahrung einer politisierten Masse, dass sie die Macht besitzt, ihre Politiker*innen dazu zu zwingen, im Dienste der Interessen des Gemeinwohls zu handeln oder zu gehen, dass sie die Politik ihres Landes bestimmen kann, halfen bei der Entwicklung eines zivilen Selbstbewusstseins. Konzeptuell können wir mit Robin Celikates sagen, dass sich der zivile Aspekt zivilen Ungehorsams auf die „Kapazität politischer Akteur*innen, gemeinsam als Bürger*innen [citizens] zu handeln, nicht nur innerhalb sondern auch außerhalb und gegen formelle Institutionen“ (Celikates 136) bezieht, wobei diese zuallererst auf der Fähigkeit, einen zivilen Raum, der geschaffen wurde, – eine City, oder eine „Stadt in der Stadt“, wie Andruchowytsch den Maidan in Kyiv beschreibt (15) – zu verteidigen, gründet. Die Merkmale der neuen Bürger, die in diesem Rahmen entstanden, waren unter anderem Verantwortung und Selbstorganisierung.

Das Gehirn der Euromaidan-Proteste, wie ich es bezeichnen möchte, funktionierte über die Informationskanäle, Verknüpfungen und direkten Kontakte zwischen einzelnen Aktionsgruppen und Teilnehmenden. „Außerdem wurde die Maidan-Revolution von einem großen Netzwerk alternativer Medien unterstützt, darunter unabhängige Onlinemedien wie Hromadske TV, UA Stream TV und Espreso TV, auf den Maidan bezogene Facebookseiten wie Euromaidan, Hromadski Sector Maidanu und Automaidan sowie zahlreiche Freiwillige, die Broschüren und Flugblätter mit unzensierten Informationen über die Maidan-Revolution, Repressionen und Forderungen der Bevölkerung in Städten im Osten der Ukraine verteilten“, so Bartkowski. (12) Zum Automaidan, „eine Bewegung, die sich aus Autobesitzern zusammensetzte, die eine ganz besondere Protestform entwickelt hatten, indem sie den Demonstranten mit ihren Autos Hilfe leisteten oder sogar die Barrikaden vor der Polizei beschützten“ (Solonenko 261), sagt Bartkowski: „Oft war der Automaidan Auge und Ohr des Maidan, indem er Bewegungen der Sicherheitskräfte und der als titushki bekannten von der Regierung beauftragten Schläger beobachtete.“ (Bartkowski 12, erste Hervorhebung von mir, LR) Der Schriftsteller Serhij Zhadan erzählt von Versammlungen in Kharkiv im Nordosten der Ukraine: „Mitte Januar organisieren wir ein weiteres Treffen von Abgeordneten und Autoren. Im Veranstaltungssaal läuft eine Direktübertragung von der Hruschevskyj-Straße [die nach dem ukrainischen Historiker Mykhailo Hruschevskyj benannte Straße in Kyiv, die vom 19. bis zum 27. Januar Schauplatz heftiger Auseinandersetzungen und Kämpfe zwischen Demonstrierenden und Sicherheitskräften wurde].” („Vier Monate Winter“ 72) Die nervliche Anbindung an das Geschehen auf dem Maidan in Kyiv – eine Art Zentrum, das seine Bedeutung von den lokalen Zentren, die es umgeben, erlangt – zeigte die revolutionäre Bereitschaft der Menschen, einen Prozess zu durchlaufen, an dessen Ende sie als neue Subjekte hervorgehen würden. Um die Transformationen, die die Ukraine in diesen Monaten unterging, gestalten zu können, war es notwendig, die gegenwärtigen Entwicklungen und Geschehnisse mit wachen Sinnen zu begleiten.[3]

Was ist Gewalt? Wenn wir von häuslicher Gewalt, einer Gewalttat, diskriminierender Gewalt oder Ähnlichem sprechen, haben wir meist ein Opfer vor Augen, das die Auswirkungen dieser Gewaltanwendung erleidet, dessen ‚Innenleben‘ oder Erleben einer radikalen, möglicherweise traumatischen Deformation durch die Gewalterfahrung unterzogen wird. Ich will Gewalt als formgebende bzw. formzerstörende Kraft beschreiben, wobei nicht zu leugnen ist, dass im allgemeinen Sprachgebrauch die Gewichtung stärker auf dem destruktiven Potential von Gewalt liegt (eine Ausnahme hiervon wäre zum Beispiel der Begriff ‚Gewaltenteilung‘). Der Grund für diesen Sprachgebrauch liegt, denke ich, in der besonderen Besorgnis um die schlimmen Konsequenzen, die Gewalt haben kann, um das Leid und den Schmerz, die sich hinter der Form eines Gesichts, das mit Platzwunden und Schwellungen übersät ist; eines menschlichen Körpers, dessen abgerissene Glieder nicht erkennen lassen, wie er ursprünglich einmal ausgesehen hat; einer verwundeten Landschaft oder zerstörten Stadt; und so weiter in einer Liste, die nicht umhin kommt, Gewalt zu ästhetisieren, verbergen. Dennoch will ich behaupten, dass auch das destruktive Potential von Gewalt nicht grundsätzlich oder ausschließlich als schlecht zu werten ist. So kann die Zerstörung von Fesseln zum Beispiel eine Befreiung realisieren. Wenn wir über Gewalt sprechen, müssen wir immer zuerst klären, wie wir den Begriff definieren. Die Gewalt, die auf dem Maidan und im Umfeld des Maidans stattfand, bildete keine singuläre Kette von Handlungen, sondern verfolgte unterschiedliche Dynamiken. Bartkowski urteilt: „In einem einzigen Moment spielten der kleine radikale Flügel der größeren Bewegung zur Verteidigung des Platzes wömglich tatsächlich eine wichtige taktische Rolle – in den Straßenkämpfen gegen das gewalttätige Regime“ (13). Er sieht den Grund für den Erfolg der Proteste allerdings in der „mehr als zwei Monate währende[n] Arbeit der Bürger an sorgfältig eingefädelten gewaltlosen Aktionen, an Organisierung und Mobilisierung, die das Regime wirklich verwundbar gemacht hat.“ (14) Mishchenko erzählt von einem Streit mit einem dänischen Journalisten, „als [sie] versuchte, ihn zu überzeugen, dass es wirklich Länder gibt, in denen Gesetze auf einmal nichts mehr wert sind, und derjenige, der als Garant der Verfassung auftritt, der größte Verbrecher im Land ist. Aber der Däne konnte einfach nicht begreifen, wie das denn sein kann.“ („Ein schwarzer Kreis“ 35) Das Verbrennen von Autoreifen, Holz und Lumpen bei den Barrikaden an den Rändern des Maidans, das der Selbstverteidigung diente, hatte auch einen psychologischen Effekt: „Das Feuer. Es hatte alles angefressen, was es erreichen konnte. Feuer, Rauch, Asche, Wind und Schlacke. Feuer, das die letzten Brücken für einen Kompromiss verbrannt hatte“, schreibt Andruchowytsch. (16) Und: „Dieses Feuer war Verzweiflung.“ (11) Zhadan führt aus: „Viele hat die Tatsache erschreckt, dass ihre Mitmenschen zu Waffen gegriffen haben. Viele lehnen eine gewaltsame Lösung prinzipiell ab. Für manch einen war das ein Schock. Für viele andere das Signal, dass es anders nicht ging, dass es keinen Ausweg gab, dass man diese Macht, dieses Regime nur stürzen konnte und der Verhandlungsweg aussichtlos war.“ („Vier Monate Winter“ 73) Dem Entschluss zur Anfertigung eines Molotowcocktails liegt eine bestimmte Perspektive, eventuell ein deliberativer Prozess und wohl auch eine gewisse körperliche oder nervliche Veranlagung zugrunde. Beim Urteil über den Einsatz dieses Mittels muss man unter anderem berücksichtigen, welche Gefahren durch die Gewaltanwendung entstehen können und welche Konsequenzen der Gewaltverzicht für die Betroffenen hätte. Das gilt sowohl für den Euromaidan als auch für den Krieg. Woher wissen wir, was für die Menschen in der Ukraine in den Wintermonaten vor zehn Jahren auf dem Spiel stand? Wir haben, von Andruchowytsch, die Geschichte eines Sohnes, der seinem Vater befahl, andere Schwerverletzte an seiner statt vom Maidan mitzunehmen – er habe nur „ein paar Splitter in der Hüfte, ein paar in der Schulter“ und ihn bringe nichts fort – (15); die Menschen auf dem Maidan waren dem Andenken an die Zivilcourage der „Himmlischen Hundertschaft“ – die Bezeichnung für die mehr als hundert getöteten Protestierenden[4], von denen viele am 20. Februar von Scharfschützen erschossen und deren Särge auf dem Maidan präsentiert wurden – anheimgegeben. Der Ursprung des Reformwillens in der Ukraine ist mit der explosionsartigen Geburt eines politischen Erbes auf dem Maidan verbunden. Dieses Erbe war um den Preis des Nicht-Gehorchens erkämpft und die Bürgschaft für sein Weiterleben liegt seitdem in den Händen derer, die nach einem Leben in Würde und einer freien Ukraine streben.

[1] Vgl. Robin Celikates, „Radical Democratic Disobedience“, und James D. Ingram, „Anarchism: Provincializing Civil Disobedience“. Meine Unterscheidung und Begriffswahl folgen Celikates.

[2] Die folgenden Internetquellen liefern eine Chronik der Ereignisse der Euromaidan-Proteste: Euromaidan Press: A timeline of the Euromaidan revolution (interaktive Online-Chronik), https://euromaidanpress.com/2016/02/19/a-timeline-of-the-euromaidan-revolution/ (zuletzt eingesehen am 20. Dezember 2023). Christian Weisflog und Ivo Mijnssen: „Chronologie der Maidan-Revolution.“ In: Neue Zürcher Zeitung, 22. April 2022. https://www.nzz.ch/international/ukraine-chronologie-der-maidan-revolution-ld.1290571 (zuletzt eingesehen am 20. Dezember 2023).

[3] Sowohl Mishchenko als auch die Schriftstellerin Katja Petrowskaja berichten von der Angst vor dem Einschlafen während des Maidans: „selbst wenn man nur ein paar Stunden döste, konnte so viel passieren und sich alles verändern“ (Mishchenko 24), „nachts konnte ich wieder nicht schlafen, in Vorahnung der Gewalt, in der Angst, dass wenn man schläft, sich nur kurz vom Maidan trennt, etwas Unabwendbares passieren würde“ (Petrowskaja 39).

[4] Auch dreizehn Sicherheitskräfte wurden bei den Protesten getötet. Die Journalistin Alice Bota erzählt in ihrem Text „Unterirdisches Leben“ von der Mutter eines zwanzigjährigen Sohnes, der als Teil der inneren Streitkräfte vom Yanukovych-Regime eingezogen wurde und im Februar auf dem Maidan umkam. (21) Für die Mutter hätte die „Art, wie die toten Aktivisten zu Helden und Märtyrern gemacht und zugleich Polizisten und Soldaten dämonisiert wurden […] nicht sein dürfen“ und man hätte zunächst „alle miteinander versöhnen sollen.“ (22)

3. Freier Wille

Unfreiheit: Du willst ein Gefühl von Kohärenz, von Bedeutung; du willst fühlen, dass dein Leben Sinn hat(te). Deine Traumata werden von einem Machthaber benutzt, um persönliche Fantasien zu verwirklichen. Du verspürst Angst, Wut, ein Gemisch aus verschiedenen Emotionen, die mittels der Verbreitung von Lügen auf falsche Ursachen gelenkt werden. Du bist also dazu verdammt, in einer Spirale der Kontextlosigkeit zu existieren, in der keine Hoffnung darauf besteht, dass jemand Bezug auf tatsächliche Belange und Interessen von dir nimmt. Du bist selbstentfremdet.

So mein Versuch, mir den (Geistes- und Gemüts-)Zustand eines bestimmten Teils der russischen Bevölkerung, für den die Krim-Annexion eine Antwort auf enttäuschte Erwartungen, den affektiven Verlust der Zugehörigkeit zu einer Großmacht, die sozioökonomische Erniedrigung durch ein kleptokratisches Regime – oder andere Beschwerden sowie innere Kämpfe war, vorzustellen.[5] Das Referendum, das im März 2014 nach dem Einmarsch russischer Truppen auf der Krim abgehalten wurde, entbehrte jegliche demokratische Legitimation. Die Journalistin Alice Bota berichtet: „Was in Schottland [gemeint ist wohl das Unabhängigkeitsreferendum 2014, bei dem die Schott*innen mehrheitlich gegen eine Unabhängigkeit vom Vereinigten Königreich stimmten] Monate konkreter Vorbereitungen und noch mehr Jahre der Hinführung brauchte, wird auf der Krim in weniger als zwei Wochen durchgedrückt. Zwei Fragen stehen zur Auswahl, doch sie sehen keine Alternative vor: Entweder kann man für den Anschluss an Russland stimmen oder aber für die Wiederherstellung der Verfassung von 1992, was, je nach Interpretation, dasselbe zur Folge hätte. Die Bewohner der Krim stimmen dafür, künftig zu Russland zu gehören, die Krimtataren boykottieren die Wahl.“ (26) Der russische Journalist, Kriegsreporter und Buchautor Arkadi Babtschenko lehnt es ab, von einem Referendum zu sprechen: „Von einem Referendum, versteht man diesen Begriff so, wie alle Welt und das Völkerrecht es tun, kann dort [auf der Krim] nicht die Rede sein. Es handelte sich um eine Annexion reinsten Wassers. Russische Truppen ohne Hoheitszeichen und Dienstgrade umstellten das Gebäude des Krimparlaments, brachen in wenigen Wochen eine ,Abstimmung‘ übers Knie, nach deren Ergebnissen die Krim an Russland angeschlossen wurde. Ja, damals wollten die Bewohner der Krim, unter dem Einfluss der russischen Propaganda, in ihrer Mehrheit tatsächlich nach Russland. Stimmt. Aber wäre das Referendum regulär durchgeführt worden, mit einer Anlaufzeit, Diskussionen in der Öffentlichkeit, mit der Möglichkeit, die unterschiedlichen Standpunkte in den Medien zu präsentieren, die Bevölkerung mit zuverlässigen Informationen zu versorgen, unter Einhaltung aller Gesetze und so fort – wie es etwa in Schottland war –, dann wäre keineswegs ausgemacht gewesen, dass das Ergebnis für Russland ausfallen würde. Tatsache bleibt, dass es kein Referendum gegeben hat.“ (121) Knapp zehn Jahre zuvor, im Herbst/Winter 2004, war die Orange Revolution in Kyiv im Gange, bei der mehrere Hunderttausend Ukrainer*innen auf dem uns schon bekannten Platz der Unabhängigkeit versammelt waren, um an Protesten, die sich gegen massive Wahlfälschungen bei der damaligen Präsidentschaftswahl zu Gunsten Yanukovychs richteten und Erfolg hatten (vom Obersten Gericht wurde eine Wahlwiederholung beschlossen, bei der unter Wahlbeobachtung der Kandidat Viktor Yushchenko deutlich gewann; Yanukovych wurde fünf Jahre später rechtmäßig zum Präsidenten gewählt), teilzunehmen. Die Beteiligung an den Protesten sollte offenbar die freie Willensäußerung der Wähler*innen schützen.

Von einer freien Wahl kann nur dann die Rede sein, wenn mindestens eine mögliche Option gewollt wird. Die Orange Revolution (benannt nach der Farbe der Wahlkampagne Yushchenkos, die auch bei den Protesten viel zu sehen war) verlief ohne Gewalt und ohne Tote. Wodurch kam die Mobilisierung der Protestierenden zu Stande? Wir können annehmen, dass ihre Motivation aus der Überzeugung bzw. dem Wunsch, dass die eigene abgegebene Stimme bei einer demokratischen Wahl zählen sollte, heraus entstand, aber es gibt auch andere Gründe, warum Leute protestieren gehen: zum Beispiel für Geld. Der Wert einer Protesthandlung wird von den Umständen, in denen sie stattfindet, bestimmt. Das bedeutet jedoch nicht, dass die Entscheidung für oder gegen eine Protesthandlung nur durch eine Kalkulation von möglichen Kosten und Nutzen gefällt wird. Vielmehr scheint mir wahrscheinlich, dass sich Protesthandlungen – vor allem solche, die man als ‚heroisch‘ bezeichnen würde – grundsätzlich eher dann ereignen, wenn Kalkulationen dieser Art ausgesetzt sind, durch andere Faktoren übertrumpft oder ausgehebelt werden. Nehmen wir das Beispiel des Schriftstellers Artem Chapeye, der in dem Text „Wenn der Pazifismus endet“ von seiner Entscheidung, nach der russischen Großinvasion der ukrainischen Armee beizutreten, erzählt, um die Mängel eines rein rationalistischen Verständnisses von sozialem Engagement zu verdeutlichen. Chapeye schildert zunächst seine Zeit mit seinen Kindern vor dem Krieg:

„Meine Söhne und ich übernachten manchmal im Zelt bei uns in der Wohnung. Wir sagen dazu, dass wir uns ,auf Wanderungen vorbereiten, wenn wir größer werden‘, aber vor allem ist es ein Vorwand, um aneinandergekuschelt einschlafen zu können. Schön, aber unbequem. Hart. Ich bin vierzig und mir tut der Rücken weh. Nachts wache ich auf und ziehe zu Oksana auf die orthopädische Matratze um. Aber das Wichtigste ist, mit den Köpfen der Kinder auf meinen Schultern einzuschlafen.
Am letzten Abend des Friedens waren die Kinder nicht gerade artig. Oksana und ich wollten ihnen ,das Zelt wegnehmen‘, haben sie dann aber ,begnadigt‘. Und so schlief ich in der letzten Nacht des Friedens mit meinen Söhnen im Arm ein, in dem Zelt im Kinderzimmer. Wir kicherten.“ (53)

Dann erzählt Chapeye von den Explosionen, die seine Familie am nächsten Morgen wecken, und von der Fahrt in die Westukraine, zur Oma, seinen Eltern, auf deren Weg sie in einem Dorf anhalten, wo Chapeye auf einen etwa fünfzigjährigen Bauern trifft, der für ihn „wie die Verkörperung der Ukraine schlechthin, dieser unprätentiösen, zurückhaltenden ‚echten Ukraine‘, über die ich schreibe[, wirkte]“ (55). „Abends erfuhren wir dann am Telefon, dass das ganze Dorf vor dem Dorfrat zusammengerufen worden war. Unser Gastgeber und die meisten anderen männlichen Dorfbewohner hatten Maschinengewehre bekommen.“ (55–56) Laut Chapeye sei „[v]om ersten Tag an [klar gewesen], dass vor allem die ‚einfachen‘ Menschen würden kämpfen müssen. In der Ukraine sind das konkret diejenigen, die in den Dörfern und Kleinstädten leben, wo sie auch registriert sind. Leute wie ich, oder wie der Sohn des mobilisierten Bauern, die Mittelschicht der Großstädte, sie können dort, wo sie nicht registriert sind, untertauchen und auf unbestimmte Zeit abwarten, bis sie an der Reihe sind. Denn uns wird niemand finden, wenn wir nicht freiwillig kommen.“ (57) Inwieweit handelt es sich bei Chapeyes Entscheidung, der ukrainischen Arme beizutreten, also um eine freie Entscheidung? Chapeye erzählt von der „brennende[n] Scham“ (58), die er empfand, als er den Sohn des eben mobisilierten Bauerns bat, ihn mit seiner Familie zur Autobahn zu fahren (wohl mit dem Plan, weiter mit seiner Familie zu flüchten und nicht der Armee beizutreten). „[A]n die starke Scham, als ich nicht nur wegblicken, sondern mich gleich ganz wegdrehen wollte, daran erinnere ich mich sehr gut.“ (56) Er meint, dass, wenn er weggelaufen wäre, seine Frau und seine Kinder „[s]eine Entscheidung und [s]eine Erklärungen [ganz sicher] akzeptiert [hätten]“ (58). „Ich muss bei ihnen bleiben, denn sie sind das Wertvollste, was ich habe.“ (58) „Aber ich hätte ihnen nicht mehr in die Augen sehen können. Weil ich diese Erklärungen selbst nicht akzeptiert hätte.“ (58) Seinem älteren Sohn, der nicht will, dass sein Vater zum Krieg eingezogen wird – Chapeye antwortet, dass er nicht eingezogen werde, da er sich selber melde (was er am Morgen nach der Ankunft in der Stadt seiner Eltern tut) – versucht er zu erklären, „dass es sich ganz, ganz selten, vielleicht einmal im Leben, und selbst das nicht bei jedem, ergibt, dass man genau das tut, was man tun sollte. Weil es einfach nicht anders geht.“ (56)

„Weil es einfach nicht anders geht“: Chapeye berührt hier ein Sache, die der Historiker Timothy Snyder als augenscheinliches Paradox oder augenscheinlichen Widerspruch von Freiheit identifiziert: dass es manchmal sein kann, dass Freiheit uns in Situationen führt, in denen es scheint, dass wir keine Wahl haben. Snyder erklärt dieses Paradox – das laut ihm kein Paradox sei –, wie folgt:

„Freiheit bildet sich über eine gewisse Zeitspanne heraus. Wir sind Zeitwesen; Zeit ist vergänglich. Während Zeit vergeht, treffen wir als freie Menschen Entscheidungen zwischen verschiedenen Werten. Das müssen wir, weil es viele Werte gibt und sie einander widersprechen. Jedes Mal, wenn wir solche Entscheidungen treffen, bilden wir etwas heraus, das ich Charakter nennen würde. Und indem wir diesen Charakter aufbauen, indem wir zu bestimmten Arten von Leuten, zu bestimmten freien Personen werden, kann es vorkommen, dass wir uns in einer Situation wiederfinden, in der es uns angesichts unseres Charakters scheint, dass es nur eine Sache gibt, die wir tun können.“ („Why Freedom Matters More Than Everything“ (Online-Vorlesung), 00:29:41–00:30:19, alle Übersetzungen aus dieser Quelle von mir, LR)

Ich erachte diesen Begriff von Freiheit als ein Ding, das Charakter bildet und über Zeit geschieht, für wesentlich geeigneter, um Entscheidungen wie die Chapeyes, der ukrainischen Armee beizutreten, nachzuvollziehen, als die Theorie einer rationalen Entscheidung, die sich in einem einzelnen Moment der Kosten-Nutzen-Abwägung ereignet.[6] Aber worin besteht der affirmative, freiheitsliebende Charakter von Chapeyes Entscheidung? Warum war es, für Chapeye, die einzig mögliche Wahl, der ukrainischen Armee beizutreten? Snyder spricht über die Welt der Werte als „eine Art fünfte Dimension im Leben. So wie wir die vier physikalischen Dimensionen von Raum und Zeit kennen, können wir uns Werte als eine Art fünfte Dimension, als etwas, das real ist, aber das sich gemäß seiner eigenen Gesetze verhält, vorstellen[.]“ (00:12:32–00:12:48) Was sind die Gesetze dieser fünften Dimension? Chapeye wollte nicht nur wegblicken, sondern sich gleich ganz wegdrehen, als er den Sohn des mobilisierten Bauern um eine Fahrt bat und dabei Scham verspürte. Seiner Familie hätte er nicht mehr in die Augen sehen können, wenn er weggelaufen wäre. Die Entscheidung gehört allein Chapeye. Er muss wissen, was für ihn die richtige Entscheidung ist. Aus seinem Text wird deutlich, dass seine Entscheidung mit einer Überlegung, was nicht mehr möglich gewesen wäre, wenn er sich anders entschieden hätte, zu tun hat. Wie drückt sich ein Wert in unseren Köpfen oder in unseren Taten aus? Zunächst einmal beschäftigen wir uns mit den bzw. beschäftigen uns die Sachen oder Personen, die wir für wertvoll erachten. Zweitens zwingt uns das Erkennen eines Wertes zum Handeln ihm gegenüber. Drittens dürfen wir uns dem Gegenstand unserer Wertschätzung unterwerfen und träumen, dass er dann etwas von uns besäße. Ein solches Weiterleben kann die Form einer gerechteren Gesellschaft (zum Beispiel einer, in der nicht vor allem die ‚einfachen‘ Leute in den Krieg ziehen müssen, sondern sich alle gleichermaßen zu geteilten Pflichten positionieren) oder die Form von Geliebten nehmen. Kann es sein, dass Chapeyes Militärdienst als Teil der Streitkräfte, die sein Land und seine Familie verteidigen, ihm – wie, auf ihre eigene Weise, den „Hunderttausende[n anderen ukrainischen Soldat*innen, die] dieselbe Entscheidung [wie Chapeye] trafen: zu kämpfen, statt wegzulaufen“ (64) – erlaubt, im engsten Bezug zu seiner Familie zu leben, dass das Bewachen von „Zufahrten zu einem strategischen Objekt im Wald“ (63) in jener fünften Dimension der Werte, von der Snyder spricht, dem aneinandergekuschelten Einschlafen mit seinen Söhnen im Zelt in ihrer Wohnung vor dem Krieg am nächsten kommt, auch wenn es voller Entbehrung und Opfer ist? Chapeye schreibt: „Oksana [seine Frau] sagt, sie wolle nichts fühlen. Ich hingegen möchte alles fühlen, so intensiv umfassend wie möglich. Und ich bin so froh, dass Oksana, die Kinder, meine Eltern und Brüder einfach da sind. Es ist eine so starke Liebe wie nie zuvor.“ (65) Wir lernen von Chapeye, dass Freisein mitunter bedeutet, im Handeln oder als Autor einer Entscheidung das Dasein von anderen größtmöglichst zu spüren – sich ihm verantwortlich zu zeigen.

Die Verbindung zwischen Freiheit und Verantwortung wird auch von Snyder festgehalten: „Freiheit und Verantwortung gehören zusammen; eine freie Person ist auch eine Person mit Verantwortung[.]“ (00:44:23–00:44:29) Umgekehrt bedeutet das, dass, „wenn du komplett unfrei bist, du auch komplett ohne Verantwortung bist.“ (00:44:51–00:44:54) Freie Menschen treffen Entscheidungen, „nicht in einer Welt, von der sie glauben, dass alles bereits feststeht, sondern in der […] sie davon ausgehen, dass ihre Entscheidungen einen Unterschied machen“ (00:32:42–00:32:52), in der ihnen Verantwortung zukommt. Eben dieser Aspekt von Freiheit manifestiert sich im Widerstand der Ukrainer*innen gegen die russische Invasion. So sagt (im Dokumentarfilm Tatort Ukraine – Die ersten zehn Tage von Daniela Volker) zum Beispiel der 65-jährige Oleksandr Kysil, ein bei Irpin (einem Kyiver Vorort) lebender Wachmann, der sich, nachdem er bereits 2015 nach der Krim-Annexion als Freiwilliger mit seinem Sohn im Osten der Ukraine im Einsatz gewesen war, nach der Großinvasion am 24. Februar 2022 im Militär-Büro meldete und in den ersten Kriegstagen als Teil einer Einheit von Reservisten und Freiwilligen in der Territorialverteidigung das Vorrücken des kilometerlangen russischen Militärkonvois, der sich auf Kyiv zubewegte, bei einem Einkaufszentrum abwehrte: „Wenn wir nicht gewesen wären, hätte der Feind Kyiv sicher eingenommen.“ (40:15–40:19)

Aber was ist das Ziel oder der Zweck eines freien Willens? Wenn Snyder sagt, dass Freiheit das „höchste Gut“ ist, der Wert, der „andere Werte möglich macht“ (00:09:12–00:09:20), was meint er damit? Insofern als eine Wahl eine Präferenz ausdrückt (lieber das als das), schulden wir unseren Mitmenschen einen Platz in unseren Gedanken. Die Auswirkungen von Putins Entscheidungen sind katastrophal für die, die die Erde mit ihm bewohnen. In „Unterirdisches Leben“ erzählt Bota von den Menschen, die Mitte Oktober 2014 am Rande von Donezk, einer in der Donbas-Region gelegenen Stadt in der Ostukraine, „in einem Luftschutzbunker vier Meter unter der Erde [hocken], Tarana, Krystyna, Swetlana und die anderen“ (19) und die Hintergründe dieses Kriegs nicht verstehen, „nicht wissen, wer sie in die Bedürftigkeit gebombt hat.“ (32) Die Willkür, die über ihre Leben hereingebrochen ist, zerschleißt die Geduld und die Nerven. (vgl. ebd.) Zhadan spricht davon, dass nicht nur der Krieg im Donbas die Ukraine auf eine Bewährungsprobe stellt, sondern dass „das Land […] darüber hinaus auch eine Prüfung in Mitgefühl [durchlebt], in der Fähigkeit, gemeinsam innerhalb derselben Grenzen zu leben und Toleranz zu üben, sich gegenseitig verstehen zu müssen.“ („Befreite Gebiete“ 56) Das Kuriose lädt, wenn wir offen sind, zum Erkunden ein. Im Fotoessay von Yevgenia Belorusets, der im Band Testfall Ukraine von 2015 abgedruckt ist und das „glückliche, friedliche Leben vor dem Hintergrund des Krieges [im Donbas]“ (Belorusets, „Verborgene Formen des Widerstands“ 115) zum Thema hat, sehen wir unter anderem die Gesichter von Leuten, die „in den Städten des Donbass, welche die Okkupation durch separatistische Banditengruppen und verkleidete professionelle Militärs aus Russland erlebt haben und sich auch heute [Dezember 2014] direkt an der Frontlinie befinden“ (115), leben, abgebildet: das verrußte, runde Gesicht eines Mannes, auf dessen Brust eine abgesetzte Atemschutzmaske sitzt; das von einer Frau mit ausdrucksvollen Augen, die wohl wie viele der Personen, die Belorusets porträtiert hat, in einem der Grubenwerke, die die Städte des Donbas geprägt haben, arbeitet (sie trägt einen Helm und Lippenstift); das weiche, mit Stoppeln versehene Gesicht eines Arbeiters, dessen Augen wie von Kajal umrandet aussehen und sanftmütig in die Kamera blicken; ein anderer Herr lehnt gegen ein Paket, das auf einer Fensterbank liegt, und umgreift mit seinen zwei Händen einen Bändel, der um seinen Hals verläuft und an dem wohl ein Gegenstand hängt, er hat ein markantes Gesicht mit Falten um die Kerben seiner Mundwinkel und wirkt wie ein Teil des Hintergrunds; wir sehen drei Männer unterschiedlichen Alters (zwei sehr junge, einer mittleren Alters), die im Türeingang in einem Gemäuer stehen und alle gut aufgelegt scheinen – auffällig ist für mich das (schelmische?) Grinsen des jungen Manns links, der einen weißen Helm aufhat –, rechts davon eine Art vierfingrige Hand aus Rohren, die aus dem Boden greift; das siebte Foto würde ich „Die Hausbesitzerin“ betiteln, mit ihm könnte man ein Suchspiel veranstalten, bei dem es darum geht, einen kleinen, dünnen Hund, der direkt frontal zum Kamerawinkel positioniert ist, ausfindig zu machen, und danach einen zweiten Hund dahinter, und danach einen dritten, und dabei Interesse für die Gegenstände, die vor dem Haus liegen, sowie für das Leben der Frau, die in der Tür steht, zu entwickeln; und viele weitere Gesichter. Zhadan meint, dass „[d]er Donbass […] allen immer stärker auf die Nerven [geht]. Der Donbass gibt Anlass zu vielen Fragen und Missverständnissen. Der Donbass stört.“ („Befreite Gebiete“ 56) Für Zhadan ist „[d]as Wichtigste […], dass man diese Fragen gar nicht vermeiden, sie nicht hinausschieben kann. Man kann nicht so tun, als ob sie nicht da wären.“ („Befreite Gebiete“ 57) Diese Zwischenräume zwischen Menschen – in denen Verständigung stattfinden kann; die aber auch mit Propaganda gefüllt werden können, um die Menschen gegeneinander aufzubringen – sind der Ort, die „spezifischen Regionen“ („Befreite Gebiete“ 56), in denen die Zukunft entsteht. Für Snyder ist die Fähigkeit, „eine Zukunft zu erblicken, eine Vorstellung davon zu haben, wie diese Zukunft aussehen soll, […] [und] die Werte, die wir haben, auf die Zukunft anwenden zu können“ ein wichtiges Merkmal positiver Freiheit. (00:24:11–00:24:27) Die Frage der Zukunft des Donbas versammelte die Gemüter. Wie sieht es heute aus? Die Front verläuft zwischen denen, die wissen, wofür sie kämpfen, und denen, die Lügen erzählt bekommen. Ihr Schicksal ist das Produkt aus Zufall und Wahrscheinlichkeit, das aus einer bestimmten Politik resultiert. Wenn wir einen freien Willen als eine Bestrebung, als einen Vektor verstehen, können wir ihn danach bewerten, welche Aussichten er verschafft. Um nicht wie ein zerstörerischer, seelenloser Wind durch die Existenz zu ziehen, braucht eine Person ein Bewusstsein und Achtung für die Kosten, die andere Menschen und andere Wesen tragen, wie es sich zum Beispiel in der Sorge um funktionierendes Militärgerät („Gut, dass das alles noch irgendwie funktioniert.“ (Zhadan, „Befreite Gebiete“ 50)) äußert. Die Technik ist genauso Teil menschlicher Freiheit wie das Bedürfnis oder der Wille, einander gegenseitig zu helfen, wobei gegenseitige Hilfe nur von Freiwilligen geleistet werden kann. Diese Elemente fügen sich in Zhadans Erzählung, wie folgt, zusammen: „Der alte VW-Bus, in dem wir unterwegs sind, ist voll beladen mit Medikamenten, warmer Kleidung und Schuhen. Die freiwilligen Helfer, unsere sogenannten Volontäre, wissen, dass an einer Straßensperre alles gebraucht wird – von Kleidung bis zu den herkömmlichen Akkus.“ („Befreite Gebiete“ 47)

Aus dem Vorangehenden lassen sich vier Merkmale eines freien Willens ableiten:

1.    Voraussetzung für die Ausübung eines freien Willens ist, dass die Person Zugang zu wahren Informationen hat.

2.    Ein freier Wille besteht dann, wenn die Person Verantwortung für ihr Handeln trägt.

3.    Der Ausdruck einer Person hängt irgendwie mit dem Vorhandensein, der Aktivität oder der Rebellion eines freien Willens zusammen.

4.    Wer einen freien Willen besitzt, kann gegenseitige Hilfe leisten.

[5] Siehe Elena Rachevas Kapitel „Der Marsch für die Einheit des Volkes“ in Testfall Ukraine für einen Bericht über den Zustand der russischen Gesellschaft nach der Krim-Annexion, von dem die vorangehenden Sätze inspiriert sind. (133–147)

[6] Ich beziehe mich an der Stelle auf einen Abschnitt in Hank Johnstons Kapitel „Repressive States and Protest“ („Unterdrückerische Staaten und Protest“) in seinem Buch States and Social Movements („Staaten und Soziale Bewegungen“), in dem er die „rational choice theory“ („Theorie der rationalen Entscheidung“) behandelt. (S. 104–107, alle Übersetzungen aus dieser Quelle von mir, LR) Laut der Theorie der rationalen Entscheidung handeln Akteur*innen in der Regel gemäß Kosten-Nutzen-Abwägungen, aufgrund derer sie bestimmte Optionen bevorzugen. Aber was gilt hier als ‚rational‘, als ‚vernünftig‘? Johnston bezieht die Theorie der rationalen Entscheidung auf Protesthandlungen und Fluchtentscheidungen. Er schreibt: „Zum Beispiel kann ein*e Bürger*in, wenn Staatseliten keine Grundrechte und Grundfreiheiten gewährleisten, (1) loyal bleiben, (2) gehen – [den Staat] verlassen, oder (3) Forderungen stellen[.]“ (106) Außerdem thematisiert er das sogenannte Trittbeifahrerproblem („free rider problem“), bei dem es darum geht, dass die Einsicht, dass ein*e Protestierende*r mehr oder weniger keinen Unterschied machen wird, dazu führen müsste, dass alle Leute versuchen, „‚umsonst‘ bei der kollektiven Handlung anderer ‚mitzufahren‘, die anderen alle Kosten tragen zu lassen, während man selbst, wenn [der Protest] erfolgreich [ist], die Vorteile genießt[.]“ (105) Ich glaube, dass die Logik des Trittbeifahrerproblems sowie der „rational choice theory“ (bezüglich sozialen Handlungen) das Kernwesen von Gesellschaftlichkeit verkennt, welches angedeutet wird, wenn Johnston schreibt, dass ‚Faktoren‘ wie Solidarität, Kameradschaft oder emotionale Bindungen die „hohen Kosten des Handelns“ (105) (zum Beispiel bei einer mit Repressionen verbundenen Protestaktion) übertreffen können, und dass die Idee, dass vernünftiges Verhalten immer von Eigeninteresse geleitetes Verhalten ist, mit dem Forschungsgebiet, in dem das Konzept des „Exits“ (also des Verlassens eines Staates, das Johnston heranzieht, um die Theorie der rationalen Entscheidung zu erläutern) entstanden ist, zu tun hat. Laut Johnston geht das Konzept auf „eine[n] Ökonomen, der sich ursprünglich für Konsumverhalten interessierte“ (105), Albert Hirschman, zurück. Dieser „zeigte auf, dass das Verlassen eine von drei grundlegenden Optionen ist, wenn Konsument*innen mit einer schlechten Produkt-Performance konfrontiert wurden, und weitete sein Denken auf politisches Verhalten hinsichtlich der schlechten Performance des Staats aus.“ (105–106) Meine These ist, dass Konzepte wie die des „Exits“ (man könnte hier auch an politische Entscheidungen wie die des Brexits denken und in Frage stellen, inwieweit diese einen gesellschaftlichen Bezug haben) mit einem individualistischen Modell arbeiten, das selbst das Resultat einer bestimmten Form der Sozialisierung ist, und dass die Annahmen von Theorien wie der Theorie der rationalen Entscheidung oder Problemen wie dem Trittbeifahrerproblem kulturell bedingt sind und in anderen Gesellschaften gar nicht so denkbar wären beziehungsweise zunächst nicht verstanden werden würden. Die Vorstellungen von Vernunft, die Theorien von Rationalität zu Grunde liegen, sollten demnach stets auf ihre Abhängigkeit von spezifischen Gesellschaftsmodellen und kulturell bedingten Einstellungen hin überprüft werden.

4. Gegenseitige Hilfe

Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt von Pjotr Kropotkin ist ein Werk, das von allen gelesen werden sollte, die sich für eine Darstellung der Geschichte unserer Herrschaftsstrukturen, die von einem Standpunkt außerhalb des Konsenses, der diese Herrschaftsstrukturen als notwendig erachtet, verfasst wurde, interessieren. In acht Kapiteln über Tiergesellschaften, die Gesellschaft der Wilden, die Gesellschaft der „sogenannten Barbaren“ (149), die Gesellschaft in mittelalterlichen Städten und die Gesellschaft „in unserer Zeit“ (zunächst wurden die Kapitel als Artikelserie in der Zeitschrift Nineteenth Century von 1890 bis 1896 veröffentlicht, das Buch erschien dann 1902; den Tiergesellschaften sowie den Gesellschaften in mittelalterlichen Städten und der Gegenwart widmet Kropotkin jeweils zwei Kapitel) entwickelt Kropotkin seine These von der Bedeutsamkeit gegenseitiger Hilfe für die Entwicklung der Menschen entgegen der sozialdarwinistischen Annahme eines Kampfes aller gegen alle.[7] Das Erfrischende bei Kropotkins Ausführungen ist, dass sie keine radikale Trennung im Ursprung zwischen den Impulsen oder den Neigungen zu gegenseitiger Hilfe bei den Menschen und denselben bei anderen Tieren voraussetzen.[8, siehe Anhang 1] Kropotkins Prognose zum Ende seiner Kapitel über gegenseitige Hilfe in der gegenwärtigen Gesellschaft, wonach „das Bedürfnis nach gegenseitiger Hilfe und Unterstützung, das sich zuletzt in den engen Kreis der Familie oder der Nachbarn in den Mietskasernen, in das Dorf oder den Geheimbund der Arbeiter [in Kropotkins Anschauung vor der Zerstörung durch die Staaten] geflüchtet hatte, […] sich nun auch in unserer modernen Gesellschaft wieder auf[richtet] und […] sein Recht [beansprucht], zu sein, was es immer gewesen ist: der Hauptführer zum weiteren Fortschritt“ (265), ist dagegen nicht vereinbar mit den katastrophalen Verbrechen, die im 20. Jahrhundert folgten. In einem Vorwort zur Neuausgabe von Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt von 1914 nach Beginn des Ersten Weltkriegs schreibt Kropotkin: „Es sind nicht die Massen der europäischen Nationen gewesen, die das gegenwärtige Kriegselend vorbereitet und seine barbarischen[9] Methoden erdacht haben: es waren ihre Herrscher und ihre geistigen Führer.“ (10) Wenn wir Kropotkin bei dieser Beurteilung folgen, können wir doch nicht, denke ich, das Gleiche über den Zweiten Weltkrieg, ausgelöst von einem Diktator, Hitler, unterstützt von einer Masse, dem deutschen Volk, sagen. Kropotkin, der dem Subjekt der Massen in seinem Buch viel Lob zukommen lässt und der sich dafür ausspricht, ihr Leben stärker in den Blick zu nehmen,[10] fokussiert sich auf Taten gegenseitiger Hilfe. Er lässt dabei Taten zwischenmenschlicher Grausamkeit, die nicht auf ein Herrschaftsprinzip von oben, das dem Alltagsleben der Massen irgendwie äußerlich wäre, zurückgeführt werden können, außer Acht. Es geht mir nicht um eine herabsetzende Revision des Bildes einer ‚Menschennatur‘ oder des ‚Wesens des Menschen‘, sondern einfach um die Tatsachen dieser Grausamkeit, wie sie zum Beispiel in der Judenverfolgung unter dem Nationalsozialismus, die kollektiv betrieben wurde, zu finden sind (auch wenn im Kontext des Holocausts Hilfe zum Schutz von jüdischen und anderen Verfolgten manchmal unter sehr großer Gefahr geleistet wurde). Dieses Phänomen, bei dem zwischenmenschliche Grausamkeit zum Bindeglied einer Gesellschaft wird, ist der Faschismus. Ich sehe in Kropotkins Begriff der gegenseitigen Hilfe ein Gegenkonzept zum Faschismus. Im Folgenden will ich beide Begrifflichkeiten in Bezug zum gegenwärtigen russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine setzen, um zu erörtern, inwieweit der Krieg als ein Konflikt zwischen zwei gegensätzlichen gesellschaftlichen Kräften oder Tendenzen – der gegenseitigen Hilfe und dem Faschismus – verstanden werden kann. Ich denke, es wäre falsch, diese gesellschaftlichen Kräfte oder Tendenzen zu verdinglichen oder zu personifizieren und ihnen dann den Namen ‚Ukraine‘ (für gegenseitige Hilfe) bzw. ‚Russland‘ (für Faschismus) zu geben, auch wenn ich argumentiere, dass die gegenwärtige ukrainische Gesellschaft in hohem Maße gegenseitige Hilfe praktiziert und die gegenwärtige russische Gesellschaft mehrheitlich oder zumindest ihr Staat faschistisch ist. Außerdem hängt das moralische Übel der Invasion nicht von dieser Interpretation ab. Ich hoffe trotzdem, dass die folgende Analyse eine bestimmte Dimension dessen, was in diesem Krieg auf dem Spiel steht, verdeutlichen kann. Bevor ich mich zunächst Überlegungen zum Wesen des Faschismus zuwende, will ich eine Szene menschlicher Kreativität, die Angelina Kariakina in ihrem Text „Die Stadt, die sich gewehrt hat“ schildert, wiedergeben.

Kariakina erzählt von einem Festival für zeitgenössische Kunst, „Gogolfest“, das sie nach ihrer Ankunft Ende April 2019 in der zum Oblast Donezk gehörenden Stadt Mariupol bei einer Recherchereise besucht. In Kariakinas Schilderung reiht sich die Veranstaltung in eine Vielzahl von Initiativen und Projekten, die in Mariupol im Gang sind, ein und trägt zum Eindruck einer generellen Lebendigkeit der Stadt bei. So erzählt Kariakina unter anderem von einem gerade eröffneten „Regenbogenpark“ mit Tausenden von bunten Tulpen, vom Kunstzentrum TJU der Kuratorin und Aktivistin Diana Berg, von der neu gegründeten Streifenpolizei in Mariupol und von einem Investitionsforum, das später im Herbst 2019 vom ukrainischen Präsidenten in der Stadt veranstaltet wurde, und schreibt: „Auf der Fahrt durch die Stadt fällt uns auf, wie neu und sauber sie wirkt vor dem Hintergrund der üppigen grünen Bäume: die weiß gestrichenen Bordsteine leuchten in der Sonne, die Namen von Geschäften, Apotheken, Banken und Postämtern strahlen besonders hell. Selbst gewöhnliche Häuser aus Sowjetzeiten, darunter unser grauer Plattenbau, wirken wie frisch gestrichen. Ende April sieht vermutlich immer alles sauber und hell aus. Aber mein Eindruck ist nicht falsch: Hier wird wirklich ständig etwas eröffnet, gebaut, gestrichen.“ (98–99) Trotz des Krieges, der weiter in den Vororten Mariupols im Donbas ausgetragen wird, spricht Kariakina von einer „Blütezeit des Ruhms von Mariupol, einer Stadt der Hoffnung – der Hoffnung, dass es möglich ist, sich vor dem Krieg zu schützen, den Donbas wieder aufzubauen, in Freiheit und Sicherheit zu leben“ (98) und darüber, dass die Industriestadt, „die, wenn auch noch nicht den Krieg, so aber schon die Angst besiegt hat“, zu einer Wahlheimat für viele Menschen wurde. (99) Beim „Gogolfest“ fasziniert Kariakina ein „Kran-Ballett“, das am Dock der Asow-Werft aufgeführt wird: „Um uns herum riesige Hafenkräne, die sich im Takt zu einer Musik bewegen. […] Die Industriegiganten werden von den Arbeiterinnen des Werks gesteuert – nur sie wissen, wie man sie zähmt. […] Nach dem Ballett beginnt die Oper: biblische Motive, Wiedergeburt. Dutzende Künstler tanzen und singen in dem mit Wasser gefüllten Dock, zum Schluss wird ein riesiges Kreuz auf der Bühne aufgestellt. Es soll die Wiedergeburt symbolisieren.“ (100) Die völlige Zerstörung Mariupols sowie anderer ukrainischer Städte durch das russische Militär symbolisiert den Vernichtungswillen der Angreifer im gegenwärtigen Krieg. Das „Spektakel [dieses] großen Albtraumkrieges“ (17), das für die russische Bevölkerung aufgeführt wird, „wird“, so Mishchenko in „Spiegel der Seele“, „durch eine ‚kleine‘ Geschichte, die ich im Oktober las, gut illustriert: In Liman [einer Stadt im Oblast Donezk, die Anfang Oktober 2022 von der ukrainischen Armee von der russischen Besatzung befreit wurde] stahl ein russischer Soldat eine Überwachungskamera aus einem Haus, und nach einiger Zeit sahen die Besitzer das Bild, das sie übertrug, wieder – es kam aus einer Wohnung in Burjatien [einer russischen Republik]. In diesem Krieg zu kämpfen, bedeutet unter anderem, sich die gestohlene Sicht und den eigenen Blick auf die Welt zurückzuholen.“ (18) Wie lässt sich diese Passage entziffern? In „Ein schwarzer Kreis“, Mishchenkos Text zum Euromaidan, aus dem ich bereits zitiert habe, schreibt sie bezüglich der unheimlichen Bezeichnung der ukrainischen Revolution (des Euromaidans) als faschistischer Putsch von dem „Horror“, der sich „in seiner ganzen Unaussprechlichkeit“ zeige, „[w]enn die Propaganda dermaßen brutal lügt, dass man vor lauter Verzweiflung nur noch schreien kann“ (35), und geht anschließend auf die Verbindung zwischen Horror und Filmen oder Träumen, und die Funktion des Schreiens ein:

„Und wie im Film oder im Traum schwindet die Distanz zwischen dem Bild und dem eigenen Körper unbemerkt und unerwartet, vom Zuschauer kann man augenblicklich zum Protagonisten werden. Diese unüberwindbare Distanz zwischen Beobachter und unmittelbar Beteiligtem, dieser riesige Abstand, der sich kaum in Worte fassen lässt, ist mir immer noch unbegreiflich. Wohl deshalb wird in Horrorfilmen so oft geschrien – die Realität lässt sich nicht ausdrücken, die Stimmbänder übernehmen das, wozu die Beine nicht in der Lage sind, man versucht, sich denen zu nähern, von denen Mitgefühl und Hilfe zu erwarten ist.“ (35)

Der unartikulierte Schrei, dessen „Inhalt nicht nur nicht repräsentierbar ist, sondern stattdessen eine Alternative zur Repräsentation einsetzt und verkörpert“ (preface ix), wie der Philosoph Fred Moten im Kontext rassistischer Gewalt während und nach der Sklaverei in den Vereinigten Staaten schreibt, schafft, indem er sich verbreitet, einen Bereich, in dem das Subjekt, dessen Körper den Schrei erzeugt hat, sozusagen haust. Er bezieht die Umgebung mitein.

Der Raub körperlicher Autonomie ist ein Wesenszug des Faschismus. Stanislaw Assejew berichtet in seinem Text „Meine Idee von Gerechtigkeit“ von seiner Gefangenschaft in der Folteranstalt Isoljazija in der sogenannten Donezker Volksrepublik, die von pro-russischen Separatisten auf dem Territorium eines ehemaligen Werks für Isoliermaterial (‚Isoljazija‘ bedeutet ‚Isolation‘) errichtet wurde, in der er zweieinhalb Jahre von 2017 bis 2019 gefangen war. Assejew schildert:

„Hunderte von Aussagen und Fotos beweisen, dass die Isoljazija ein System ist, ein Mechanismus zur langsamen und planmäßigen Vernichtung der menschlichen Persönlichkeit: Folter durch Stromschläge – die Drähte werden hier an den Genitalien der männlichen und an den Brustwarzen der weiblichen Gefangenen befestigt –, Vergewaltigung, Prügel, Sklavenarbeit, Erniedrigung, auch die Tötung von Gefangenen kommt vor (was in manchen Fällen wie ein Akt der Barmherzigkeit wirken mag). Die ausführenden Organe dieses von den Separatisten unterhaltenen Foltersystems sind Psychopathen, Menschen, die zu keinerlei Mitgefühl fähig sind und eine sadistische Freude empfinden, andere zu quälen.
Acht Jahre lang hat sich die internationale Öffentlichkeit dafür nicht interessiert.“ (193)

Ich glaube, es ist nicht hilfreich, Kategorien wie die des „Psychopathen“ oder verfestigte Konzeptionen von „sadistische[r] Freude“ zu gebrauchen, um über die Verantwortung der Täter nachzudenken.[11, siehe Anhang 2] Es macht an der Stelle, finde ich, mehr Sinn, von fehlenden Netzwerken zu sprechen, durch die sowohl der Akt der Folter als auch das Desinteresse der internationalen Öffentlichkeit an diesem Verbrechen zuerst möglich werden. Dieser Anschauung liegt die Überzeugung zugrunde, dass die Macht, etwas zu tun, oder ein solches Vermögen durch Netze, die wir um uns herum schaffen (oder nicht), herausgebildet wird und dass auf welchen Wegen diese Netze gebildet werden teilweise von unserer individuellen Psychologie, unseren neurologischen Strukturen oder schlicht von unseren Hormonen abhängt. Der Verstand spielt nach der Auffassung nicht die Rolle eines abstrakten Wissens oder willenlosen Begreifens, sondern besteht als Grundlage und Instrument, um sich zu dem Punkt zu bringen, wo man auf eine gewisse Weise handelt (oder mit einer bestimmten Handlung – wie dem Foltern – aufhört). Mit welcher Begründung verurteilen wir als Gesellschaft solche Verbrechen wie Folter? Wenn es stimmt, dass es bei Demokratie um nicht-brutale Formen des Zusammenlebens geht, stellt sich die Frage, welche Handlungen nicht-brutal sind. Nicht-brutale Handlungen sind Handlungen gegenseitiger Hilfe und solche, die dazu beitragen, einen Rahmen zu schaffen, in dem gegenseitige Hilfe geleistet werden kann. Die Menschen, die in der Isoljazija und anderen Gefängnissen andere Menschen foltern und peinigen, begehen Verbrechen, indem sie den unveräußerlichen Ausdruck des Seins eines Wesens (des Opfers), den subjekiven Raum, der zum Beispiel durch einen Schrei erzeugt wird, für die Zwecke ihrer verantwortunglosen Seelenökonomie missbrauchen – so wie es auch auf der Ebene imperialer Propaganda geschieht, wenn Russland/der russische Staat das Bild einer faschistischen Ukraine benötigt, um mit sich selbst klar zu kommen – und ‚dabei‘ unglaubliche Schmerzen zufügen. Weil sich faschistische Gewalt in erster Instanz häufig in Form von unrechtmäßigen Enteignungen manifestiert, ist eine wichtige Antwort auf den Faschismus die Behauptung des Rechts auf Eigentum: auf einen „eigenen Blick“ (Hevorhebung von mir, LR), wie Mishchenko schreibt, darauf, dass die Infrastukturen, Gebäude und Gemeinschaften, die dafür errichtet wurden, die Leben derer, die sie bewohnen und ihnen angehören, zu erhalten und zu bewahren, verschont, intakt, heil bleiben, auf Selbstbestimmung über den eigenen Körper und auf Schutz vor Terror. Im Kampf gegen den Faschismus geht es also um den Erhalt der Fähigkeit, einen Hilfeschrei, wenn er ertönt, zu hören, und um die Arbeit, Narrative, die absichtlich unsere Sicht auf Leid verstellen wollen, aus dem Weg zu räumen. Es geht um die Würde.[12]

Wie erkennen wir, dass jemand Hilfe braucht? Einerseits darf keine so radikale Differenzierung zwischen mir und der hilfsbedürftigen Person stattfinden, dass ich nicht mehr begreife, dass die Person ‚meinesgleichen‘ (also zum Beispiel leidendes Wesen) ist. Andererseits muss ich eine gewisse Distanz zu ihr haben, um zu verstehen, dass ihr Leid nicht mein Leid ist, dass ich mich um eine andere Person bemühe. Die Oszillation zwischen diesen beiden Punkten ist der gegenseitigen Hilfe eingeschrieben. Wenn wir uns mit Beispielen gegenseitiger Hilfe und Unterstützung seitens der Ukrainer*innen im Laufe des Krieges beschäftigen, finden wir Kooperation zum Zweck die Evakuierung der Zivilbevölkerung, der Verteilung von humanitärer Hilfe, des Widerstandes gegen die russische Besatzung, der militärischen Verteidigung des Landes durch die ukrainischen Streitkräfte sowie weitere Formen gegenseitiger Hilfe. Wenn wir uns mit Werken gegenseitiger Hilfe und Unterstützung seitens des russischen Staates und des russischen Militärs beschäftigen, finden wir Kooperation zum Zweck der Unterwerfung, Terrorisierung und Vernichtung. Meine Definition von nicht-brutalen Handlungen als Handlungen gegenseitiger Hilfe halte ich dennoch für richtig, da der Nutzen und die Bedeutung der erstgenannten Formen gegenseitiger Hilfe unmittelbar in den Beziehungen der Beteiligten lokalisiert sind, während die zuletzt genannten Formen ‚gegenseitiger Hilfe und Unterstützung‘, wie sie vom russischen Staat/dem russischen Militär verübt werden, keinerlei Immanenz besitzen. Außerdem kreiert eine Situation, in der sich Menschen zum Kampf gegen ihre Unterwerfung entschließen, ein Umfeld, in dem andere ihnen helfen und sie unterstützen können, wie es viele Staaten, zivilgesellschaftliche Organisationen und Privatpersonen in Form von militärischer, humanitärer und finanzieller Unterstützung für die Ukraine tun. Das Besondere bei gegenseitigen Hilfeleistungen ist, dass in vielen Fällen nicht unterschieden werden kann, wer Hilfe leistet und wer Hilfe empfängt (so helfen wir den Ukrainer*innen, indem unser Staat Waffen an die Ukraine liefert, doch verteidigen die ukrainischen Soldat*innen auch unsere Freiheit; das Gleiche lässt sich bezüglich des Euromaidans sagen, bei dem die Protestierenden, die dauerhaft den Maidan in Kyiv besetzten, die Interessen derjenigen, die ebenfalls eine Demokratisierung ihres Landes herbeisehnten, aber nicht selbst auf dem Maidan sein konnten, vertraten, und gleichzeitig von deren Unterstützung durch Sach- und Geldspenden und anderen Hilfeleistungen abhängig waren; wenn Mishchenkos Mann, wie sie erzählt, davon spricht, dass „[h]eute [während des Krieges] […] die ganze Ukraine der Maidan“ sei ( „Spiegel der Seele“ 16), dann will er, denke ich, auf etwas Ähnliches hinaus).

Mit welchen Mitteln können wir gegenseitige Hilfe leisten? Die Historikerin und Journalistin Anne Applebaum berichtet in ihrer Reportage „The Other Ukrainian Army“ („Die andere ukrainische Armee“) vom Sommer 2022 von der Freiwilligenbewegung, den ‚volonteri‘, in Odessa, einer Stadt im Süden der Ukraine. Sie erzählt unter anderem von einem Verteilungszentrum für humanitäre Hilfe, das die Geschäftsfrau Natalia Bogachenko in einem Schulzimmer eingerichtet hat; von Dmytro Milyutin, einem Parfümhändler, der in seinem Laden Rucksäcke und andere Dinge, die er für die ukrainische Armee beschafft (wozu er ein Fünftel seiner Parfümsammlung verkaufte und ein Darlehen aufnahm), lagert; vom Ukrainischen Freiwilligendient, der von Anna Bondarenko ins Leben gerufen wurde, um Menschen, die Hilfe brauchen, mit Menschen, die Hilfe leisten wollen, zu vernetzen; von der vom ukrainischen Skulpteur Mikhail Reva gegründeten Reva Foundation, die normalerweise künstlerische Bildung und Stadtgestaltung in der Ukraine finanziert und jetzt Erste-Hilfe-Kästen für ukrainische Soldat*innen bereitstellt; und den „Spinnenladies“, eine Gruppe von Frauen, die mithilfe der finanziellen Unterstützung eines Blumenhändlers nach der Arbeit, oder wenn ihre Kinder in der Schule sind, spezielle Tarndecken und -anzüge für Scharfschütz*innen im ukrainischen Militär nähen. Alle diese Bemühungen verbindet, dass Menschen sich überlegen, wie sie das, was sie haben, ihre Fähigkeiten, Kompetenzen oder ihren Besitz, für einen sinnvollen Zweck – die Verteidigung ihres Landes – einsetzen können. Dies setzt voraus, dass die Menschen nicht komplett mittellos sind, sondern über Ressourcen verfügen, auf die sie zurückgreifen können. Applebaum spricht von dem „anarchischen, spontanen Charakter“ („anarchic, spontaneous character“), den zivilgesellschaftliches Handeln in Reaktion auf Krisen und Notfälle annehmen kann. In seinem Buch „Mutual Aid: Building Soldarity During This Crisis (and the Next)“ („Gegenseitige Hilfe: Wie man Solidarität während dieser Krise (und der nächsten) aufbaut“) schreibt Dean Spade, dass gegenseitige Hilfe „inherently antiauthoritarian“ (16), „von seinem Wesen her anti-autoritär“ ist. Snyder meint, dass eine freie Gesellschaft ein gewisses Maß an Gleichheit brauche und dass Freiheit deshalb eine Form der Umverteilung erfordere (00:46:06–00:46:15). Ich denke, dass das Konzept und die Praxis gegenseitiger Hilfe, die ich im Herzen von Demokratie verortet habe, eine Aporie, die einem bestimmten Begriff von Demokratie innewohnt, erhellen können, nämlich jene, dass bei formaler Gleichheit vor dem Gesetz sozioökonomische Ungleichheiten den Effekt haben, dass verschiedene Personen oder Gruppen in der Gesellschaft nicht dieselben Handlungsmöglichkeiten besitzen und einige in Abhängigkeit anderer leben. Gemäß der Logik gegenseitiger Hilfe, die ich vorschlage, kommt es darauf an, Strukturen zu schaffen, die allen Menschen ermöglichen, Handlungsfähigkeit auszubilden.

Nicht nur Umverteilungsgerechtigkeit, sondern auch psychologische Unterstützung spielen eine wichtige Rolle, wenn es darum geht, einander zu befähigen, zu handeln. Yaroslav Minkin, Gründer der Jugendorganisation STAN, die seit Beginn des Krieges ihren Fokus auf Hilfsarbeiten, die mit dem Krieg zu tun haben, gelegt hat, erzählt (im Podacst „The Response: Wartime Mutual Aid in Ukraine“ („Die Antwort: Gegenseitige Hilfe in der Ukraine während des Krieges“)) von „frustrierten, gestressten, und sogar traumatisierten“ (alle Übersetzungen aus dem Transkript von mir, LR) Binnenvertriebenen, die, wenn sie in ihren Notunterkünften ankommen, „einfach nur nichts tun wollen. Das ist […] so eine traumatisierte Reaktion auf die Realität. Aber verschiedene Expert*innen sagen, dass, umso früher die Person Arbeit findet – es geht dabei nicht um‘s Geld, sondern um irgendeine Form von Beschäftigung –, umso besser die Person sich fühlt. Und das ist der erste Schritt im Kampf gegen das Trauma.“ Minkin sagt weiter, dass sie „ein System schaffen wollen, in dem Menschen einer sozialen Tätigkeit nachgehen“, wie zum Beispiel Kochen (für sich und andere), Stricken, Putzen, oder egal was, und dass „die Notunterkunft nicht der Ort sein sollte, an dem die Menschen einfach nur da bleiben und nichts tun.“ Aus Minkins Schilderung geht hervor, dass schon allein die Aktion, eine andere Person auf die Idee zu bringen, dass sie Initiative ergreifen kann, der Person helfen kann, tätig zu werden: „Wir bitten sie darum, damit anzufangen, für sich selbst zu kochen, nicht auf Frühstück, Abendessen, Mittagessen zu warten. Du braucht saubere Kleidung. Warte nicht darauf, dass dir jemand Neue gibt. Geh‘ einfach. Das ist eine Waschmaschine. Bitte benutze sie. Bitte gehe zu Treffen, bitte, ich weiß nicht, les‘ Bücher, distkutiere, irgendetwas. Bleib‘ nicht die ganze Zeit am Handy. Verfolge nicht jede Nachricht über deine Stadt. Du kannst die Situation nicht ändern. Du kannst die Realität nicht ändern, aber du kannst deine Rolle in der Realität ändern.“

„Wie eine Kolonie von Bienen“ (Felip Daza Sierra 6), „Wir handeln wie eine Kolonie von Ameisen“ (Pavlo Kaliuk, Mitglied der selbstorganisierten Gemeinschaft Podolianochka in Kyiv; ebd. 14): diese Tiervergleiche, die die solidarischen Bande, die Zusammenarbeit, den Sinn für die Gemeinschaft und den Aufopferungswillen der ukrainischen Gesellschaft herausstellen sollen, fänden gewiss Anklang bei Kropotkin, der sehr vom Mut, Verstand und „geschäftigen und arbeitsamen Lebe[n]“ der Ameisen (33) und der Arbeitsteilung und Flexibilität der Bienen (35) schwärmt. Der Soziologe Felip Daza Sierra bezieht seinen Vergleich auf die Organisierung von „Hunderten von gewaltlosen Aktionen, von Handlungen zivilen Ungehorsams bis hin zum Schutz und der Evakuierung von Zivilist*innen“ durch die ukrainische Gesellschaft (6, alle Übersetzungen aus dieser Quelle von mir, LR), die er in seiner Studie „Ukrainian Nonviolent Civil Resistance in the face of war“ („Ukrainischer Gewaltloser Widerstand im Angesicht des Krieges“) in der Zeitspanne vom 24. Febuar bis 30. Juni 2022 untersucht. Sierra spricht vom „lebendigen sozialen Gewebe [vibrant associative fabric] der selbstorganisierten Gemeinschaften und Organisationen für Menschenrechte, Vermittlung und Dialog zur Konflikttransformation“ in der Ukraine, „den informellen Netzwerken von Macht auf der lokalen Ebene“ und „mehr als 100 Jahre Erfahrung in gewaltlosem Widerstand [des Landes]“, die zusammen „zum Teil den ‚spontanen‘ und weitverbreiteten gewaltlosen zivilen Widerstand in der Frühphase der russischen Invasion“ erklären können. (4) Er zeigt auf, dass, was wir als ‚spontane‘ Handlungen erachten, sich oftmals wie Musik zu den Rillen und Einkerbungen in einer Schallplatte, über die die Nadel fährt, verhält, dass Spontanität die Eingravierungen durch Erfahrungen und Gruppendynamiken benötigt. Außerdem stellt er die Macht von gewaltlosen Handlungen in bestimmten, lokalen Kontexten wie in Slavutich, einer nordukrainischen Kleinstadt, wo Einwohner*innen gegen die russische Besatzung demonstrierten und die Freilassung ihres Bürgermeisters erreichten (vgl. S. 18), und in vielfältigen Anwendungsgebieten dar. Ein Purismus der Gewaltlosigkeit widerspricht allerdings den empirischen Fakten von der realen Vermischung und Verflechtung von gewaltlosen und gewaltsamen Methoden. So schreibt Sierra einerseits, dass es „essentiell“ (26) sei, den Unterschied zwischen bewaffnetem und gewaltlosem Widerstand im Kopf zu behalten („Während [bewaffneter Widerstand] die Gefährdung des Lebens und der Gesundheit des Gegners einsetzt, versucht Gewaltlosigkeit, den moralischen und psychologischen Zustand des Gegners zu beeinflussen.“ (26)), und dass „die Wirksamkeit von Gewaltlosigkeit [davon abhängt], diese zwei Strategien auseinanderzuhalten“ (26), doch erkennen wir ihr Zusammenspiel, wenn zum Beispiel, wie Sierra auch schreibt, die täglichen Demonstrationen in (ehemals) besetzten Städten wie Cherson durch die Bindung von russischen Truppen und Polizeieinsatzkräften die russische Arme in ihrer „Fähigkeit, Truppen im Osten zu mobilisieren und Verteidigungsstellungen außerhalb der Städte zur Abwehr von Angriffen der Ukrainischen Streitkräfte zu errichten,“ einschränkten. (25) Ferner erwähnt Sierra die Begrenztheit des Anwendungsgebiets gewaltlosen Widerstands angesichts von Situationen und Kontexten wie in „Mariupol oder westlichen Ortschaften von Kyiv, Irpin oder Butscha, oder Kleinstädten von Tschernihiv und Sumy, wo gewaltloser ziviler Widerstand aufgrund des hohen Grads an Gewalttätigkeit, die von russischen Truppen ausgeübt wurde und schreckliche Massaker der Zivilbevölkerung zur Folge hatte, nicht organisiert werden konnte.“ (28) Oder wie es Chapeye, der das Buch Satyagraha von Mahatma Gandhi, einem wichtigen Vertreter der Gewaltlosigkeit, ins Ukrainische übersetzte, durch eine Analogie auf den Punkt bringt: „Gegen Putins Raketen wird Satyagraha nicht funktionieren. Gandhi konnte Hitler mit seinen Briefen nicht überzeugen.“ (59) Der Irrtum des absoluten Gewaltlosigkeitsanspruchs liegt in der fehlenden Wahrnehmung der Bedrohungslage derjenigen, die sich als zukünftige Opfer im Mittelpunkt, im Auge eines geplanten Genozids, in dem wechselseitige Abhängigkeit den Zweck der strategischen Vernichtung von Singularitäten angenommen hat und in dem Mittel zur Verhinderung dieses Zwecks, sei es durch psychologische Einflussnahme, die Errichtung von Barrikaden und Straßenblockaden, um das Militärgerät des Angreifers aufzuhalten, oder die Tötung des Personals, das mit dem Genozid beauftragt ist, gefunden werden müssen, befinden. Eine ernsthafte Militarismuskritik muss aufmerksam für die Gelegenheiten und Öffnungen, in denen die Möglichkeit für Konflikttransformation, Vermittlung oder, was in der Literatur ‚Verbrüderung‘ [fraternization] genannt wird[13], tatsächlich besteht, wobei deren Ziel im vorliegenden Fall das Ende der russischene Aggression gegen die Ukraine sein muss, und dazu wachsam hinsichtlich der Entstehung eines militaristischen ‚Mindsets‘ sein (so sollte die langfristige Zukunftsvision nicht die einer (hoch-)militarisierten Ukraine, die ihre Grenzen nun gegen ein unvermindert aggressives Russland verteidigen kann, sondern die eines nicht-aggressiven Russlands, vor dem sich seine Nachbarn nicht fürchten müssen, und friedlicher Beziehungen sein). Die Skepsis gegenüber jedwedem bewaffneten Widerstand führe ich auf Vorurteile gegenüber dem Militär zurück. Sierra schreibt: „Gewaltlosigkeit versteht, dass sich hinter diesen Konflikten politische und militärische Entscheidungsträger*innen befinden, deren Entscheidungen von den niederen Rängen in der Befehlskette gehorsam ausgeführt werden.“ (7) Die Assoziation des Militärs mit Herrschaft folgt einer Tradition, die die Ukraine nicht in sich begreift. Ich glaube, dass das Bild einer hierarchischen Befehlskette, das Sierra evoziert, die Vorstellung von Kämpfer*innen als ‚Exekutivorgane‘, die die Befehle ihrer vorgesetzten Kommandeur*innen bloß mechanisch ausführen, ohne dass ihrer Intelligenz dabei eine Bedeutung zukommt, konnotiert. Die freiwilligen Soldat*innen im ukrainischen Militär zeigen hingegen, dass einem gemeinsamen Zweck zu dienen eine Form der Verlebendigung sein kann. Das Vertrauen in die Werte, für die die ukrainischen Soldat*innen, dem Prinzip des Lebens gehorchend, kämpfen – Freiheit, Würde, ihre Familien, ihr Land –, und das Vertrauen ineinander, das, nach Kropotkin, die „erst[e] Bedingung für Tapferkeit“ ist (34), erlauben eine Bindung, die unteilbar ist. So auch die Einheit des Denkens und der Vermischung mit allem Sein und Lebenden, die immer dort anzutreffen ist, wo Gerechtigkeit gesucht wird. Der Wirbel der Geschehnisse und Tragödien, die die jüngste Geschichte der Ukraine markieren, die Verletzungen und Tode hervorgerufen haben, für die die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden müssen, muss sich schließen, indem ein ukrainischer Sieg bewerkstelligt wird, indem diejenigen, die sich der Freiheit der Ukrainer*innen, der Freiheit grundsätzlich, und der gegenseitigen Hilfe verpflichtet fühlen, als Teil eines Organismus, der durch seine Glieder atmet – wobei dem ‚Übergeordneten‘ keine separate Existenz zukommt –, und im Geiste der Unbeugsamkeit der Schwächsten – also jener, die am meisten zum Zusammenhalt der Gesellschaft beitragen, indem sie zufällig die Falten höchster Prekarität bewohnen und darin Beziehungen, die alle tragen, knüpfen müssen – dafür kämpfen. Unsere Gedanken sollten oft bei denen, die in diesem Kampf die größten Risiken auf sich nehmen und die größten Opfer bringen, gegenwärtig und seit Jahren die ukrainischen Soldat*innen an der Front, sein, im Wissen, dass, was sie tun, demselben gesellschaftlichen Drang folgt, den wir zum Beispiel aus Gesprächen mit Freund*innen und Fremden oder mit uns selber kennen und den die Soziologin Oksana Dutchak in „Das Haus, in dem eine Frau wohnt“, einem Text, in dem sie über ihre Erfahrungen der Flucht und des Asyls in Deutschland und die besondere Situation von Frauen und Frauen mit Kindern berichtet, in den folgenden Worten schildert: „Wenn wir über die Arbeit, die Familie, den Alltag, Filme oder Bücher reden, uns im Park treffen, telefonieren oder Nachrichten austauschen, scheint es, als würden wir zwischen uns Fäden spinnen.“ (93)

[7] Der englische Originaltitel des Buchs lautet Mutual Aid: A Factor of Evolution.

[8] Siehe Anhang 1 für eine kritische Auseinandersetzung mit der radikalen Trennung zwischen menschlicher Freiheit und der Freiheit anderer Tiere, die Snyder im zitierten Vortrag „Why Freedom Matters More Than Everything“ bzw. in der anschließenden Fragerunde vornimmt.

[9] Es nimmt wunder, dass Kropotkin, der in seinem Buch respektvoll über die Organisierung des gesellschaftlichen Lebens der ‚Barbaren‘ in Dorfmarken schreibt, hier das Wort ‚barbarisch‘ benutzt, um einen Tiefpunkt in der europäischen Geschichte zu bezeichnen.

[10] Vergleiche zum Beispiel S. 116–117: „Indessen waren zu keiner Zeit der Existenz von Menschen Kriege der normale Zustand des Lebens. Während die Krieger sich gegenseitig ausrotteten und die Priester ihre Gemetzel segneten und feierten, während dessen setzten die Massen ihr tägliches Leben fort, gingen ihrer täglichen Arbeit nach. Und es gehört zu den interessantesten Aufgaben des Studiums, diesem Leben der Massen nachzugehen; die Mittel zu erforschen, durch die sie ihre eigene soziale Organisation aufrecht erhielten, die sich auf ihre eigenen Vorstellungen von Gleichheit und gegenseitiger Hilfe gründeten[.]“ Oder S. 119: „Die alten Chronisten verfehlten nie, die kleinen Kriege und Unglücksfälle zu berichten, mit denen ihre Zeitgenossen sich quälten; aber sie schenkten dem Leben der Massen nicht die geringste Aufmerksamkeit, obwohl die Massen hauptsächlich friedlich zu arbeiten pflegten, während die Wenigen im Streit lagen.“

[11] Siehe Anhang 2 für einen Exkurs zu Hannah Arendts Eichmann in Jerusalem zur Entwicklung einer Fundamentalkritik am Gebrauch von Konzepten wie denen der Psychopathie oder des Sadismus bei der Besprechung von (politischen) Verbrechen.

[12] Der Euromaidan wird auch als „Revolution der Würde“ bezeichnet.

[13] Nataliya Gumenyuk gibt in ihrem Text „Nach der Besatzung“ eine Geschichte wieder, die als ein Beispiel für eine anfängliche Form von ‚Verbrüderung‘ gewertet werden kann, sofern es bei ‚Verbrüderung‘ darum geht, durch psychologische Einflussnahme (zum Beispiel durch das Einreden, Erklärungen oder die Konfrontation mit Fakten) andere ‚für sich zu gewinnen‘ und von einer gewaltsamen Handlung abzubringen oder ein empathisches Band mit ihnen zu knüpfen, wobei die Geschichte auch die Gefahren eines solchen Versuchs aufzeigt. Sie stammt von einer Frau, die während der russischen Besatzung zusammen mit dem Rest der Dorfbevölkerung für knapp einen Monat im Keller der Schule von Jahidne, einem Dorf an der Grenze zu Belarus, gefangen gehalten wurde. Sie erzählt von einer Unterhaltung mit einem der Besatzer: „Einer von denen kommt zu meinem Mann, steht da und heult: Mein Bruder ist gestern hier umgebracht worden, sagt er. Ich gehe zu ihnen und sag ihm: Guter Mann, wer hat euch denn hergebeten? Warum seid ihr gekommen, du und dein Bruder? Haben wir euch etwa eingeladen? Dein Bruder wurde umgebracht, aber ja wohl nicht von uns beiden. Das mal als Erstes. Zweitens: Warum seid ihr überhaupt hier? Sind wir etwa nach Russland gekommen und haben euch umgebracht? Alles bombardiert und zerstört? Was wollt ihr von uns? Was haben wir euch getan? Ich stehe hier, abgebrannt. Einen Monat lang konnte ich nicht mal die Unterwäsche wechseln, ich als Frau. Bin ich etwa gekommen und habe deine Mutter angezündet? Nein, sage ich ihm, du bist hergekommen und hast alles verbrannt und zerstört. Ich bin jetzt obdachlos, mit siebzig. Ich hatte ein normales Leben, reich war ich nicht, aber ich hatte einen Teppich, Geschirr, Kühlschrank, Fernseher. Und du stehst da und heulst. Das habe ich ihm alles gesagt und gedacht: Soll er schießen. Aber er hat sich nur eine Zigarette angezündet und ist gegangen.“ (113–114)

5. Schluss

Die Autorin Katja Petrowskaja erzählt von folgender Episode, die sich während der Euromaidan-Proteste zutrug:

„Ein Freund von mir hat vor knapp einer Million Menschen sprechen dürfen. Er sah die Masse und es verschlug ihm den Atem. Und dann zitierte er Hegel, vor einer Million Menschen in Kiew. Nachdem Hegel mit eigenen Augen Napoleon Bonaparte auf den Straßen von Jena gesehen hatte, schrieb er begeistert, er habe ,den Weltgeist zu Pferde‘ gesehen. ,Der Weltgeist, das seid jetzt ihr, der Maidan‘, rief mein Freund. Und der Maidan jubelte. (45)

Ein ähnlicher Gedanke wird Chapeye in einer Nacht während seines Militärdienstes besuchen:

„Vielleicht liegt es am Schlafmangel, aber während einer Nachtwache hatte ich den Eindruck, dass wir uns gerade in einer Zeit und an einem Ort befinden, wo von uns buchstäblich die Zukunft des Planeten abhängt.“ (62)

Ich denke, dass die zentrale Rolle, die die Ukraine momentan in den Geschicken der Welt oder des Planeten spielt, nicht exklusiv ist, dass es daneben andere Akteur*innen gibt, die unter großer Gefahr und trotz immenser Risiken für eine nicht-brutale Zukunft kämpfen und von deren Erfolg oder Scheitern die Weichenstellung der Schicksäle und Leben unzähliger Wesen, auch unserer, abhängt, aber in diesem Text wollte ich spezifisch über Facetten des ukrainischen Freiheitskampfes, wie sie sich im Netz dieser drei Konzepte – des zivilen Ungehorsams, des freien Willens und der gegenseitigen Hilfe – zeigen, schreiben. Angesichts der Heraufkunft zahlreicher Faschismen sind die Lehren, die die Geschichte und Gegenwart von sozialen Bewegungen in der Ukraine bereithalten, überlebensnotwendig. Ich bin in meiner Darstellung nicht explizit auf die Zusammenarbeit von Staat und Zivilgesellschaft eingegangen, auch wenn ich diese als eine positive Entwicklung der ukrainischen Politik wahrnehme.[14] Was ich, hoffe ich, deutlich gemacht habe, ist die Autorität jedes Gesellschaftsmitglieds, eine Autorität, die es umso mehr in Wort und Tat zu praktizieren gilt, umso mehr in einer desintegrierenden Gesellschaft, in der aufgrund von Ohnmachtserfahrungen oder -gefühlen jede Verflechtung mit anderen nunmehr als Unterdrückung empfunden wird, das Verlangen nach einer Instanz, die alle Autorität abnehmen bzw. wegnehmen und zentralisieren könnte, nach einem*einer faschistischen Machthaber*in wächst. Denn Autorität ist, wie der Autoritarismus auch, ansteckend. Des Weiteren ist im Hinblick auf die anhaltende Klimazerstörung eine robuste Einrichtung für gegenseitige Hilfe unentbehrlich. In erster Linie muss jedoch die Sorge um die einzigartigen Wesen, die dem gegenwärtigen Krieg und der russischen Besatzung zum Opfer fallen, den Willen hervorrufen, die Unterstützung für die Ukraine zu radikalisieren.

[14] Für eine Darstellung und Diskussion der Zusammenarbeit der Zivilgesellschaft und lokalen und staatlichen Behörden in der Ukraine siehe Nataliia Lomonosova: „Civil Society in Ukraine: Cooperation between Ukrainian CSOs and local and state authorities.“ In: Contested Civic Spaces: A European Perspective. Hg. von Siri Hummel und Rupert Graf Strachwitz. Berlin und Boston: De Gruyter Oldenbourg, 2023. S. 71–86.

6. Anhang

Anhang 1 (siehe Fußnote 8 im Text):

Snyder sagt, dass ihm Leute wichtig sind („I care about people.“ (00:53:48–00:53:50). „Aber warum sind mir Leute wichtig?“ (00:53:50–00:53:52) fragt er – „Mir sind Leute wichtig, weil sie Menschen sind.“ (00:53:52–00:53:54) Snyder definiert das Menschsein über die Kapazität für Freiheit (er sagt, es sei „das Menschlichste an uns“ (00:53:56–00:53:58)) und findet wichtig, dass wir „uns nicht wie andere Kreaturen, die getötet werden können, oder wie andere Dinge in der Welt, die aufgehalten werden können, betrachten.“ (00:53:29–00:53:38) Warum unterscheidet er  zwischen „uns“ und „andere[n] Kreaturen“? Snyder behauptet, dass „es […] Gründe [gibt], warum wir leben wollen, die über unsere bloße biologische Existenz hinausgehen.“ (00:53:38–00:53:47) Er formuliert seine Gedanken als Antwort auf die Frage einer Zuhörerin seiner Vorlesung, in der es offenbar um das Verhältnis zwischen Freiheit und Leben geht (die Frage wurde auf Ukrainisch gestellt; mir liegt keine Übersetzung vor). Snyder sagt zunächst, dass er keinen Gegensatz zwischen den zweien aufstellen würde, „weil ich Freiheit nicht außerhalb der Kategorie des Lebens denken kann. Deswegen ist die Frage für mich, was der höchste Wert des Lebens ist.“ (00:52:19–00:52:34) Und er sagt später, dass „Freiheit der Wert des Lebens ist“ (00:52:58–00:53:00). Vielleicht können wir darauf fußend sagen, dass Freiheit das ist, was das Leben lebenswert macht. Für Snyder würde eine Gleichstellung menschlicher Freiheit und der Freiheit nicht-menschlicher Tiere (und wohl auch eine Gleichstellung menschlichen Lebens und nicht-menschlichen ,tierlichen‘ Lebens) allerdings eine Entwertung des Menschen darstellen. Diese Ansicht zeitigt eine doppelbödige Auffassung von Leben, die, meine ich, bei Snyder eine Ambiguität in der Konzeption des Verhältnisses zwischen Freiheit und Leben hervorruft und sich in seiner Verwendung des Fachbegriffs „biologische Existenz“ („biological existence“), um die Art des Daseins von Tieren zu bezeichnen, ausdrückt. Diese Verwendung ist ein Bespiel dafür, wie Fachbegriffe verwirrend sein können. Denn „biologische Existenz“ – „biologisch“ von griechisch „bios“ („Leben“) und „logos“ („das Sprechen, Wort, Vernunft, Ansicht […]“) ursprünglich zu „legein“ („sagen“), eigentlich „die Lehre vom Leben betreffend“; „Existenz“ von lateinisch „ex(-)sistere“ („heraustreten, vorhanden sein, stattfinden“) – bedeutet zusammen nichts anderes als „Leben“.[15] Meine biologische Existenz ist mein Leben. (Wenn Snyder sagt, dass er „Menschen in der Ukraine, aber nicht nur in der Ukraine, [sieht], die bereit sind, ihre biologische Existenz zu riskieren, weil sie denken, dass Freiheit oder eine andere Sache es wert ist“ (00:54:06–00:54:19), könnte er genauso sagen, dass sie ihre Leben riskieren. Demgemäß sind „Leben“ und „biologische Existenz“ Synonyme.) Wir müssten also, wenn Snyder Freiheit zusammen mit dem Menschen jenseits „bloßer“ biologischer Existenz verortet, erneut fragen, ob Freiheit außerhalb von Leben steht (eigentlich müssten wir darauf schließen). Dass Freiheit genauso eine Angelegenheit von nicht-menschlichen Tieren wie von menschlichen ist, können wir erkennen, wenn wir bedenken, dass alle Tiere Präferenzen, die sie in der Welt umtreiben und vor Entscheidungen stellen, haben, und dass es sehr wohl Sinn macht, davon zu sprechen, dass beispielsweise Tiere, die unter Bedingungen der industriellen Massentierhaltung ‚leben‘, unfrei sind. Ich will, dass Vergleiche mit anderen Tieren nicht länger als eine Herabwürdigung des Menschen verstanden werden. Mir ist bewusst, dass Personen, die auf der Basis einer entmenschlichenden Logik brutal behandelt wurden, dabei mit Sensibilität begegnet werden muss.

[15] Siehe Einträge des Digitalen Wörterbuchs der Deutschen Sprache zu „Biologie“ (https://www.dwds.de/wb/etymwb/Biologie), „bio-“ (https://www.dwds.de/wb/etymwb/bio-), „-logie“ (https://www.dwds.de/wb/etymwb/-logie) / „Logik“ (https://www.dwds.de/wb/etymwb/Logik) und „Existenz“ (https://www.dwds.de/wb/etymwb/Existenz) (zuletzt eingesehen am 22. Januar 2024).

Anhang 2 (siehe Fußnote 11 im Text):

Zuerst kann man festhalten, dass, wenn ein Mensch „zu keinerlei Mitgefühl fähig“ (Assejew 193) ist, dieser Mensch auch nicht für Handlungen, für deren Unterlassung Mitgefühl erforderlich wäre, verantwortlich gemacht werden kann. Das Konzept der Psychopathie, das im allgemeinen Verständnis eine Gruppe von Menschen bezeichnet, die ohne jegliches Mitgefühl sind, die keine Empathie empfinden können, erfüllt bestimmte soziale Funktionen, von denen die vielleicht maßgeblichste ist, eine normative Gesellschaft zusammenzubinden. Welches Verhalten von einer Gesellschaft als antisozial eingestuft wird, verändert sich mit der Entwicklung der Gesellschaft und diese Einstufung kann bisweilen ein Symptom der antisozialen Verfassung der Gesellschaft selbst darstellen. Sadistische Handlungen erfordern Mitgefühl insofern, als sie sich auf den Schmerz einer anderen Person beziehen. Das absichtliche Zufügen von Schmerzen sowie das absichtliche Zufügen von Vergnügen basieren auf dem Verständnis, dass eine andere Person diese Schmerzen oder dieses Vergnügen erleidet. Sie sind somit Ausdruck einer sozialen Beziehung. Dominanz, Unterwerfung, Kontrolle, Macht, Augenhöhe – alles sind Formen des Miteinanders, die im Spiel ausgelebt werden können, wenn alle Beteiligten dem Spiel zustimmen. So sieht eine ethische Vorschrift aus. Warum brauchen wir ethische Vorschriften? Was ist die Verbindung zwischen individuellem Handeln und einem systematisch organisierten Verbrechen? Ein lehrreiches Beispiel liefert der Nazi-Verbrecher Adolf Eichmann, der für die Organisation der Deportation deutscher und europäischer Juden in den während des Zweiten Weltkriegs von Deutschland besetzten Gebieten zuständig gewesen war und im Jahr 1961 in Jerusalem für seine Verbrechen vor Gericht zum Tode verurteilt wurde. Die politische Theoretikerin Hannah Arendt, die in ihrem Buch Eichmann in Jerusalem: Ein Bericht von der Banalität des Bösen über den Gerichtsprozess schrieb, schildert eine Erzählung, bei der Eichmann direkter Zeuge der Tötung von Juden im Todeslager von Kulmhof (Chelmno), wo jene in fahrbaren Vergasungswagen umgebracht wurden, war. „Auf die Frage, wie viele Menschen [der Lastwagen] faßte, sagte Eichmann in Jerusalem: ‚Ich weiß es nicht genau zu sagen. Ich habe nicht einmal genau zusehen können, ich habe nicht hingeschaut die ganze Zeit. Ich konnte es nicht, nicht [sic!], mir hat es genügt. Das Schreien, und, und, ich war hier viel zu erregt gewesen und so weiter. […]‘“ (173–174, zweite Einfügung („[sic!]“) von Arendt) Die Aufforderung, die das Schreien beinhaltete, war nicht selbstverständlich: sie bedurfte eines Gedankens. Nach dem Besuch einer weiteren Tötungsstätte in Minsk, wo Juden erschossen wurden, sprach Eichmann auf einer Rückreise während eines Halts in Lviv (Lemberg) zum örtlichen SS-Befehlshaber: „‚Ja, sag ich ihm, das ist ja entsetzlich, was da gemacht wird, sag ich, da werden ja die jungen Leute zu Sadisten erzogen… Wie kann man denn? Einfach dahier hineinknallen – auf eine Frau und Kinder? […]‘“ (175) Auffällig ist, dass Eichmanns Abneigung gegen die Methode nicht eine grundlegende Infragestellung des Verbrechens zur Folge hatte. Arendt schildert eine Episode „[i]m September 1941, kurz nach seinem ersten offiziellen Besuch in den Vernichtungszentren im Osten, [als] […] Eichmann seine ersten Massendeportationen aus Deutschland und dem Protektorat [organisierte]“ (182):

„Im Zusammenhang mit dem ersten großen Transport, der aus 20000 Juden aus dem Rheinland und 5000 Zigeunern [sic] bestand, ereignete sich etwas Merkwürdiges. Eichmann, der niemals eigene Entscheidungen traf, der stets außerordentlich darauf bedacht war, von Befehlen ,gedeckt‘ zu sein, der – was praktisch alle Leute, mit denen er je zusammengearbeitet hatte, immer wieder spontan bestätigten – von sich aus nicht einmal mit Vorschlägen hervortrat, sondern stets auf ,Direktiven‘ wartete, ergriff jetzt ,zum ersten Male und auch zum letzten Male‘ eine Initiative, die seinen Befehlen widersprach: anstatt diese Menschen nach Riga oder Minsk in die besetzten russischen Gebiete zu schicken, wo sie sofort von den Einsatzgruppen erschossen worden wären, dirigerte er den Transport nach dem Lodzer Getto, wo, wie er wußte, bislang noch keine Vorbereitungen für die Vernichtung eingeleitet worden waren[.]“ (182)

Auch wenn die Vorstellung, dass Eichmann zu einem Zeitpunkt Juden gerettet haben könnte, Widerwillen bei mir hervorruft, ist doch die Tatsache ein Beleg für die Verantwortung, die Eichmann für seine (anschließende) Rolle in der Organisation der Deportation deutscher und europäischer Juden in den besetzten Gebieten und damit als Teil des Mord- und Vernichtungsapparats des Holocausts trägt. Im Urteil Arendts, die sowohl die Interpretation der Verteidigung, „daß Eichmann Juden gerettet habe, wann immer er es konnte – was natürlich nicht stimmte“ (183), als auch die Auslegung des Anklägers, dass „Eichmann selbst über die endgültige Bestimmung aller Transporte befunden [habe]; daß also er darüber entschieden habe, ob ein bestimmter Transport in den Tod geschickt werden solle oder nicht – was ebensowenig stimmte“ zurückweist, „war dies doch ohne Zweifel der einzige Fall, in dem [Eichmann] wirklich versucht hatte, Juden das Leben zu retten.“ (183) Dass Eichmann selbst sich an den Vorfall nicht richtig erinnern konnte, ist ein Indiz dafür, wie wenig Wurzeln er ihn in ihm hat schlagen lassen. Arendt weiter: „Als aber nur drei Wochen später in Prag eine von Heydrich einberufene Konferenz tagte, hatte Eichmann sich bereits eines Besseren besonnen und trug folgendes vor: ‚Die SS-Brigadeführer Nebe und Rasch konnten in die Lager für kommunistische Häftlinge im Operationsgebiet [d.h. für die russischen Kommissare, die von den Einsatzgruppen an Ort und Stelle liquidiert wurden] Juden mit hineinnehmen‘, und in diesem Sinne sei er mit den Ortskommandanten ‚zu einem Übereinkommen gekommen‘.“ (183, Einfügung von Arendt) Die direkte Deportation von 50000 Juden in die Operationsgebiete der Einsatzgruppen nach Riga und Minsk, die auf der Konferenz beschlossen wurde, stellte kein Problem mehr für Eichmann dar. „Diese Gegenüberstellung“, schreibt Arendt, „gibt uns die Möglichkeit einer Antwort auf Richter Landaus Frage, die sich nahezu jedem Beobachter dieses Prozesses unmittelbar aufdrängte, auf die Frage nämlich, ob der Angeklagte ein Gewissen hatte. Die Antwort schien klar: Ja, Eichmann hatte ein Gewissen, sein Gewissen hat ungefähr vier Wochen lang so funktioniert, wie man es normalerweise erwarten durfte; danach kehrte es sich gleichsam um und funktionierte in genau der entgegengesetzten Weise.“ (184) „Normalerweise“: Wie kommt eine solche Norm zu Stande? Wie kommt es, dass bestimmte Verhaltensweisen, Praktiken, Handlungen in einer Gesellschaft geläufig werden? Arendt schreibt über den Kreis der Verschwörer um Claus Schenk Graf von Stauffenberg, der am 20. Juli 1944 ein missglücktes Attentat auf Hitler verübte, und die Distanz zwischen den Bestrebungen und Vorstellungen der Gruppe, die „[n]och im Jahre 1943, ja noch später glaubten […] ein Recht darauf zu haben, ‚als gleichberechtigte Partner‘ mit den Aliierten um einen ‚gerechten Frieden‘ zu verhandeln, obwohl sie doch alle nur zu genau wußten, einen wie ungerechten und von niemandem provozierten Krieg Hitler vom Zaun gebrochen hatte“ (190), und dem Rest der Welt. Angesichts dieser Distanz sagt Arendt, dass „man sich schwer des Eindrucks erwehren [kann], […] daß man sich kaum noch bewußt war“ – das erste „man“ bezieht sich auf Arendt und ihre Leser*innen, die die Fakten mit ihr beschauen, schließt sie in einen Kreis mit ein, während Arendt sich ab dem zweiten „man“ (in den von mir zitierten Teilen) in die Perspektive der Verschwörer hineinversetzt – „wie sehr man selbst bereits im Bann der von den Nazis gepredigten neuen Wertskala stand und wie groß der Abgrund war, der auch dieses ,andere Deutschland‘“ [gemeint ist jenes, das von den Verschwörern im Fall des Erfolgs des Attentats auf Hitler vertreten worden wäre] von der übrigen Welt trennte.“ (193) Wie hat man als Opfer des NS-Regimes seinen Terror und seine Verbrechen erlebt? Wie hat man sich als Opfer des NS-Regimes gefühlt? Will die Person das? Solche Fragen scheinen mir viel mehr dem Kern von Moral und Ethik zu entspringen als Debatten über Ideologien oder die Umkehrung und Manipulation von Wertsystemen. Die Kategorien, Figuren und Vorstellungen, in denen wir denken, sind Stützen, um Pflichten und Rechte zu organisieren. Sie zeichnen sich mitunter durch die Ausschlüsse, die sie schaffen, aus. So berichtet Arendt von Eichmanns Überraschung und anfänglichem Unbehagen, dass nicht „nur ‚Ostjuden‘“ (185), sondern auch deutsche und westeuropäische Juden und Jüdinnen von den Einsatzgruppen ermordet werden sollten und wurden. „Diese Art von Gewissen“, schreibt Arendt, „das – wenn überhaupt – gegen Mord nur rebelliert, wenn er an Menschen ‚aus unserem Kulturkeis‘ verübt wird, ist nicht mit dem Hitlerregime ausgestorben: noch heute [Arendt veröffentlichte das Buch im Jahr 1963] hält sich bei den Deutschen eine hartnäckige ‚Fehlinformation‘, derzufolge ‚nur‘ Ostjuden und Kommunisten liquidiert worden seien“, wobei „diese Art von Gewissen […] keineswegs ein Monopol bestimmter Schichten des deutschen Volkes“ sei. (185) Insofern als ein Gewissen von Gedenkstützen getragen wird, können wir uns gegenseitig helfen, Schranken abzubauen, die uns davon abhalten, manche Bevölkerungsgruppen oder Leute in den Kreis derer, gegenüber denen wir ethische Verantwortung tragen, miteinzuschließen. Wenn die letzte der drei ethischen Fragen, die ich oben stellte, „Will die Person das?“, vielleicht kindlich klingt, dann deshalb, weil der Beginn einer ethischen Beziehung immer möglich ist. „Wie also stand es um das Gewissen in Deutschland zu jener Zeit, als Eichmann frei von allen Gewissensbissen seine Verbrechen beging? Es hat einzelne gegeben, die von vornherein und ohne je zu schwanken in einer nun wirklich ganz und gar lautlosen Opposition standen.“ (192) Arendt nennt unter anderen den Schriftsteller Friedrich Reck-Malleczewen, der in seinem Tagebuch eines Verzweifelten über das NS-Regime schrieb und im Februar 1945 im Konzentrationslager Dachau starb; zwei Bauernsöhne, „die am Ende des Krieges zur SS eingezogen wurden, [mit der Begründung, dass sie lieber sterben wollen, als die Greueltaten der SS auszuführen] die Unterschrift verweigerten und zum Tode verurteilt wurden“ (192); und als einziges Beispiel der öffentlichen Kundtuung dieser „ganz und gar lautlosen Opposition“ „die Geschwister Scholl[, die] unter dem Einfluß ihres Lehrers Kurt Huber jene Flugblätter verteilten, in denen Hitler nun wirklich das genannt wurde, was er war – ein ‚Massenmörder‘“ (193), und die für ihren Widerstand am 22. Februar 1943 hingerichtet wurden. Was bewegte diese Personen, sich gegen das NS-Regime zu stellen? Die Konstruktion eines Gewissens ist eine komplexe Angelegenheit. Im Fall der von Arendt genannten Beispiele können wir sehen, dass die Entwicklung des Gewissens einer Gesellschaft und die Entwicklung des Gewissens einer einzelnen Person in dieser Gesellschaft unterschiedlich oder gar einander entgegengesetzt sein können, was darauf hinweist, dass die Art und Weise, wie Ereignisse subjektiv verarbeitet und in die Charakterbildung integriert werden, nicht vorgeschrieben ist. Ein Charakter entsteht durch die Entscheidungen, die Personen bezüglich ihres Handelns treffen (vgl. Snyder oben), und diese Entscheidungen bestimmen auch, welches Wissen vom Subjekt zugelassen wird. Ein Gewissen erwächst also über konkrete Gelegenheiten, bei denen man in die Richtung des Wachstums eingreifen kann. Worauf ich hinaus will, ist, dass die Versicherung durch einen hohen ‚Empathiequotienten‘ – EQ, wie ihn die Wissenschaftler*innen Simon Baron-Cohen und Sally Wheelwright entworfen haben[16] –, also der Entwurf einer normativen ethisch-psychologischen Morphologie, eine kritische Reflexion der eigenen Rolle in gesellschaftlichen Zusammenhängen und geschichtlichen Prozessen erschwert und dass sie darüber hinaus gewalttätig gegenüber Personen, die von dieser Norm abweichen, ist. Um es ein bisschen prägnanter zu sagen: Eichmann war nicht Sadist – ihn bedrückten die Schreie der Opfer, wenn er den Morden beiwohnte –, aber das hielt ihn nicht davon ab, an einer anderen Stelle im System – fernab von den Schreien, in seinem Büro bei der Koordination von Deportationszügen – eine für den Mord- und Vernichtungsapparat des Holocausts notwendige Funktion zu erfüllen. Ich bin eine sentimentale Person, die schnell von traurigen Filmen zu Tränen gerührt ist, und kann Teil eines politischen Verbrechens sein, genauso wie eine Person, die das Schreien eines anderen Menschen nicht bedrückt, die es ‚kalt‘ lässt, oder die es stimuliert, sich ethisch korrekt verhalten kann. Verantwortung erreicht alle Personen auf unterschiedliche Weise.

[16] Siehe Simon Baron-Cohen und Sally Wheelwright: „The Empathy Quotient: An Investigation of Adults with Asperger Syndrome or High Functioning Autism, and Normal Sex Differences.” In: Journal of Autism and Developmental Disorders 34:2 (April 2004), S. 163–175. Für eine Kritik an Baron-Cohens und Wheelwrights Empathiequotiententest aus der Erfahrung einer autistischen Person siehe Rachel Cohen-Rottenberg: „A Critique of the Empathy Quotient (EQ) Test.“ In: Autism and Empathy: Dispelling Myths and Breaking Stereotypes (2011),
https://autismandempathyblog.wordpress.com/a-critique-of-the-empathy-quotient-eq-test-introduction-and-part-1/ (Part 1); https://autismandempathyblog.wordpress.com/a-critique-of-the-empathy-quotient-eq-test-part-2/ (Part 2); https://autismandempathyblog.wordpress.com/a-critique-of-the-empathy-quotient-eq-test-part-3/ (Part 3); https://autismandempathyblog.wordpress.com/a-critique-of-the-empathy-quotient-eq-test-conclusion/ (Conclusion).

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