Was ist das: Marxismus?
Die ÖVP führt gegen den neuen SPÖ-Chef Andreas Babler eine groteske Retro-Debatte. Dann wollen wir ihr mal bisschen Geschichtsunterricht erteilen.
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Gelegentliche Leser und Leserinnen von „Vernunft & Ekstase“ werden sich daran erinnern, dass die österreichische Sozialdemokratie (SPÖ) in den vergangenen Monaten einen Wettstreit um den Parteivorsitz ausgetragen hat, und dass ich dabei einen Bewerber, den geerdeten, hemdsärmligen Basiskandidaten Andreas Babler unterstützt habe. Beobachter des Zeitgeschehens werden auch mitbekommen haben, dass Babler, der als Underdog begann, sich am Ende durchgesetzt hatte und nun neuer Parteivorsitzender der SPÖ ist.
Wer einen Eindruck gewinnen kann, der kann sich hier eine editierte Kurzfassung seiner Parteitagsrede ansehen.
https://www.youtube.com/watch?v=VsLwU_zK8Ko&t=2s (Si apre in una nuova finestra)Die Kamarilla an Eliten, Geschäftemachern, an Gutsituierten und Freunderlwirtschaftlern sieht Babler naturgemäß als die schlimmste denkbare Herausforderung an. Sie fahren alle Geschütze auf, werden tief im Dreck wühlen, im Versuch, ihn unmöglich zu machen.
Der ÖVP-Generalsekretär Stocker, in seinem ewigen Bestreben, der Trottelforschung Anschauungsmaterial zu liefern, hat jetzt gemeint, der Weg des „Marxisten“ Andreas Babler werde nach „Nordkorea“ führen. Das ist natürlich so verblödet, dass es sich nicht lohnt, darauf einen Gedanken zu verschwenden.
„Ich bin Marxist“
Hintergrund der Wortmeldung war aber, dass Babler sich in einem Interview als „Marxist“ bezeichnete, weil er seit seinen Tagen als Jungsozialist gelernt habe, dass man durch die Brille des Marxismus die Dinge scharf sehe; nur kurz darauf hat er dann in einem anderen Interview auf die Frage, ob er denn damit auch für die „Diktatur des Proletariats“ und die Verstaatlichung aller Produktivkräfte wäre, geäußert, „wenn man es so interpretiert, dann natürlich nicht“.
Man kann durchaus der Meinung sein, dass es nicht so schlau sei, auf unterschiedliche, aber für oberflächliche Gesprächspartner doch recht ähnliche Fragestellungen so diametral unterschiedlich zu antworten. Man kann auch durchaus der Meinung sein, dass es angesichts der Ordnung herrschender Diskurse nicht unbedingt zur klügsten Sache der Welt zählt, den Satz „ich bin Marxist“ auszusprechen, wenn man Bundeskanzler werden will.
Ich würde selbstverständlich keiner dieser Meinungen widersprechen.
Aber wenn man die Hoffnung nicht ganz aufgibt, dass auch in mediale Trotteldebatten ein wenig Vernunft gebracht werden kann, dann ist es womöglich nicht unsinnig sich einmal die Frage zu stellen, was denn das überhaupt heißen könnte: Marxist zu sein.
Wer war eigentlich dieser Marx?
Marx selbst sagte bekanntlich einmal, „alles, was ich weiß, ist, dass ich kein Marxist bin“, und damit hat er schon polemisch auf jene doktrinären Anhänger reagiert, die ihn zum Verkünder eines festgefügten Dogmengebäudes verbiegen wollten. Einer der wichtigsten undogmatischen Kommunisten und polittheoretischen Denker des 20. Jahrhunderts, Antonio Gramsci, wiederum formulierte einmal: „Alle sind Marxisten, ein wenig, unbewusst.“ Dass die zivilisatorische Höhe und die geistigen Leistungen einer Gesellschaft nicht unabhängig von der ökonomischen Entwicklung und dem materiellen Niveau der Wohlstandsproduktion, dass die politischen Konflikte nicht unabhängig von der Klassenschichtung einer Gesellschaft beurteilt und erforscht werden können, würde kaum jemand abstreiten. Auch in anderer, sogar dümmerer Hinsicht sind fast „alle“ heute Marxisten: Dass, wenn jemand eine Meinung äußert, möglicherweise andere, ökonomische Interessen dahinter stehen, davon ist heute schon jeder minder begabte Politikkommentator überzeugt, und diese durchaus nicht unrichtige Beurteilung kann sehr schnell in die heute so beliebten Verschwörungstheorien münden.
Kurzum: Alle sind Marxisten, so irgendwie. Aber das heißt ja noch lange nicht, dass man es auch sein sollte. Oder dass es einen großen Sinn hätte, sich als solchen zu bezeichnen. Also: Soll man? Hat es Sinn?
Was ist „Marxismus“?
Da ich nicht einmal selbst weiß, ob ich Marxist bin, werde ich mir darüber ein Urteil natürlich versagen, aber ich möchte ein paar Hinweise geben für die Gedanken, die man sich darüber machen könnte.
Ohne Zweifel kann man heute gar nicht anders als „Marxist“ sein, da Karl Marx einer der großen Giganten der Geistesgeschichte war, mit unerhörten Einflüssen auf die Politikwissenschaft, die ökonomische Analyse, die Staatstheorie, die Philosophie, aber auch auf Disziplinen, die zu seinen Lebzeiten noch gar nicht bekannt waren, wie etwa die Soziologie. Marx steht da in einer Reihe mit Leuten wie Kant oder Hegel, aber auch mit Sigmund Freud, mit Max Weber, mit John Maynard Keynes – oder mit Simone de Beauvoir oder Hannah Arendt. Und das ist nur eine willkürliche Auswahl. Soll sagen: Man kann die zeitgenössischen Formen von Gesellschaftsanalyse überhaupt nicht verstehen, ohne die Beiträge dieser grundlegenden Denker und Denkerinnen zu berücksichtigen. Mehr noch: Man muss über all diese Denker und Denkerinnen gar nichts wissen, und doch werden sie in einem denken, weil viele ihrer Postulate in den Alltagsverstand hinabgesunken sind. Sie sind der Meinung, dass der Konflikt zweier Konfliktparteien zu einem produktiveren dritten Zustand führen kann, der den Konflikt überwindet? Dann willkommen im Vulgärhegelianismus! Sie sind der Meinung, dass zum Charakter eines Individuums nicht nur gehört, wie es sich bewusst dünkt, sondern auch, was in seinem Unterbewusstsein vorgeht? Gratulation zur Prise Freudianismus. Sie sind auch der Meinung, dass die einzelnen Unternehmen gerne den Lohn ihrer Arbeiter drücken, die Unternehmen dann aber ein Problem bekommen, wenn das alle tun, da es dann an der Konsumnachfrage fehlt? Nun, dann haben sie auch schon ein kleines Schlücklein Marxismus dazu genommen. Wir könnten dieses Spielchen jetzt ewig weiter spielen und am Ende wären Sie wahrscheinlich überrascht, welch ein:e waschechte:r hegelo-marxistisch-freudianisch-weberianisch-keynesianischer Beauvoiraner:in sie sind. Es wäre zugleich aber auch nutzlos. Denn wenn man alles mögliche ist, dann ist man zugleich auch nichts.
Marx – ein Gigant der Geistesgeschichte
Marx – und sein Buddy Friedrich Engels – haben extrem fruchtbare und nicht mehr wegzudenkende Beiträge zur Geistesgeschichte der Menschheit geliefert, sie haben sich übrigens auch immer wieder korrigiert und widersprochen, und nach ihnen haben sehr viele andere die Gedanken weiter gesponnen, neue Beiträge geliefert, sodass sich alles wie Sedimentierungen übereinander gelegt hat. Menschen, die sich als Marxisten verstanden, haben hier weiter gedacht, und Menschen, die sich nicht als Marxisten verstanden.
Es ist auch nicht ganz unüblich, wenn auch etwas fruchtlos, den Philosophen und den geistesgeschichtlichen Giganten Karl Marx vom Revolutionär Karl Marx zu trennen. Fruchtlos deshalb, weil das natürlich nicht so leicht geht.
Marx ist heute ein Klassiker der Gegenwart, er war allerdings nie verdammt gut darin, etwas fertigzubringen, und wenn er politische Kritik und Analyse geliefert hat, dann war das etwas, was Marx einmal „Kritik im Handgemenge“ genannt hat. Geschichtsschreibung der Gegenwart, während die noch im Gange war. Immer schlau, aber oft auch vorläufig, mit dem Risiko, Fehler zu begehen.
Gesellschaft als Prozess denken
Es ist aber sicherlich eine der besten vorstellbaren Schulen, mit Marx Denken zu lernen. Denn Marx war ein echter Meister des Denkens in Prozessen. In seinen polittheoretischen und historischen Schriften, wenn er etwa herausarbeitet, welche soziologischen Gruppen hinter politischen Parteiungen und Konflikten stehen. Sein Mitstreiter Friedrich Engels hat das einmal so formuliert, „dass die Welt nicht als ein Komplex von fertigen Dingen zu fassen ist, sondern als ein Komplex von Prozessen.“ Die historischen Prozesse werden womöglich vom Willen einzelner Gruppen oder Protagonisten voran getrieben, aber es sind Einzelwillen, die alle aufeinander reagieren, sodass streng genommen am Ende immer etwas herauskommt, „was niemand will“ (Engels).
Eine Methode der Analyse
Marx hat weniger fixe Lehren entwickelt, als eine Methode, einen intellektuellen Stil, er beschreibt eine Welt-Maschine, die von den Menschen geschaffen ist, aber ihr Eigenleben entwickelt, eine menschgemachte Welt, welche die Menschen nicht mehr kontrollieren, die mehr und mehr die Menschen kontrolliert. Selbst der größte Kapitalist ist einerseits der Gewinner des Profitmotivs, aber gebeutelt von den scheinbaren Sachzwängen einer äußeren Welt.
Marx war auch ein sehr humorvoller Mensch und sein Denken in Prozessen und der dialektischen Rückkoppelungen und Paradoxien hat er einmal an der Produktivität des Verbrechers beschrieben, der zwar einerseits etwas sehr beklagenswertes begeht, nämlich Verbrechen, aber damit auch sehr produktiv ist, weil er den Job des Rechtsprofessors sichert, den des Juristen, des Anwaltes, weil er zur Verfeinerung der Justiz, der Verbesserung der Polizeimethoden und zum technologischen Fortschritt in der Türschloss-Produktion beiträgt, ja, sogar seine Impulse zur Literatur liefert, man denke nur an Schillers „Räuber“. Marx: „Nichts von dem gäbe es, wenn es keine Diebe gäbe.“
Wahrscheinlich ist ihnen schon einmal aufgefallen, dass wir in der Wirtschaftswelt nicht nur Autos für die Menschen schaffen, sondern auch Menschen für die Autoproduktion, also Leute, die mit Maschinen und Werkzeug umgehen können, aber auch Menschen, für die es selbstverständlich ist, dass man einer Arbeit nachgehen muss, um essen zu können und die sogar fähig sind, sich darauf zu trainieren, ohne Murren um vier Uhr morgens aufzustehen, um rechtzeitig bei der Frühschicht zu sein. „Die Produktion produziert nicht nur einen Gegenstand für das Subjekt, sondern auch ein Subjekt für den Gegenstand“, formulierte Marx auf unübertroffene Weise.
Marx als „Makroökonom“
In seinen ökonomischen Studien beschreibt Marx die kapitalistische Produktionsweise, deren Selbstbewegung, wie – ganz ohne Versklavung – eine systemische Struktur geschaffen wird, in der die Reichen immer reicher werden, die anderen aber nicht. Er versucht zu ergründen, gerade weil der fortgeschrittene Kapitalismus nicht primär auf Raub und Versklavung beruht, sondern auf dem scheinbar freien Arbeitsvertrag, wo genau die „Ausbeutung“ herkommt, die dazu führt, dass die einen sich die Wertzuwächse aneignen können, die die anderen produzieren. Marx „war einer der ersten Makroökonomen der Geschichte und hat die Teildisziplin wesentlich begründet“ – das hat nicht Andi Babler gesagt, sondern Hans Werner Sinn, einer der radikalsten neoliberalen Ökonomen unserer Tage.
Marx, der Humanist
Marx war, grosso modo, auch wenn er an vielen dunklen Tagen im Gemüt eingetrübt war, ein optimistischer Denker und Kind seiner Zeit, also eines fortschrittsoptimistischen Zeitalters. Er war sich sicher, dass die Wohlstandzuwächse und der technologische Fortschritt uns die Voraussetzungen für ein gutes Leben für alle, für ein unglaubliches Wachstum der materiellen Reichtümer, damit aber auch für die zivilisatorische Hebung jedes einzelnen Menschen und für die Entwicklung aller Talente liefern würde. Marx war insofern gerade kein Utopist, der sich einfach eine schöne Phantasiewelt erträumte, sondern einer, der überzeugt war, dass die Potentiale der Verbesserung im materiellen Wohlstand und den Reichtumszuwächsen schon angelegt sind. Dabei ging es ihm gerade nicht um die Kommandierung der Einzelnen, sondern um die radikale Freiheit, denn er definierte die sozialistische oder kommunistische Gesellschaft (zu seiner Zeit wurden diese Begriffe weitgehend synonym benützt) als „eine Assoziationen, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist“. Der Revolutionär Marx war auch ein großer Humanist. Früh formulierte er, es gelte „alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“. Marx als Paten des Gulags zu beschreiben, ist schon ziemlich lächerlich.
Reform und Revolution
Der Hegelianer Marx äußerte die Überzeugung, dass die Geschichte gewissermaßen von ihrer schlechten Seite her in Bewegung gerät, weil der Knecht gegen den Herrn rebelliert, der in Lumpen gegen den in schönen Kleidern, weil das Proletariat, die geschundenen und ausgepressten Arbeiter, die Herren Etablierter von ihrem Thron stoßen werden. Damit werde Volksherrschaft etabliert. Und dabei gäbe es keine Alternative zu einer gewaltsamen Revolution. Nachvollziehbar, denn seine prägenden Jahre erlebte Marx während der Revolution von 1848, und beeinflusst war er vom Nachklang der französischen Revolutionen von 1789 und 1830. Hatte Marx damit unrecht? Naja, darüber kann man streiten. Aber ganz sicher hatte er nicht unrecht damit, dass die Geschundenen, die Verlausten, die in Armut und Unwissenheit gehaltenen Arbeiter und Arbeiterinnen den Privilegierten jeden Schritt des gesellschaftlichen Fortschritts abringen müssen, die Geschichte also von der düsteren Seite her in Gang gehalten wird, nicht von der glänzenden der Hochwohlgeboren. Indem die von Karl Marx inspirierten Arbeiterparteien und -Bewegungen diese Kämpfe aber aufnahmen, Forderungen durchsetzten, setzten sie auch Reformen in Gang, die neben den revolutionären auch den Weg der allmählichen Verbesserung zunehmend als mögliche Option erschienen ließen. Marx Kumpel Friedrich Engels sollte auf seine alten Tage noch zur Überlegung gelangen, „wir, die ‚Revolutionäre‘, die ‚Umstürzler‘, wir gedeihen weit besser bei den gesetzlichen Mitteln als bei den ungesetzlichen und dem Umsturz“. Er nannte das die „Ironie der Weltgeschichte“.
Eine Theorie der Gemeinschaftlichkeit
Es gibt so viele grandiose analytische Entdeckungen von Karl Marx, die nicht einmal alle angetippt werden können auf so knappen Platz. Einer der Wichtigsten ist wahrscheinlich die Erkenntnis, dass die fortgeschrittene kapitalistische Gesellschaft bereits eine Kooperation auf hoher Stufenleiter darstellt, dass es hier keine Selfmademan gibt, nicht den genialen Kapitalisten, der sich alle Reichtümer aneignet, weil er so ein schlauer Kopf ist. Er stützt sich auf Erfindungen, die andere machten, diese Erfindungen wurden durch ein Schulsystem und eine Geschichte der Wissenschaft ermöglicht, in die alle Entdeckungen früherer Generation eingehen, und auch die Produktion beruht auf dem Zusammenspiel aller Arbeiter und Arbeiterinnen – alles, was wir an Reichtümern zustande bringen ist das Produkt von Gemeinschaftlichkeit. Bloß dass sich dann einzelne Wenige den größten Teil vom Kuchen krallen.
Entfremdung
Nur, dass die Arbeiter in diesem Prozess kommandiert werden, ihnen jeder Handgriff befohlen, ihnen jede Kreativität ausgetrieben wird. Und wenn nicht, dann ist ihre Kreativität nur so weit erwünscht, als sie dem Ziel, möglichst viel Profit zu machen, untergeordnet wird. „Alle Leidenschaft und alle Tätigkeit muss also untergehen in der Habsucht“, prangerte Marx an, und nannte das die „Entfremdung“, eine Entmenschlichung des Menschen, die „seinen Geist ruiniert“. Der Kapitalismus mag seine Meriten bei der Entwicklung der Reichtümer haben, aber er verwandelt zugleich „den Blödsinn in Verstand, den Verstand in Blödsinn“.
Wer mag Marx da nicht rechtgeben, wenn man sich Pressekonferenzen von Herrn Stocker ansieht und Medienunternehmen, die über sie berichten, als wären es irgendwie ernstzunehmende Botschaften und nicht Gaga-Gelaber einer schrulligen Dreckschleuder.
Marx hat dem Denken einen neuen Kontinent erobert und damit nicht nur die Geistesgeschichte geprägt, sondern auch die Politik. Wenn Herr Stocker mit bebender Stimme seiner Angst vor dem „Marxismus“ ausdrückt und dass dieser Diktaturen wie in Nordkorea nach sich ziehen könnte, dann sei er daran erinnert, dass es die Marxisten waren, die in diesem Land die Demokratie durchgesetzt haben und dass die konservativen Ahnen von Herrn Stocker in diesem Prozess eher schlechte Figur machten.
Der Austromarxismus
Victor Adler, beispielsweise, hat die österreichische Sozialdemokratie begründet, die Republik und Demokratie erkämpfte, er hat aber auch eine spezifische Spielart des Marxismus geprägt. Vielleicht sogar ohne es zu wollen, denn großer theoretischer Kopf war Adler keiner. Adler hat in großen Wahlrechtskämpfen nach und nach ein demokratisches Wahlrecht durchgesetzt. Schon im Hainfelder Programm, des Einigungsparteitags der Sozialdemokratie 1888/89 hieß es: „Das Proletariat politisch zu organisieren, es mit dem Bewusstsein seiner Lage und seiner Aufgabe zu erfüllen, es geistig und physisch kampffähig zu machen und zu erhalten, ist daher das eigentliche Programm der sozialdemokratischen Arbeiterpartei in Österreich, zu dessen Durchführung sie sich aller zweckdienlichen und dem natürlichen Rechtsbewusstsein des Volkes entsprechenden Mitteln bedienen wird.“ Das ist nicht nur ein Reformprogramm und demokratisch-sozialistisches Revolutionsprogramm, sondern eigentlich ein Erziehungsprogramm: das Proletariat „geistig und physisch kampffähig zu machen und zu erhalten“. Das heißt ja auch: Die Arbeiter und Arbeiterinnen bilden, ihre Lebenskultur heben, Arbeiterbildungsprogramme auflegen, den Alkoholismus unter den Arbeitern bekämpfen, die Unwissenden geistig zu heben („Wissen ist Macht“, war eine Parole), Männer und Frauen zu neuen Formen echter Partnerschaftlichkeit zu ermuntern, ihnen beibringen, ihre Kinder mit Liebe und Zuneigung zu erziehen, das war immer das Programm dieser österreichischen Spielart des Marxismus, die früher gern „Austromarxismus“ genannt wurde. Wenn Andi Babler am Parteitag die alte Formel „Allen Kindern alle Rechte“ rief, dann ist das auch ein Nachhall dieser großen Tradition der österreichischen Arbeiterbewegung, die eben immer auch eine Kulturbewegung war.
Apropos Austromarximus. Wie immer, entwickelt jede historische Tradition auch ihre unterschiedlichen Ausformungen. Wenn vom Marxismus die Rede ist, dann muss man heute daher immer fragen: Welcher genau? Der orthodoxe Marxismus, der aus der leninistischen Tradition, oder der spezifische Wiener „Austromarxismus“, oder der demokratische des „Eurokommunismus“, oder der linksliberale „westliche Marxismus“ der Frankfurter Schule, oder ganz ein anderer? Oder gar ein „postmarxistischer Marxismus“, der sich nimmt, was ihm nützlich ist, und kübelt, was heute unbrauchbar ist?
Vielleicht sollte man dem konservativen Herrn Stocker auch mal die Frage zurück geben, welchen Konservatismus denn eigentlich er präferiert? Den demokratischen von Konrad Adenauer oder Leopold Figl, den christdemokratisch-modernistischen einen Erhard Busek, oder den Konservatismus einen Dollfuss, Pinochet oder General Franco? Den gemäßigten eines Helmut Kohl oder den radikal-autoritären einen Viktor Orban, mit dem die ÖVP so gerne kungelt?
Bollwerk von Demokratie und Liberalität
Die Sozialisten und Sozialdemokraten in Österreich haben sich jedenfalls in ihrer Geschichte nichts vorzuwerfen. Von den Wahlrechtskämpfen der 1890er Jahre über die Gründung von Republik und parlamentarischer Demokratie, vom Widerstand gegen die Dollfuss-Faschismus bis zu einer glasklaren antistalinistischen Haltung gegenüber einem autoritären Kommunismus sind sie immer auf der richtigen Seite der Geschichte gestanden. Es waren dagegen die Konservativen, die die Demokratie und Republik nach 1918 als „revolutionären Schutt“ wegräumen wollten und 1933/34 der parlamentarischen Demokratie, dem Pluralismus und dem Rechtsstaat den Garaus gemacht haben.