Passa al contenuto principale

Sei kreativ – aber gehorche dem Kommando

Durch die Marx-Brille: Wir produzieren den Reichtum einer Gesellschaft gemeinschaftlich, aber nur ein paar wenige werden reich.

***

Vernunft & Ekstase ist ein userfinanzierter Blog.

Wenn Sie den Blog abonnieren, erhalten Sie jeden Post in ihr E-Mail-Postfach.

Wenn Ihnen die Texte gefallen, dann teilen Sie sie doch bitte in den Socialen Medien oder machen sie ihre Freundinnen und Freunde darauf aufmerksam! Das ist das Wichtigste.

Wenn Sie die Arbeit mit einem kleinen monatlichen Beitrag unterstützten und somit ermöglichen wollen, würde mich das freuen:

***

Österreich übt sich ja gerade in einer Art der Marx-Exegese der dummen Kerls, selbst der Bundeskanzler hat mittlerweile mit sorgenvollem Gesicht irgendeinen Marx-Unsinn von sich gegeben, worum es genau ging, das habe ich natürlich vergessen, was sowieso bei Wortmeldungen Karl Nehammers empfehlenswert ist. Nun kann man heute weder leicht Marxist sein (wegen der Fehler, die Marx machte, aber auch weil einfach die Zeit über vieles hinweg gegangen ist), und ebensowenig kann man nicht Marxist sein (weil er ein Gigant der Geistesgeschichte ist und aus dieser ja gar nicht wegzudenken). Ich habe vergangene Woche über die Hintergründe hier geschrieben. (Si apre in una nuova finestra)Wirkliche Sorgen sollte man sich ja nur um Leute machen, die kaum oder gar nicht Marx gelesen haben. Ich will hier auf einen zentralen Gedanken von Marx eingehen, der gar nicht ausreichend gewürdigt ist. Marx ist ein Gegengift gegen alle neoliberalen Ideen vom „Selfmade“-Man, der Überbewertung der unternehmerischen Leistung, dem Geniekultur und damit der Legitimation von krassen Ungleichheiten. Dieser Gedankengang, auf den ich hier ausführlicher hinweisen will, ist der von der „gesellschaftlichen Arbeit“. Unser gesamter Wohlstand ist gesellschaftlich, also kooperativ produziert, aber der krasse Reichtum wird privat angeeignet. Jeder leistet seinen Beitrag. Produktion ist kooperatives Tun auf immenser Stufenleiter. Und das betrifft nicht nur die jeweilige Gegenwart, sondern bezieht auch die Vergangenheit ein. Kein Unternehmen kann etwas produzieren ohne seine Beschäftigten, ohne die Zulieferer, ohne die Erfindungen, auf die es sich stützt, ohne das Vorbild der Konkurrenz vielleicht auch, ohne die Finanzierungsinstrumente, die es vorfindet, ohne die Ausbildungsleistungen, die Schulen und Universitäten bereit stellen – wir können endlose Netzwerke zeichnen. Aber mehr noch: Kein Unternehmen kann das ohne sich die geistigen und intellektuellen Produktionen tun, die frühere Generationen entwickelt haben. Kein I-Phone ohne die Entdeckungen der Elektrotechnik aus dem 19. Jahrhundert. Alle stehen auf den Schultern von Vorgängern. Hat man das einmal erkannt, dann sieht man die Welt völlig neu – nicht mehr auf den Kopf gestellt, sondern quasi real auf den Beinen stehend. Vor einigen Jahren habe ich in dem von Matthias Greffrath herausgegebenen Band „Re: Das Kapital“, zum 150 Jahrestag des Erscheinens des ersten Bandes des Kapitals darüber geschrieben, den Text stelle ich heute zur Lektüre zur Verfügung. Marx hat in all diese verschiedenen Richtungen gedacht, die Verfeinerung des Könnens der Arbeiter analysiert, aber zugleich deren Knechtung unter das Kommando des Fabriksystems. Dass sich Beschäftigte im Betrieb – in ihrer Arbeit – selbst verwirklichen wollen, zugleich aber in der Firma ständig frustriert werden, und und und. Selbst für das heute so oft diskutierte Phänomen der „Great Resignation“ hat schon Marx schlaue und systematische Gedankengänge parat. Leute mit der Entwicklung ihrer Kreativität zu locken, sie aber dann ins Kommando einspannen, wird irgendwann in Depression münden. Hier der Text:

 

„Das Wirken einer größern Arbeiterzahl zur selben Zeit, in dem selben Raum (oder, wenn man will, auf demselben Arbeitsfeld), zur Produktion derselben Warensorte, unter dem Kommando desselben Kapitalisten, bildet historisch und begrifflich den Ausgangspunkt der kapitalistischen Produktion,“ So formuliert es Karl Marx in den Eingangspassagen des 11. Kapitels des „Kapital“ mit der knappen Überschrift: „Kooperation“.         

Ja, klar, mag man jetzt denken: Kooperation, da können wir uns alle etwas vorstellen darunter. Kooperation, das ist etwas Schönes, hat einen freundlichen Beiklang. Keine weiteren Fragen. Aber es ist gar nichts einfach mit der Kooperation.

Denn der Kapitalismus ist eine eigentümliche Sache. Die Fabrikanten wollen, dass ihre Arbeiter miteinander arbeiten, aber doch nicht so, dass allzuviele Solidaritätsgefühle entstehen. Die Unternehmer selbst konkurrieren miteinander, kommen zugleich aber auch nicht ohne einander aus. Er ist ein Miteinander, das zugleich ein Gegeneinander ist. So gebiert gerade der Kapitalismus auf vielen Ebenen die Kooperation, hemmt sie aber zugleich. Sie ist ambivalent, oder mit dem Begriff, der sich wie ein roter Faden durch Marx' Werk zieht: sie hat einen Doppelcharakter.

Im Laufe seiner Entwicklung zwingt der Kapitalismus immer mehr Menschen in den Produktionsprozess. Anders als der vorkapitalistische Handwerker, der sein Produkt von Anfang bis zum Ende formte, oder der Bauer, der sät, ackert, erntet, aufzieht, füttert, schlachtet, wird der Mensch zunächst in der Manufaktur, und dann in der Fabrik ins Räderwerk einer Apparatur gespannt.

Die Art der Kooperation, die in der Fabrik - zumal der in Marxens Zeit -  institutionalisiert wurde, ist eine Kooperation der Geist- und der Willenlosigkeit. Die Kooperierenden werden als Leiber, die man anleitet, in die Kooperation gepresst, so wie die Soldaten beim Exerzieren: Arbeiterheere, die im Zwangsregime der Fabrik zusammengespannt werden. Der Arbeiter, der in der Nadelfabrik nur den Draht walzt, Tag für Tag, Stunde für Stunde. Der andere Arbeiter, der die Maschine bedient.

Die Aufspaltung der Arbeit in viele Schritte erhöht die Fähigkeiten der Arbeiterarmee als ganze, steigert die Produktivität ins vorher Ungeahnte, lässt aber zugleich die Fertigkeiten des einzelnen Arbeiters verkümmern. Diese Kooperation ist nicht die von wachen, kreativen Individuen, sondern eine des geistlosen Ineinander befohlener Handgriffe.

Nichts ist einfach und simpel in diesem Prozess, sondern gegenläufig. Der Volksmund würde sagen: Die Quadratur des Kreises. Es wäre übertrieben, zu sagen, dass in der kapitalistischen Kooperation nur die Fähigkeiten des Menschen zum Gemeinschaftlichen angestachelt werden. Es wäre aber ebenso übertrieben und ungenau, zu sagen, dass sie nur unterdrückt werden. Es ist ein sowohl als auch. Eine widersprüchliche Gleichzeitigkeit.

Ebenso ist es mit der Arbeitsteilung, dem siamesischen Zwilling der Kooperation: Einerseits werden die Fertigkeiten verfeinert. Erst die Arbeitsteilung lässt so etwas wie ein virtuoses Ineinandergreifen von Akteuren zu, die sich in irgendeinem Teilaspekt der Tätigkeit wirklich spezialisieren, im besten Fall ihre Talente entfalten.

So entsteht der Facharbeiter, der stolz ist auf seine Fertigkeiten. „Die Arbeit hoch!“ wird die frühe Arbeiterbewegung bald sagen, womit die Achtung gemeint war, die dem Arbeiter auch seiner Kompetenzen wegen zusteht. Zugleich ist die Fabrik auch der Geburtsort des ungelernten Arbeiters, der nicht mehr können muss als ein, zwei Handgriff, in die er in ein paar Tagen eingewiesen ist.

„In der Tat“, so schreibt Marx etwas gallig, „wandten einige Manufakturen in der Mitte des 18. Jahrhunderts für gewisse einfache Operationen ... mit Vorliebe halbe Idioten an.“

Aufs Ganze gesehen ist die Fortschrittsgeschichte des Kapitalismus eine der immer dichteren Kooperation - Handgriff für Handgriff, Produktionsschritt für Produktionsschritt, auf immer höherer „Stufenleiter der Kooperation", alles exakt ausgetüftelt von Leuten, die eben nicht diese Arbeiter waren. Eine Kooperation, in der die Kooperierenden nichts mitzureden haben, denn, so schreibt Marx, „die Kooperation der Lohnarbeiter ist ... bloße Wirkung des Kapitals, das sie gleichzeitig anwendet. (...) Der Zusammenhang ihrer Arbeiten tritt (den Arbeitern) daher ideell als Plan, praktisch als Autorität des Kapitalisten gegenüber, als Macht eines fremden Willens, der ihr Tun seinem Zweck unterwirft“. Die Kooperation unter diesen Bedingungen ist „der Form nach despotisch“. Die Schlüsselbegriffe sind Planung, Kontrolle, Überwachung. „Ein einzelner Violinspieler dirigiert sich selbst, ein Orchester bedarf des Musikdirektors", so charakterisiert Marx die technische Notwendigkeit der betrieblichen Organisation auf dieser Stufe.

Unter kapitalistischen Verhältnissen allerdings äußert sich die Kraft, die in diesem überindividuellen, kollektiven Zusammenwirken liegt, in verkehrter Form: als Herrschaft über Individuen: „Die Soziale Macht, die durch das Zusammenwirken entsteht“, wird, so schreibt Marx, von den Kooperierenden „nicht als ihre eigne, vereinte Macht, sondern als eine fremde, außer ihnen stehende Gewalt erfahren“. Der Musikdirektor ist eben auch der Eigentümer, der an der Musik reich werden will.

Selbst in diesen frühen Epochen kapitalistischer Produktion gilt aber schon (eine Tatsache, die in späteren Tagen gänzlich unübersehbar wurde), dass die Vorteile dieser Kooperation nicht nur in der effizienten Kombination von Arbeitsschritten auf stetig höherer Stufenleiter liegen, sondern auch im eigensinnigen, wechselseitigen und kreativen Miteinander der Kooperierenden selbst. Mit Marx gesagt: „Abgesehen von der neuen Kraftpotenz, die aus der Verschmelzung vieler Kräfte in eine Gesamtkraft entspringt, erzeugt bei den meisten produktiven Arbeiten der bloße gesellschaftliche Kontakt einen Wetteifer und eine eigne Erregung der Lebensgeister (animal spirits), welche die individuelle Leistungsfähigkeit erhöhen.“

Diese „Erregung der Lebensgeister“ ist ja nicht der unwesentlichste Grund dafür, dass 10 Leute, die zusammenarbeiten, mehr weiterbringen werden als 10 Leute, die zeitgleich auf sich alleine gestellt arbeiten. Und zwar nicht nur, weil beispielsweise nur 10 Leute einen Felsen von einer Tonne Gewicht bewegen können, während das ein Einzelner niemals könnte, sondern weil diese 10 Leute vielleicht beim Austüfteln der besten Möglichkeiten, eine solche Aufgabe zu lösen, auf verschiedene Ideen kommen, die sie dann kombinieren, bis die beste Idee gefunden ist, die ein einzelner niemals finden hätte können. „Dies rührt daher“, so Marx, „dass der Mensch von Natur, wenn nicht, wie Aristoteles meint, ein politisches, jedenfalls ein gesellschaftliches Tier ist.“ Und weiter: „Im planmäßigen Zusammenwirken mit anderen streift der Arbeiter seine individuellen Schranken ab und entwickelt sein Gattungsvermögen.“ Indem er mit anderen gemeinsam tätig ist, erfährt er sich als Teil eines größeren und mächtigeren Ganzen - und gleichzeitig die Grenzen eines bloß individuellen Wirkens und Lebens.

Kein Unternehmer hat natürlich Arbeiter deswegen engagiert, damit das passiert. Aber wie so oft in der Welt entsteht auch in der Fabrik etwas, was kein Fabrikant so je geplant hat, genauso wie im Kapitalismus überhaupt Prozesse wirksam werden, die aus dem Zusammenspiel verschiedener Aktivitäten entstehen, die aber im strengen Sinne „niemand gewollt“ hat, wie Friedrich Engels das einmal nannte, die also weder geplant noch vorausgesehen sind. Simpel gesagt: Die Kapitalisten tun irgendetwas, was zu Resultaten führt, die sich dann wiederum zu den Umständen ihres weiteren Tuns summieren. Oder, um das mit einem anderen, berühmten Marx-Wort zu sagen: Das, was rauskommt, gestaltet sich hinter dem Rücken der Einzelnen.

Die in der Fabrik zusammengepferchten Arbeiter erweisen sich eben nicht als bloße willenlose Arbeitsgäule, die anonym nebeneinander ihre Handgriffe erledigen.

Beispielsweise entwickeln sie Gemeinschaftsgeist. Der Begriff des „Kollegen“ entsteht, der uns heute selbstverständlich erscheint. Aber was schwingt in diesem Begriff denn mit? Eine Gemeinsamkeit, auch ein Zusammenhalt, der weit über die bloße Verbundenheit hinausgeht, welche der Tatsache geschuldet ist, dass man zufällig in die gleiche Situation geworfen ist. Man hilft sich, und steht füreinander ein.

Zwar lasen sich die frühen Fabrikordnungen meist wie Verbotslisten, die an Vorschriftenkataloge für Gefängnisinsassen erinnerten. So drohte etwa für „Bummelei“ die sofortige Entlassung. Aber es schlichen sich doch bald allseitig respektierte Grauzonen ein. So wurde es üblich, dass kräftigere Arbeiter schwächere unterstützten. Arbeiter konnten sich in einem Eck ausschlafen - etwa jene, die gerade ein Haus für die Familie bauten und entsprechend erschöpft zur Arbeit kamen -, dafür arbeiteten die Kollegen eben einen Zahn schneller. Da jeder Arbeiter im Laufe eines Arbeitslebens einmal in die - wohlgemerkt: vorübergehende - Phase kam, in der die Familien- und Haushaltsgründung viel Kraft verzehrte, war unter den Kollegen klar, dass man sich wechselseitig unterstützte, weil man wusste, man bekommt das einmal zurück oder hat selbst schon profitiert, und die Unternehmensleitungen und Vorarbeiter akzeptierten solche Praktiken auch, sofern sie ihm Rahmen des Üblichen und somit Akzeptierten blieben. Noch im späteren Akkordsystem fanden sich schnell Möglichkeiten, dass die leistungsstärkeren Arbeiter die gerade schwächeren unterstützten.

Praktiken dieser Art gingen über das bloße Anekdotische hinaus; aus dieser instinktiven Solidarität unter den Arbeitern wuchs etwas, das später Klassenbewußtsein heißen sollte.

Die in großer Zahl in der Fabrik konzentrierten Arbeiter entwickelten natürlich auch ein hohes Drohpotential, wie Marx erkannte: „Mit der Masse der gleichzeitig beschäftigten Arbeiter wächst ihr Widerstand und damit notwendig der Druck des Kapitals zur Bewältigung dieses Widerstandes.

Bewältigung des Widerstandes ... dafür gibt es mannigfaltige Varianten in der Geschichte. Die Kapitalseite hat den Widerstand mit Gewalt gebrochen; sie hat - was in der Praxis häufig geschah - die Arbeiter entlassen oder durch willfährigere ersetzen;  sie kann darauf bauen, dass die meisten Arbeiter sich aufgrund ihrer persönlichen Lage Eigensinn oder gar Protest nicht leisten können (weil sie vielleicht schlechter ausgebildet sind und damit weniger Alternativen haben, weil sie ihre Rechte nicht kennen, weil sie kein Selbstvertrauen haben usw.) Sie kann Arbeiter einstellen, die sich mit dem Unternehmen nicht so identifizieren, wie das Stammbelegschaften tun - auch wenn sich dann vielleicht herausstellen könnte, dass die Unternehmen, die eine solche Strategie bevorzugen, schlechtere Ergebnisse erzielen, als jene Unternehmen, die ihren Beschäftigten mehr Möglichkeiten einräumen, den Arbeitsprozess so zu organisieren, dass sie zufriedener sind.

Unternehmensleiter wussten schon sehr früh, dass sie nicht alleine auf das Kommando setzen konnten, sie entwickeln zumeist schnell ein Gespür dafür, wie weit sie diesen Bedürfnissen nach Geselligkeit und Zusammengehörigkeit entgegen kommen müssen, wenn aus den Kollegen nicht die „Genossen“ einer revoltierenden Vereinigung werden sollen.

Die scheinbare Despotie des Fabriksystems wurde so durch Eigensinn immer unterlaufen, und die gewohnheitsmäßigen Praxen waren die Ergebnisse von etwas, was man heute „Aushandlungsprozesse“ nennt - im einzelnen Betrieb,  oder, von Gewerkschaften und Sozialpolitikern durchgesetzt, auf gesellschaftlicher Ebene. Antagonistische Kooperation, so hat das der kluge Sozialdemokrat Peter Glotz genannt.

Aber damit sind wir auch mitten in einem Thema, das immer implizit im Raum steht: Ist im Kapitalismus alles nur Kampf? Kampf der Arbeiter gegen den Kapitalisten? Oder ist er in der Praxis nicht viel häufiger auch eine Art von Kompromiss geworden?

Marx und der Marxismus nach ihm hatten ein paar Grundprämissen, die ziemlich unumstößlich schienen: Der Kapitalismus ist eine fortschrittliche Gesellschaftsordnung, jedenfalls in Relation zu allen bisherigen Gesellschaften. Er entwickelt die Produktivkräfte, modernisiert die Gesellschaft, hebt den Wohlstand, verfeinert die Sitten, verbreitet Bildung und Zivilisation, wenngleich er durch brutale Ausbeutung ganze Völker oder Bevölkerungsgruppen ins Elend stieß. Berühmt sind die Passagen des „Kommunistischen Manifestes“ etwa, wonach die Bourgeoisie „durch die rasche Verbesserung aller Produktionsinstrumente, durch die unendlich erleichterten Kommunikationen, auch die barbarischsten Nationen in die Zivilisation“ reiße. Durch die Entwicklung der Produktivität schaffe der Kapitalismus die Voraussetzungen dafür, das ökonomische Problem, nämlich den Mangel, endgültig zu lösen und durch eine Gesellschaft des Überflusses zu ersetzen, kurzum, durch einen weltlichen Garten Eden, wenn man das etwas romantisch ausdrücken mag. Bloß stünde der Kapitalismus und seine Produktionsverhältnisse, seine Art zu Wirtschaften sowie der damit verbundene organisatorisch-institutionelle Rahmen, diesem Ziel im Wege.

Marxisten sprechen in diesem Zusammenhang gerne vom Widerspruch von „gesellschaftlicher Produktion und privater Aneignung“.

Was verbirgt sich hinter der Formel?

Jeder Reichtum im Kapitalismus ist gesellschaftlich produziert, alle arbeiten hier kooperativ miteinander, weder dem Unternehmer noch dem Kapitalgeber kommt hier grundsätzlich eine privilegierte Funktion zu. Die Kapitalisten tragen etwas bei, aber nichts Außerordentlicheres als etwa der Schuldirektor, der die Schule organisiert, und der Lehrer, der die Schüler unterrichtet, und der Vorarbeiter, der die Lehrmädchen einschult und der Arbeiter, der die Maschine bedient, oder die Buchhalterin, die die Bücher führt, und die Putzfrau, die die Büros wischt. Es ist dieser gesellschaftliche Charakter, dieses kooperative Zusammenwirken, das Reichtümer schafft, das in seiner Komplexität, wie Marx bewundernd schreibt, beeindruckender ist als das Zusammenwirken tausender Arbeiter beim Bau der Pyramiden im alten Ägypten. Und der - unter Gerechtigkeitsaspekten - große Skandal dieser sozialen Ordnung besteht darin, dass der Unternehmer oder Kapitalbesitzer den größeren Teil der Reichtümer als seinen Privaten aneignet.

Aber für Marx ist die „private Aneignung“ des gesellschaftlich Erarbeiteten nicht nur ein Skandal der Ungerechtigkeit, sondern eben auch die Achillesferse des Kapitalismus: Aus verschiedensten Gründen wird diese private Aneignung die Weiterentwicklung der ökonomischen Wohlstandsmaschine behindern, wird der Kapitalismus vom Motor des Fortschritts zur Fessel desselben, weil er kreative Energien nicht mehr freisetzt, sondern sie einkerkert. Weil viele Kräfte, die in der Kooperation liegen, brach liegen bleiben.

Das betrifft zum einen die Kooperation zwischen den Unternehmen. Einerseits mag sie zur Anstachelung der Potentiale führen, aber zugleich behindert sie das Zusammenwirken: Man denke nur an den Wildwuchs an Patentrechten, die dazu führen, dass Unternehmen eine von anderen gemachte Entdeckung kaum weiter entwickeln, übernehmen oder mit anderen Entdeckungen zu einem Neuen kombinieren darf. Das hemmt den Fortschritt. Besonders wenn einmal marktbeherrschende Stellungen etabliert sind, werden Unternehmen versuchen, neue und effizientere Verfahren zu behindern und vom Markt zu kaufen, als sie zu entwickeln.

Aber auch in den Unternehmen selbst wird der Eigensinn der Beschäftigten nur in engen Grenzen geduldet oder gar angespornt - auch wenn die Managementpraktiken jetzt auch schon seit beinahe einem halben Jahrhundert auf semiautonome Teams setzen, innerhalb derer die Beteiligten selbst die besten Formen finden können, wie sie die vorgeschriebenen Unternehmensziele erreichen wollen. Bis dann - immer wenn die Umsatzzahlen sinken - McKinsey kommt - und alle Grauzonen und Freiräume ausmerzt und der scharfe Takt noch in die kleinsten Nebensächlichkeiten Einzug hält. Im Namen einer „Effizienzsteigerung“, von der viel geredet wird, aber mit der es so ist wie mit dem Yeti: Man hört bisweilen von ihr, aber gesehen hat sie noch niemand.

Eher häufiger als seltener wird die „Erregung der Lebensgeister“, von denen Marx schrieb, abgetötet, und zurück bleiben unengagierte Arbeitnehmer, die nur mehr das tun, was man von ihnen verlangt. Mit Dienst nach Vorschrift - was ja eigentlich heißt: im Zurückhalten der kooperativen Kräfte, für die der Kapitalist nicht bezahlt hat - verweigern sie jenes „totales Engagement“ das die neueren Management-Ideologien fordern - das Engagement für fremdes Eigentum.

"Gesellschaftliche Produktion und private Aneignung“ - damit wird aber noch ein weiterer Widerspruch bezeichnet: der zwischen dem kooperativen Arbeitsprozess und dem Kampf um Anteile an der gesellschaftlichen Produktion, also Konkurrenz auf dem Markt. Und diese Konkurrenz erzwingt immer rationellere Produktionsverfahren, immer engere Kooperation, immer höhere Produktivität.

Historisch führt das von der Manufaktur über die Fabrik in die Verbundproduktion, die Vernetzung von Fabriken, Zulieferern, Energiesystemen. Begrifflich von der Zerlegung komplexer handwerklicher Prozesse in Teilprozesse, und deren Maschinisierung und Re-Kombination in der Fließbandproduktion bis zum automatischen System. In ihm ist die Kooperation gewissermaßen in die Maschinerie gewandert - und die Arbeiter werden überflüssig. 

Dieser Schwelle nähern wir uns. 

Auch früher verschwanden durch „schöpferische Zerstörung“ alte und oft schlechte neue Jobs, dafür aber entstanden masssenhaft neue und oft auch bessere. Wenn wir die vergangnen 20 Jahre einigermaßen nüchtern betrachten, müssen wir feststellen, dass es nur noch ein relativ geringes Wirtschaftswachstum gab, eine permanenten Quasistagnation mit Miniwachstumsraten, explodierender Ungleichheit, Privatisierung von allem, endemischer Korruption, da realwirtschaftliche Profitmöglichkeiten immer geringer werden – und weiter, mit dem daraus folgenden moralischen Niedergang und Desintegrationsprozessen....

Angesichts dieser Symptome, die allesamt Indizien für einen chronischen Niedergang sind, tun wir gut daran, die Frage zu stellen, wie die Gesellschaft von Morgen gestaltet werden sollte, wenn die Krisenpropheten Recht haben.

Womöglich ist ja auch ein langsamer, sukzessiver Übergang vom kapitalistischen Wirtschaftssystem zu einer anderen Wirtschaftsordnung denkbar. Und, ja, vielleicht stecken wir schon in diesem Übergang. Das wäre natürlich die beste Möglichkeit. Indizien dafür gibt es.

So wie sich in den Fabriken schon immer Kooperation und Kommando ergänzen und ins Wort fallen, Antagonismus und Kooperation, so haben wir seit vielen Jahrzehnten in kapitalistischen Gesellschaften längst eine gemischte Wirtschaft, die grob gesprochen aus drei Sektoren besteht: den privatkapitalistischen Unternehmen, dem staatlichen Sektor und einen dritten Sektor, den wir als kooperativen Sektor beschreiben können. Dieser Sektor umfasst alles mögliche: Große Genossenschaften, die beinahe wie große Unternehmen funktionieren, nur dass sie nicht profitorientiert arbeiten, Abwasser-Genossenschaften, Wohnbaugenossenschaften, kleinteilige Hausprojekte oder auch Start-ups, bei denen junge Leute sich zusammen tun, mit Gleichgesinnten eine Firma gründen, und sich vielleicht mit anderen Firmen zusammen tun, um bestimmte Kosten gemeinsam zu tragen. Freelancer, die sich mit anderen Freelancern vernetzen und gemeinsam agieren, Hilfsorganisationen, hinzu kommt der gesamte Bereich der solidarischen Ökonomie. Ein ganzes fluides Netz an Miteinander-Ökonomien, deren Ausformungen ganz unterschiedlich sein können, aber die weder wirklich zum privatkapitalistischen Kommerzsektor noch zum staatlichen Sektor zählen. Ökonomie, jenseits von Staat und Markt.

Orthodoxe Marxisten würden all das als Tropfen auf dem heißen Stein charakterisieren, als Inseln im kapitalistischen Ozean, die nichts als Nischen sind, letztendlich unbedeutend.

Marx selbst sah in den ersten Kooperationsfabriken seiner Zeit den praktischen Beweise dafür - so schreibt er 1867 an die Delegierten der Internationalen Arbeiterassoziation - „dass der Kapitalist ebenso überflüssig geworden ist, wie er selbst den Großgrundbesitzer überflüssig fand“. Diese Fabriken waren für ihn, ebenso wie die große Aktiengesellschaft „Übergangsformen aus der kapitalistischen Produktionsweise in die assoziierte“, sie seien „das erste Durchbrechen der alten Form“, der „Übergangspunkt zu einer neuen Produktionsform“, sie zeigten, „dass das bestehende despotische und Armut hervorbringende System der Unterjochung der Arbeit unter das Kapital verdrängt werden kann durch das republikanische und segensreiche System der Assoziation von freien und gleichen Produzenten“. Freilich, so fügt Marx an, sei  das Kooperativsystem allein „niemals imstande, die kapitalistische Gesellschaft umzugestelten“, dazu bedürfe es der „Veränderungen der allgemeinen Bedingungen der Gesellschaft durch eine Staatsmacht, die nicht in den Händen der Kapitalisten und Grundbesitzer“ sei.

Und heute? Heute schreibt der britische Wirtschaftsautor Paul Mason: „Ich glaube, dass diese Projekte uns eine Rettungsgasse bieten - aber nur, wenn diese Projekte des Micro-Levels gehätschelt werden, wenn wir sie bewerben und wenn sie geschützt werden, indem die Regierungen anders handeln. Aber wir sollten uns und anderen auch sagen: Das sind nicht nur Überlebensprojekte, kleine Befestigungsanlagen in der bösen neoliberalen Welt, sondern sie sind wohl eher neue Lebensformen in einem Veränderungsprozess (...)  Ein neuer Pfad öffnet sich, der kooperativen Produktion.“

Mason sieht in Genossenschaften „reale Utopien“, die als kleine Nischen beginnen und sich zu Räumen ausweiten, wie kleine Steinchen, die man ins Wasser wirft, konzentrische Kreise ziehen können. Natürlich, nicht einfach so, nicht einfach in einem luftleeren Raum ohne Macht und Konflikt, aber in dem man durch politische Kämpfe das Terrain ausweitet.

Ob das geschieht, und wie: auch das hat etwas mit der Geschichte der Kooperation unter dem Kapitalismus zu tun. Und deshalb ist es jetzt Zeit, ein weiteres, vielleicht noch komplizierteres Problem anzusprechen - eines der Psychen und der Mentalitäten:

Der Doppelcharakter der Kooperation, den Marx beschrieb, heißt ja auch: einerseits haben die Fabrik und später auch das Büro in einer Art Kommandodiktatur die Geselligkeit und den Eigensinn der Menschen in den Dienst der kapitalistischen Produktion gezwungen.  Andererseits haben sich die Menschen in der Geschichte dieser Kooperation auch verändert. Haben in dieser Arbeit ihre Fähigkeit zur Kooperation und zur Solidarität allererst gelernt und verfeinert.

Von Epoche zu Epoche entstanden so neue Einstellungen zur Arbeit,

neue gesellschaftliche Leitbilder, man könnte diese auch Wertvorstellungen nennen, etwa die Wertvorstellung, dass man aus seinen Leben etwas machen soll, dass es darum ginge, seine Talente zu entwickeln, sich selbst zu verwirklichen, kreativ zu sein. Dieser Wert der Kreativität wird heute ganz generell hoch gehalten, und die bloße Ausführung kommandierter Arbeitsschritte gilt nicht als etwas, was uns befriedigt. Daraus folgt nicht unbedingt, dass Kommando und Disziplinierung deswegen heute an Bedeutung verloren haben, sondern es entstand ein neuer Subjekttyp, der die Aufsicht, die früher externalisiert war, gleichsam internalisiert: Das sich selbst disziplinierende, sich durch „Technologien des Selbst“ beaufsichtigende Individuum, wie Michel Foucault das nannte.

„Die Produktion produziert ... nicht nur einen Gegenstand für das Subjekt, sondern auch ein Subjekt für den Gegenstand“, hatte Marx in den „Grundrissen“, seiner monumentalen, dann beiseite gelegten Vorstudie zum „Kapital“ geschrieben. Das heißt, das Wesen des Menschen ist nichts Essentielles, Vorgängiges, etwas was immer schon da ist, jenseits seiner konkreten gesellschaftlichen Gemachtheit. Auch der kooperierende Mensch ist also, zumindest bis zu einem hohen Grade, gemacht, von Geschichte und Gesellschaft gewissermaßen produziert, formatiert, montiert. In einer Gesellschaft, in der wir eng mit anderen zusammen leben und arbeiten, entsteht eben sowohl die Idee der Individualität als auch die Idee der Kooperation. Einerseits will man sinnvolle Tätigkeiten ausüben, sich selbst verwirklichen; andererseits braucht man die Aufgehobenheit und die Anerkennung in der Gruppe. Übrigens auch so ein Doppelcharakter: Das Individuum, das auf diese Weise gleichsam historisch produziert worden ist, hat von der Entwicklung seiner Talente auch nichts, wenn diese nicht von anderen anerkannt wird.

Und wenn der Wert der Kreativität und der Selbstverwirklichung heute weit höher eingestuft wird als noch vor hundert Jahren, als man dafür wahrscheinlich nicht einmal noch ein Wort hatte, dann heißt das auch: umso kränkender ist dann eine Existenzweise, ein Leben, das diesen Ansprüchen in den eigenen Augen nicht genügen kann.

Kooperation - so zitierten wir am Anfang unserer Überlegungen den Anfang des 11. Kapitels des Kapital - Kooperation ist „das Wirken einer größern Arbeiterzahl zur selben Zeit, in dem selben Raum (oder, wenn man will, auf demselben Arbeitsfeld)“.

Im selben Raum oder auf demselben Arbeitsfeld, da steckt das große Problem der näheren Zukunft: Das Arbeitsfeld der Kooperierenden hat sich im Laufe der kapitalistischen Jahrhunderte sehr verändert, vor allem aber sehr erweitert. Durch die Globalisierung kooperieren Arbeiter, die weit auseinander tätig sind, oft durch Ozeane getrennt. Und das Feld der Kooperation erweitert sich grad noch einmal durch die Informationstechnologie, die eine neue Dichte der Kooperation möglich macht, aber auch neue Formen der Ausbeutung, etwa durch Crowd-Working. Wie die solchermaßen kooperierenden, aber voneinander Getrennten noch so etwas wie Solidarität oder Verhandlungsmacht entwickeln könnten - das steht in den Sternen. 

Aber die Initiativen, NGOs, Firmen und Kooperative, die in unserer Zeit entstehen, sind ja nicht nur Formen, die Krise zu überleben oder zu unterlaufen. In dem Netzwerk, das sie miteinander bilden, könnte man ja auch einen Nukleus eines Sozialismus neuer Art sehen. Eine Form von Gemeinwirtschaft, von Miteinander-Ökonomie, die völlig dezentral organisiert ist – einen Sozialismus, der nichts mehr mit dem bürokratischen Moloch früherer Staatswirtschaften gemein hat.

Vielleicht müssen wir nur lernen, die Dinge richtig zu betrachten. Wie bei diesen berühmten Vexierbildern, bei denen man, wenn man sie von der einen Seite betrachtet, etwas völlig Chaotisches, Undefinierbares sieht, und erst, wenn man richtig hinschaut, ein Bild entsteht?

Womöglich ist das mit unserer Wirtschaft nicht anders: Wir glauben, wir leben in einer Ökonomie, in der sich alles nur um Kommerz, Profit, materiellen Reichtum und den daraus resultierenden Status dreht. Alle anderen Formen von Wirtschaften erscheinen uns daher als irgendwie außerökonomisch, als Aktivität irgendwelcher Irrer mit komischen Spleens, als Beschäftigungstherapie für Gutmenschen. Seien es Selbsthilfegruppen, Tauschringe, Kooperativen oder altruistische Hilfsprojekte. Aber vielleicht sehen wir unsere Welt damit ja völlig falsch, in dieser Zwischenzeit, in der wir leben - in der das Alte nicht mehr geht, und das Neue noch nicht da ist.

0 commenti

Vuoi essere la prima persona a commentare?
Abbonati a Vernunft und Ekstase e avvia una conversazione.
Sostieni