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Sonne und Tinte sind getankt, wir sind wieder am Start. Für alle, die neu dabei sind: Herzlich Willkommen bei der Treibhauspost! 

Was steht wohl 2050 in den Schulbüchern über dieses Jahr, 2021? Eine mögliche Klausurfrage einer 10. Klasse im Fach Klimageschichte: 

1 a) Welche klimapolitischen Forderungen und Wünsche gab es Anfang der 20er in der deutschen Bevölkerung?
1 b) Erläutere die Bedeutung des ersten Bürgerrat Klima für die aktuelle Klimapolitik.

Zumindest die erste Frage können wir beantworten – als Zeitzeugen ...

#09 Bericht

82 Millionen an einem Tisch

160 Menschen, 12 Sitzungen, ein Thema. Der erste Bürgerrat Klima ist beendet. War das Ganze nur ein kurzfristiges demokratisches Experiment oder wurde hier Klimageschichte geschrieben? ~ 7 Minuten Lesezeit

In den vergangenen Monaten lief ohne viel Tamtam ein politisches Pilotprojekt mit Zukunftspotential. Zum ersten Mal in Deutschland fand ein “Bürgerrat Klima” statt. Die Idee dahinter: Ein repräsentatives “Mini-Deutschland” wird von Wissenschaftler°innen zur Klimakrise gebrieft, diskutiert miteinander und arbeitet anschließend Empfehlungen für die Klimapolitik aus.

Vor kurzem sind die Ergebnisse veröffentlicht worden – mit einigen Überraschungen. Wir haben sie uns durchgelesen und die wichtigsten und kontroversesten Punkte für euch zusammengefasst.

Der erste deutsche “Bürgerrat Klima”

Was die Wissenschaft sicher weiß: Die Auswirkungen der Klimakrise sind menschengemacht. Und sie sind verheerend. Was sie noch nicht weiß: Zu welchen einschränkenden Maßnahmen wären Menschen bereit, um dagegenzuhalten? Und unter welchen Umständen?

https://www.youtube.com/watch?v=daVBmsUTp20 (Si apre in una nuova finestra)

Klimaforscher Rahmstorf fasst für die Teilnehmenden in einer halben Stunde die wichtigsten Fakten zusammen – sehenswert. 🎥: Youtube

Vor einem Jahr veröffentlichte Scientists for Future deshalb eine Stellungnahme, in der sie dringend die Einberufung einer zivilgesellschaftlich organisierten “Klima-Bürger°innenversammlung” forderten. Für ein solches von der Politik organisiertes Instrument gab es nämlich im deutschen Bundestag bisher keine Mehrheiten.

Kein Jahr später wird das Ganze Wirklichkeit. Der Verein BürgerBegehren Klimaschutz e.V. ruft in Kooperation mit weiteren Organisationen den ersten “Bürgerrat Klima” zusammen. Rund 15.000 Menschen werden initial dafür angeschrieben und 160 davon so ausgelost, dass ein möglichst repräsentatives “Mini-Deutschland” entsteht.

Behind the scenes: Dank Corona fand der Bürgerrat Klima komplett digital statt. 📸: buergerrat-klima.de

Und nun liegen auf 106 Seiten Power-Point-Party die “Empfehlungen für die deutsche Klimapolitik” dieses ersten deutschen Bürgerrats zum Thema Klima vor.

Was sich Deutschland wirklich von der Klimapolitik wünscht – die vier wichtigsten Erkenntnisse

Über jede Empfehlung wurde am Ende der Sitzungen abgestimmt. Zur Einordnung vorab: Die durchschnittliche Zustimmung liegt bei beeindruckenden 90 Prozent!

1) Im Grundsatz sind fast alle für Klimaschutz

Den grundlegenden Punkten wurden mit überwältigender Mehrheit zugestimmt. Leitsatz Nummer 1, “Das 1,5°C-Ziel hat oberste Priorität”, bekam 95 Prozent Zustimmung. Einig waren sich die Bürger°innen auch darin, dass der Klimaschutz Bestandteil aller Bildungsangebote sein sollte (96 Prozent Zustimmung).

Tatsächlich wurden alle zehn Leitsätze mit einer Ausnahme mit über 90 Prozent Ja-Stimmen angenommen. Einzig beim Punkt der Generationengerechtigkeit wurde dem Absenken des Wahlalters auf 16 Jahre “nur” mit 84 Prozent zugestimmt.

2) Bereit für Veränderungen und Innovation

Vor allem in den vier Handlungsfeldern Energie, Mobilität, Gebäude & Wärme sowie Ernährung wird deutlich, zu wie viel neuen Maßnahmen die Menschen bereit sind. Diverse Empfehlungen mit klarer Zustimmung gibt es für Erneuerbare Energien – selbst wenn das häufig triggernde Wort “Pflicht” dabei ist. Mit dabei: Photovoltaik-Anlagen auf Dachflächen, zwei Prozent der Flächen für Wind und Solarparks und ein Kohleausstieg bis 2030.

Kleiner Stilbruch, große Klimawirkung: viel Zustimmung für eine Solarzellenpflicht auf Dächern. 📸: CC-BY-SA-3.0

Im Bereich Mobilität gehen die Empfehlungen über einen Ausbau der Radverkehr- und Bahninfrastruktur, die Vermeidung von Kurzstreckenflügen (91 Prozent Zustimmung!) bis hin zu der Reduzierung von Verkehr durch einen Homeoffice-Anspruch, da wo es möglich ist.

Zweifel an Innovation hat das “Mini-Deutschland” ausgerechnet – beim Auto. Einer Förderung des autonomen Fahrens im öffentlichen Verkehr stehen 28 Prozent der Teilnehmenden kritisch gegenüber. Und die Einführung einer City Maut zur Entlastung von Innenstädten vom Autoverkehr ist sogar die einzige Empfehlung, die am Ende des Bürgerrats von der knappen Mehrheit (51 Prozent) abgelehnt wurde.

Im Bereich Gebäude und Wärme sollen unter anderem ökologische und in einer Kreislaufwirtschaft verwertbare Baustoffe verwendet werden. Außerdem soll eine standardisierte, zukunftsfähige Dateninfrastruktur als Planungsgrundlage im Bereich der Gebäudesanierung entwickelt werden.

Im letzten Handlungsfeld, Ernährung, wird deutlich, dass die aktuelle Landwirtschaftspolitik komplett am eigentlichen Wunsch der Bürger°innen vorbeigeht: Ganze 99 Prozent stimmten für eine Umorientierung des Landwirtschaftsgesetz auf den 1,5°C-Pfad. Das hieße unter anderem keine Subventionen mehr nach Fläche, sondern nach Umweltleistung. Einigkeit herrschte auch bei der Eindämmung der systematischen Überproduktion von Lebensmitteln und bei einer klimafreundlichen EU-Agrarpolitik mit Deutschland als Vorreiter.

3) Ziele vor Maßnahmen

Die Erkenntnis ist nicht neu, aber nochmal auffällig, so schwarz auf weiß: Klimaschutz-Ziele klingen erstmal toll, bei konkreten Maßnahmen, um diese zu erreichen, zögern aber viele. “Der Klimawandel muss sozial gerecht sein” – dabei (97 Prozent)! Ein “Klima-Budget” pro Kopf – mal gucken (65 Prozent).

Oder konkreter im Bereich Ernährung: Die Empfehlung “Emissionsminderung durch Reduzierung der Nutztierbestände” bekommt 93 Prozent Zustimmung. Einem “weitgehenden Verzicht auf Fleisch- und Milch-Produkte” stimmen dann nur noch drei Viertel der Teilnehmenden zu. Weniger Nutztiere klingt scheinbar besser als weniger Fleisch essen.

Leichter Widerspruch: lieber weniger Nutztiere halten als weniger Fleisch essen. 📸: CC BY-SA 2.0

Anderes Beispiel: Mobilität. Der mit 97 Prozent Zustimmung angenommene Leitsatz ist “Alle Maßnahmen [...] müssen ab sofort mit oberster Priorität das Ziel der weitgehenden Klimaneutralität berücksichtigen.” Eine der einfachsten Maßnahmen für dieses Ziel ist laut Wissenschaftler°innen ein generelles Tempolimit. Aber selbst im Bürgerrat – nur 58 Prozent Zustimmung.

4) Deutschland first

Interessant ist auch die Stimmungslage, wenn es über die Grenzen der Bundesrepublik hinausgeht. Dass der Klimawandel global gerecht sein muss, ist der Leitsatz mit der zweitwenigsten Zustimmung. 

Und zu einem “Ja” dafür, dass ein Anteil der nationalen CO₂-Steuer für die Abfederung globaler Klimafolgenschäden eingesetzt wird, konnten sich nur 73 Prozent durchringen (zur Erinnerung: Durchschnittlich gab es 90 Prozent Zustimmung).

Was die Menschen im Ahrtal im vergangenen Monat durchmachen mussten, passiert leider auch weltweit immer häufiger. 📸: Ahrtahl, private Aufnahme

Nur ganz wenige der 94 zur Abstimmung stehenden Punkte beziehen sich überhaupt auf internationale Klimapolitik. Die Themenwahl für den ersten Bürgerrat Klima fokussiert sich ganz klar auf Deutschland – das war aber schließlich auch die Zielsetzung. 

Und jetzt?

Was passiert mit den Empfehlungen? Wie sind die Reaktionen aus der Politik? Wie geht es weiter mit dem Bürgerrat Klima? Ich habe mit einem gesprochen, der den Bürgerrat von Anfang an begleitet hat. Steffen Krenzer arbeitet beim Verein Mehr Demokratie (Si apre in una nuova finestra), der weltweit größten Nichtregierungsorganisation, die sich für direkte Demokratie einsetzt, und ist Projektleiter bei die-klimadebatte.de (Si apre in una nuova finestra).

Für ihn sei das Ergebnis deutlich: Ein Großteil der Menschen sei offen für gesellschaftliche Innovationen und grundlegende Veränderung in der Klimapolitik. Aber erst nach ausreichend Zeit, um sich mit den Themen auseinanderzusetzen. Und genau hier liege auch die zentrale Herausforderung.

Aus Krenzers Sicht müsse es eine gesamtgesellschaftliche Diskussion und weitreichende Bildungsangebote zur Klimakrise geben. In den letzten Jahren habe es aus der Politik aber kein Interesse gegeben, diese zu schaffen. Und in den Medien sei das Thema zwar zum Glück aktuell viel vertreten, die Diskussionen aber häufig irreführend.

“Wenn man sich momentan die Talkshows anguckt, gibt es häufig eine Vertreterin aus der Wissenschaft, die Klimafakten auf den Tisch legt und einen Vertreter aus Politik oder Wirtschaft, der dagegenredet. Es entsteht der Eindruck, Klimawissenschaft sei Meinungssache. Tatsächlich gibt es aber einen Konsens von 99 Prozent in der Klimawissenschaft. Und der ist momentan noch absolut unterrepräsentiert in der öffentlichen Debatte.” – Steffen Krenzer

“Viel repräsentativer als das Parlament”

Der Bürgerrat sei natürlich nicht perfekt, sagt Krenzer. So haben beispielsweise nur sehr wenige Menschen teilgenommen, die sich kaum oder gar nicht für das Thema Klima interessieren. Das sind in Deutschland aber immerhin gut 20 Prozent. Dennoch sei der Bürgerrat viel repräsentativer als das Parlament, zumal dort Menschen, die sich überhaupt nicht für Politik interessieren und nicht wählen gehen auch nicht vertreten seien.

Haben ihr Ziel im Namen: Der Verein Mehr Demokratie hat den Bürgerrat Klima mitorganisiert. 📸: mehr-demokratie.de

Für die Ergebnisse wünscht sich der Mitorganisator, dass sich Politiker°innen verschiedener Parteien die Empfehlungen wohlwollend anschauen und bestenfalls mit in den Koalitionsvertrag einbeziehen. Er betont allerdings, dass sie nicht zwingend eins zu eins umgesetzt werden sollen. Dafür seien manche Themen viel zu komplex, als dass man sie in der kurzen Zeit mit allen Wechselwirkungen hätte im Bürgerrat erörtern können. “Viel wichtiger ist der Wille der Bürger°innen dahinter. Die Richtung, in die es gehen soll”, sagt Krenzer.

Und die scheint eindeutig: Die Menschen wünschen sich, dass die Klimakrise endlich in politische Entscheidungen miteinbezogen wird.

Wird der Bürgerrat Klimageschichte schreiben?

Die Ergebnisse des ersten deutschen Bürgerrat Klima sind überraschend in ihrem klaren Bekenntnis zum 1,5°C-Ziel. Die Realitäten der Bürger°innen und die der aktuellen (Klima-)Politik trennen offenbar Welten. Damit decken sich die Ergebnisse mit denen aus anderen Ländern. Aus den Bürgerräten Dänemarks, Frankreichs und anderen europäischen Ländern klingen die Töne ähnlich. Staatenübergreifend entscheiden sich informierte Bürger°innen klar pro Klimaschutz.

Das Konzept der Klima-Bürgerräte hat international erst in den letzten zwei Jahren Fahrt aufgenommen. Nur wenige Wochen alt ist das europäische Netzwerk KNOCA (Si apre in una nuova finestra), welches sich zum Ziel gesetzt hat, die internationalen Klima-Bürgerräte zu vernetzen und eine Plattform für Wissensaustausch zu bieten.

Ob der erste deutsche Bürgerrat Klima wirklich Geschichte schreibt und Schüler°innen in dreißig Jahren Spick-Screens mit dessen Ergebnissen mit in ihre Klausur nehmen, hängt dabei auch von den Bundestagswahlen im nächsten Monat ab. Bindend sind die Ergebnisse für die Politik nämlich nicht. “Bleibt die Klimapolitik nach den Wahlen so wie jetzt und ignoriert die Ergebnisse, wird es wohl keinen zweiten Bürgerrat Klima geben”, sagt Krenzer.

Mehr Demokratie: Noch vor und vielleicht bald im Bundestag? 📸: demokratie.buergerrat.de

Sollte sich der neue Bundestag jedoch mit diesem neuen demokratischen Instrument für die größte Krise unseres Jahrhunderts anfreunden, sei vieles möglich. Ein regelmäßig stattfindender Bürgerrat, der gemeinsam mit der Politik erörtert, welche Maßnahmen gegen die Klimakrise in der Bevölkerung Akzeptanz finden – das wäre doch eine echte gesellschaftliche Innovation. 

Krenzers Organisation Mehr Demokratie setzt sich aktuell dafür ein, dass Bürgerräte rechtlich verankert werden. Würde das passieren, müsste die Politik sie in Zukunft in ihre Entscheidungen mit einbeziehen. Wieder einmal zeigt sich, dass für den Klimaschutz der unromantische Weg über die Verfassung vielversprechend sein kann. Aktuell ist das noch Zukunftsmusik. Aber wer weiß, wie es 2050 aussieht, während die Schüler°innen ihre Klausur schreiben.

Das war’s für diesen Samstag. Apropos Samstag – da hätten wir noch eine Frage an Dich. Hättest Du eigentlich lieber an einem anderen Tag Post von uns? Über diese Umfrage (also wirklich nur eine Frage) kannst Du uns Feedback geben:

ZUR UMFRAGE (Si apre in una nuova finestra)

Wenn Du uns dabei unterstützen willst, die Klimakrise mehr Menschen zugänglich zu machen, kannst Du eine von drei Sachen tun:

Schönes Wochenende
Julien

Argomento Utopien

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