Tin Hearts und eine Geschichte über standhafte Zinnsoldaten
Als ich mir vorhin den Trailer (Si apre in una nuova finestra) zum kommenden Puzzle-Adventure Tin Hearts angesehen habe, in dem Zinnsoldaten ein Kinderzimmer erkunden, musste ich sofort an Hans Christian Andersen (1805 -1875) denken. Ich habe die Geschichten des dänischen Schriftstellers damals im Studium gelesen, darunter auch "Der standhafte Zinnsoldat" von 1838.
So fängt es an:
"Es waren einmal fünfundzwanzig Zinnsoldaten, alles Brüder, denn man hatte sie aus einem großen alten Zinnlöffel gemacht. Das Gewehr hielten sie im Arm und das Gesicht geradeaus. Sie waren einfach herrlich in ihrer roten und blauen Uniform anzuschauen."
Natürlich war H.C. Andersen kein Wargamer, aber Mitte des 19. Jahrhunderts boomten Soldatenfiguren aus Zinn, die vor allem nach dem Siebenjährigen Krieg (1758-1763) europaweit beliebt waren.
Ein Zentrum ihrer Herstellung war Nürnberg, wo übrigens ein Jahr nach Andersens Märchen ein Ernst Heinrichsen (Si apre in una nuova finestra) die Lizenz zum "Gießen bleierner Kinderspielwaren aus sogenanntem Rose´schen schnellflüssigen Metalle" erworben und sich mit seinem Handwerk selbständig gemacht hat. Bis ins 20. Jh. wurden dort über mehrere Generationen 16.000 Soldaten designt, die im Firmenarchiv erhalten sind.
Einer der prominentesten Vorlagenzeichner war Carl Alexander Heideloff (1789-1865), der hauptberuflich als Architekt, und Restaurator bekannt war; dass der heute als früher Denkmalpfleger geschätzte Kunsthistoriker auch mal Zinnsoldaten designt hat, wird selten erwähnt.
Die Tradition reicht allerdings noch viel weiter zurück, bis in die Antike. Reichere Familien ließen in Rom z.B. Gladiatoren gießen, mit denen Kinder spielen konnten; auch wenn figürliche Terracotta-Funde wesentlich häufiger sind und kaum etwas neben einzelnen Vorlagen wie dieser, eines Paegniarius mit Peitsche (Si apre in una nuova finestra), erhalten ist.
Aus dem Mittelalter gibt es den größten Fund übrigens aus Magdeburg, der als zweibändige Studie, u.a. von Daniel Berger, im Verlag Beier & Beran (Si apre in una nuova finestra) besprochen wird: Etwa 450 steinerne Gussformen aus dem 13. Jahrhundert, die u.a. Ritter zu Pferd zeigen, wie auf dem Bild links zu sehen ist.
Allerdings ist hier fraglich, ob und wer damit gespielt hat. Denn diese Blei-Zinn-Legierungen wurden meist an Wallfahrtsorten an Pilger verkauft, die sie nicht für Tabletop-Gefechte einsetzten, sondern als heilende Glücksbringer an erkrankten Stellen trugen oder sogar in Wein tunkten. Das Geschäft mit diesen In-Glauben-Items florierte übrigens: Im Jahr 1466 wurden im Kloster Einsiedeln in zwei Wochen mehr als 130.000 (sic!) Pilgerzeichen verkauft.
Aber etwa zur selben Zeit begann auch der Aufstieg der Alltags-Zinnfiguren, die im 16. Jahrhundert auch zum Lernen und als Spielzeuge noch nicht so klar mit Soldaten verbunden waren, wie es nach dem Siebenjährigen Krieg der Fall war. Sie entwickelten sich aus dem Mittelalter von flachen 2D-Modellen zu voll bemalten 3D-Figuren, selbst Spieltische (Si apre in una nuova finestra) dienten preußischen Offizieren zur Simulation von Gefechten und nahmen heutige Tabletop-Ausstattungen vorweg. Allerdings war der Erste Weltkrieg auch spielkulturell eine erste Zäsur, in der Soldaten in Kinderzimmern hinterfragt wurden. So ganz verschwanden sie nicht und das Militärische prägte spätestens in den 30ern auch wieder die Gesellschaft, wie dieses Poster aus Berlin zeigt:
Erst nach dem Zweiten Weltkrieg konnte langsam ein wunderbares Hobby aus diesen Wurzeln entstehen, das natürlich eng mit der Geschichte der Wargames verknüpft ist; mehr dazu in dieser Erkundung (Si apre in una nuova finestra) oder dieser Vertiefung (Si apre in una nuova finestra). Und seit den Anfängen der Videospiele bewegt und verändert sich der Spielzeugsoldat fortwährend weiter.
Und da wären wir wieder bei Tin Hearts und Hans Christian Andersen. Denn sein schönes Märchen, das scheinbar so verherrlichend militärisch beginnt, besticht trotz seiner romantischen Töne auch durch eine kritische Perspektive, in der der menschliche Spieler nicht unbedingt sympathisch wirkt: "Da nahm der eine der kleinen Knaben den Soldaten und warf ihn gerade in den Ofen, obwohl er gar keinen Grund dafür hatte; es war sicher der Kobold in der Dose, der schuld daran war. Der Zinnsoldat stand ganz beleuchtet da und fühlte eine Hitze, die erschrecklich war; aber ob sie von dem wirklichen Feuer oder von der Liebe herrührte, das wußte er nicht."
Da schließt man als Leser natürlich den Zinnsoldaten und dessen vermeintliche Liebe, die elegante Tänzerin, ins Herz, die so wie das andere Spielzeug samt Nussknacker und einem garstigen Kobold jeden Abend lebendig wurde. Ohne das Wissen der Kinder trieben sie alle ihren Schabernack.
Ob auch dem britischen Team von Rogue Sun (einige Ex-Entwickler von Fable sind dabei) mit Tin Hearts eine charmante Anziehungskraft gelingt? Ob sie H.C. Andersen auf eine Art zitieren? Auch dort geht es jedenfalls nicht um Gefechte wie in Toy Soldiers, sondern um Rätsel und Erkundungen in einem Kinderzimmer, durch das ein Trupp Soldaten wandert. Inwiefern sie spielerisch überzeugen können, kann ich noch nicht einschätzen.
Tin Hearts erscheint am 20. April 2023 für PC, PS4/5, XBS und SW. Wer reinspielen möchte, kann sich für die geschlossene Beta (Si apre in una nuova finestra) registrieren, die am 10. Februar startet.
https://youtu.be/Llo3W3xZrPQ (Si apre in una nuova finestra)(Bilder, von oben nach unten: Kind mit Zinnsoldaten, 19. Jh., unbekannter Maler, gemeinfrei; Der Magdeburger Gießformenfund, Landesmuseum für Vorgeschichte Bd. 76, Beier &Beran, 2020; Plakat, Julius Klinger, um 1930, Berlin, gemeinfrei.)