Ratlosigkeit
Adventskalender 2024 - Drei - 3. Dezember
Ratlosigkeit ist die Überschrift über einem Teilkapitel in meinem Buch FeuerAlarm …
Zur Erklärung: Jedes Kapitel beinhaltet einen oder zwei, drei oder noch mehr Tage - oder eine ganze Woche. Es ist gewissermaßen das Tagebuch einer Klima-Suffragette für den Zeitraum Januar 2022 bis September 2022. Also von mir …
Die einzelnen Tage haben je eine eigene Überschrift. Ein Stichwort des Tages sozusagen. …
Der Tag, der die Überschrift Ratlosigkeit trägt, erzählt unter anderem von einem Gespräch mit einem KlimaSchutz-Manager eines katholischen Bistums - also einer “katholischen Landeskirche” - in dem ich fragte, wie wir das denn schaffen können, dass sich die Kirche mal eindeutiger positioniert. Dass sie also nicht einfach nur ihr eigenes Image pflegt, indem sie beteuert, dass sie schon definitiv “für dass Gute” ist, also für Frieden, soziale Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung. Sondern dass sie öffentlich anerkennt, dass der gesamtgesellschaftliche, wirtschaftliche & politische Kurs, auf dem wir uns befinden, mit “diesem Guten” - mit der Idee des guten Lebens #füralle - definitiv nicht vereinbar ist. Und noch einen Schritt weiter: Dass sie sich ganz klar und deutlich hinter diejenigen stellt, die unignorierbar wie ein Feueralarm friedfertigen zivilen Widerstand gegen die Zerstörung der Lebensgrundlagen leisten.
Wenn der Bischof das so klar & deutlich & öffentlich täte, müsste er eine Woche lang Emails von empörten “alten, weißen Männern” beantworten, sagte mir der Umweltschutz-Manager. Ja, aber doch während der Arbeitszeit, dachte ich. … Und es wäre ja schon irgendwie sein Job, genau das zu tun und auszuhalten und nicht nur in der eigenen Bubble Symbolaktionen “zu feiern”, die dort allen Freude machen, ohne die gesamtgesellschaftliche & globale Lebenswirklichkeit zu verändern. …
Ich blieb also hartnäckig und bestand darauf, dass wir nicht weiterhin über Dinge reden, die wir alle schon gemacht haben: Schöne Gottesdienste zum Thema, gute Texte, tolle Lieder, berührende Symbolaktionen, wie das Tragen von Särgen durch die Fußgängerzone und das Anzünden von Grablichtern, um der bereits durch die menschengemachte KlimaKatastrophe & Biodiversitätskrise ausgestorbenen Arten zu gedenken - und Demos & Mahnwachen & Vorträge, Workshops, Seminare & Infostände, Ausstellungen & Projekttage an Schulen & Kinder-Bibel-Erlebnistage zum Thema … Sondern dass wir uns klar machen: Auch für einen kinderlosen, alten, weißen, wohlhabenden Mann, der also persönlich nicht mehr in seinem Leben besonders stark unter den Folgen der KlimaKatastrophe (oder auch eines fortschreitenden Rechtsrucks) zu leiden haben wird, gibt es theologische bzw. christliche Gründe, sich der Zerstörung der Lebensgrundlagen künftiger Generationen und der Menschen im Globalen Süden entschieden in den Weg zu stellen und nicht nur an Individuen zu appellieren, sich selbst möglichst nicht an dieser Zerstörung zu beteiligen, indem sie ihren ökologischen Fußabdruck verkleinern - und dabei selbst so ein mittelgutes Vorbild sein zu wollen. Also, wie kriegen wir das hin, dass diese Einsicht zu faktischem Handeln im Sinne des sich-dem-fossilen-Weiter-so-in-den-Weg-Stellens wird?
Die Antwort meines Gesprächspartners war: “Weiß ich auch nicht.” Und er wirkte - erstmalig im Gespräch - authentisch erschöpft, frustriert und ratlos.
(Zuvor hatte er mal zugegeben, dass er froh ist, selbst keine Kinder zu haben. Denn man könne der jetzt jungen Generation nur alles Gute wünschen, bei dem, was da auf sie zukomme.)
Da antwortete ich intuitiv und sagte: “Wie wäre es, wenn Sie diese Ratlosigkeit mal öffentlich zugeben würden?”
Diese Episode ist mir am Sonntag im Gespräch nach dem Lichterteppich (s. 1. Dezember 2024 (Si apre in una nuova finestra)) eingefallen, so dass ich sie als “Freundin der Freunde” der “Gemeinschaft der Freunde” erzählt habe.
Der Kontext war aber gerade ein anderer.
Es ging um die öffentliche Stellungnahme der deutschen Jahresversammlung der Quäker*innen zum Nahost-Konflikt - und irgendwie ging es damit einhergehend auch um eine Positionierung im Sinne des Friedenszeugnisses der Quäker*innen zum Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine.
Die Frage, die uns beschäftigt hat, war: Was können wir als Quäker*innen tun, um etwas zu bewirken - im wahrsten Sinne des Wortes: um eine Wirklichkeit des Friedens mitzugestalten.
Sind nicht viele Stellungnahmen mehr ein Inszenieren der eigenen Identität und irgendwie auch Imagepflege?
Ich positioniere mich so, dass ich in dem Umfeld, in dem ich mich befinde, nicht angegriffen werde.
Wenn ich dies sage, könnte ich antisemitisch genannt werden - ohne dass ich wirklich Judenhass verbreite und ohne dass ich das, was ich sage, auch nur im Ansatz so verstanden wissen will.
Wenn ich jenes sage, könnte ich rassistisch genannte werden - weil ich nicht antisemitisch sein will, aber dadurch den Eindruck erweckt habe, mir seien palästinensische / islamische / BIPoC Menschen egal.
Wenn ich mich gar nicht positioniere - wie kann ich das verantworten angesichts so viel Leid & Not & Schmerz? Wie könnte ich ignorant in meiner Komfortzone meinen Alltag leben - ganz ohne Caring?
Was ist, wenn ich zugebe, wie ratlos mich das alles macht?
Wenn ich auf 2024 zurückblicke:
Im Januar sind zurecht große Massen gegen Rechts auf die Straße gegangen!
Demokrat*innen müssen Antifaschist*innen sein.
Demokratie IST per definitionem antifaschistisch.
Demokratie schließt Faschismus aus!
Frieden schließt Faschismus auch aus. Gesundheit auch. Gerechtigkeit auch. Das gute Leben #füralle schließt Faschismus aus.
Faschismus ist mit nichts Gutem vereinbar.
Und da hieß es dann im Mai 2024: Wer den 8. Mai nicht explizit als Tag der Befreiung feiert, ist nicht antifaschistisch genug. Da braucht es eine ganz klar Positionierung. Ich kann mich da gerne so positionieren. Und ich kann das Eingreifen der Alliierten sehr gerne geschichtlich so einordnen.
Aber wie bringe ich das zusammen mit der Idee, dass es gut ist, selbst nicht in den Krieg zu ziehen?
Wie bringe ich das zusammen mit der Idee, dass die Ukraine nicht militärisch bei der Selbstverteidigung gegen den (faschistoiden) Aggressor Russland unterstützt werden soll, weil das nicht pazifistisch ist - weil es Friedensverhandlungen geben sollte?
Und was bedeutet all das für die Frage, welche Haltung ich öffentlich zum Nahost-Konflikt kommuniziere und auf welches Vokabular ich da achte, um nicht von den einen oder von den anderen sozial geächtet zu werden, weil ich aus ihrer Sicht etwas falsch formuliert habe?
Ich bin ratlos.
Ich möchte ins Schweigen gehen.
Lauschen. Schauen. Zittern. Beben. Weinen.
Das ist die Wirklichkeit. Ich bin sprachlos. Ich finde keine Worte.
Dabei geht es mir an sich gut. Ich lebe nicht im Krieg. Ich hab kein Kind zu Grabe getragen. Mein Wohnhaus liegt nicht in Schutt und Asche. Ich habe zu Essen und zu Trinken.
Ich möchte mit der Ratlosigkeit, die ich zugebe, einen Raum öffnen, in dem ich nicht ständig damit beschäftigt bin, mich zu inszenieren und mit allerlei Aktivitäten davon abzulenken, dass ich fassungslos bin.
Dann spüre ich Mitgefühl, Trauer, Angst und Schmerz. Wenn ich das aushalte und da hindurchgehe - erst einmal innerlich - lässt die Schockstarre & Lähmung nach. Dann will ich teilen. Das Gute, das ich habe. Das Schöne. Das Leben. Den Frieden. Die Demokratie. Das Essen. Das Trinken. Das Zuhause-Gefühl und das Wohnraum-Haben.
Dann also, wenn ich durch die Ratlosigkeit durchgegangen bin und aufgehört habe, mit anderen ums korrekte Formulieren zu kämpfen, dann kann ich mir die Frage stellen: Wie kann ich helfen? Was kann ich tun? Was habe ich zu geben?
Es ist so einfach, vom Sofa aus Pazifistin zu sein und die moralisch zu delegitimieren, die es nicht sind. Und ich kann mich vom Sofa aus so sehr empören, dass ich nie vom Sofa hochkomme. Oder ich kann meine Ratlosigkeit schweigend zugeben und die Verzweiflung zulassen, die mich zum Aufstehen zwingt, nachdem sie mich zum Weinen gebracht hat.
Ich werde in den nächsten Tagen noch weiter erzählen, was alles aus der Stillen Andacht mit Lichterteppich in der “Gemeinschaft der Freunde” am 1. Dezember 2024 für mich zum Klingen gebracht worden ist. …