Guten Tag, werte Lesende!
Impfscham, Diskriminierungsstolz, Quotenirgendwas – das Kompositum ist eine deutsche Sprachspezialität, gerade auch nostalgisch aufgeladene Worte wie Studentenwohngemeinschaft. Überleitungsgold. In unserer Studenten-WG gab es Geisteswissenschaftler, die rund um die Uhr in der Küche Bier tranken, rauchten und die Welt retteten. Die Naturwissenschaftler schlugen sich dann und wann durch den Küchenqualm bis zum Kühlschrank durch, griffen nach was Hochkalorigem, gaben uns den verdienten Verachtungsblick und verschwanden wieder, um weiter zu lernen. So wie Lothar. Er studierte Tiermedizin. Heute ist Lothar einer der wichtigsten deutschen Pandemielotsen. Lieber Lothar: Die alte WG ist sehr stolz darauf, dass wenigstens einer von uns eine ordentliche Beamtenlaufbahn geschafft hat. Wir spendieren ein Foto und einen Podcast. Unter uns: Weil ich diese Woche nicht so viel geschrieben habe, gibt's mehr zu hören.
An diesem Wochenende beginnt vielleicht der Sommer während die Pandemie womöglich endet. Passendes Kompositum: Erwartungsflexibilität.
Herzlich,
Hajo Schumacher
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Lothar der Woche
Beim Bierfassnachobentragen packte Lothar natürlich (im Bild rechts) mit an. Dank an Detlef Hacke vom Spiegel (links im Bild) für das ca. 36 Jahre alte Foto. Wer den Herrn in der Mitte erkennt, liest sicher auch gern den SZ-Sportteil.
Wer wissen will, um welchen Lothar es sich handelt – hier ist er zu hören. Wir erinnern uns wehmütig an eine Zeit, als man sehr wenige Fotos machte, aber wenn, dann im historischen Moment.
Kompositum der Woche
Erstmals in 57 Lebensjahren habe ich ein ganz klein wenig erfahren dürfen, wie sich dieser Rassismus anfühlen könnte. Ich gestehe: Lange Jahre war ich überzeugt, kein Rassist zu sein, ich dachte sogar, dieser Rassismus sei weitgehend ausgestorben; ich hatte ja selbst nie welchen erfahren. Neulich erklärte mir nun eine Konferenzorganisatorin, dass sie mich als Moderator wirklich gern buchen würde, aber leider sei das Podium schon voll mit älteren Herren heller Hautfarbe, weswegen sich der Veranstalter gegen mich entschieden habe. Botschaft: Egal, was und wie Du es tust, wir wollen Dich nicht wegen Deines Alters, Deiner Hautfarbe, Deines Geschlechts. Interessantes Gefühl – tut weh, macht hilflos, wütend. Habe ich so noch nie empfunden. Und ich verstehe, warum der Rassist besser nicht definieren sollte, was er unter Rassismus versteht. Ich schätze Dennis Aogo für seinen Mut, eine Whatsapp öffentlich zu machen in einem Geschäft, das Freisler-Vergleiche duldet, wo sich die beklopptere Hälfte der Fans an Aogo rächen wird, sobald sie wieder ins Stadion darf. Hier mein Kommentar zum Trotteltorwart (genau: mein Kompositum der Woche) Lehmann, dem Ex-Aufsichtsrat von Hertha BSC. Zum diesem Zeitpunkt noch nicht bekannt: Ein eigener verbaler Fehlttritt kostete Dennis Aogo wenig später den Job als Sky-Kommentator (Si apre in una nuova finestra).
Kommentar bei Radio Eins
Tweets der Woche
Neugier der Woche
Berufsbedingt empfand ich bisweilen Neugierscham. Dann kam Professor Maren Urner. Die Neurowissenschaftlerin erklärte uns, warum Neugier die wichtigste und edelste Triebfeder des Menschen ist. Das dazugehörige Kompositum: Neugierlappen. ("Neugieraffe" habe ich mich nicht getraut)
Wahlkampfproblem der Woche
Ja, es schmerzt, aber was Jan Böhmermann bietet oder Joko und Klaas und Tilo Jung schon länger, das ist kritischer, harter und reichweitenstarker Politikjournalismus, anders, aber so gut und glaubwürdig, dass wir Analoglurche uns das mal anschauen sollten. Kompositum: Leitartikelfixierungskrankheit.
Der große Graben
Bild, BamS, Glotze – der gute alte Medienmix war für Wahlkämpfer gut zu bedienen. Aber wie bringt man Politik zu Rezo, Joko, Klaas und Böhmermann?
Zum Regieren, erklärte einst Gerhard Schröder, brauche er nicht mehr als „Bild, BamS und Glotze.“ Mit der Boulevard-Zeitung lag der Kanzler zwar über Kreuz, so wie Vorgänger und Nachfolgerin, gleichwohl war die mediale Lage übersichtlich. Ein Vierteljahrhundert später hat das Internet den Wahlkampf verkompliziert. Wie lassen sich Themen setzen, Images aufhübschen, Botschaften steuern? Und wie erreicht man die jüngere Hälfte der Wahlberechtigten, die weder Zeitung noch Glotze nutzen?
Eine knackfrische Studie des Leibniz-Instituts für Medienforschung belegt, dass junge Menschen wenig Bezug zwischen klassischen Nachrichten und Leben sehen. Kein Wunder. Wenn ein Klimaschutzbremser wie Peter Altmaier jubelt, sobald das Bundesverfassungsgericht sein eigenes Gesetz zerlegt, karikiert sich der heilige Ernst des Nachrichtenaufsagens von allein. Wo endet heute, wo beginnt die heute-show?
Einst strukturierten TV-Nachrichten den abendlichen Ablauf der tendenziell andächtigen deutschen Familie. Vor, nach oder während des Abendbrots trugen Karlheinz Köpke und Dagmar Berghoff Gruseliges aus aller Welt vor. Heute ist die Nachricht ins Gerede gekommen, weil sie vorwiegend inszenierte Realitäten abbildet. Eine Pressekonferenz ist ja ebenso eine TV-gerechte Aufführung wie Konflikte in aller Welt. Kein Kleinkrieg, ohne dass PR-Profis für erwünschte Bilder sorgen. Donald Trump machte vor, wie sich unreflektierte Mechanismen für jeden Irrsinn gebrauchen ließen. Die Front derer, die sich inzwischen in News-Detox üben, reicht vom Silicon Valley bis zum Philosophen Rolf Dobelli.
„Wie wirklich ist die Wirklichkeit?“, fragte einst der Kommunikationsexperte Paul Watzlawick. Unser Nachwuchs hat von Kleinauf gelernt, dass klassische Medien gern inszenieren. Im Dschungelcamp sind die Dialoge vorgeschrieben, für DSDS werden Kräche inszeniert, im Talk regiert Rollenprosa. Glaubwürdigkeit bei Jüngeren genießen dagegen Figuren, die das eigene TV-Schaffen ironisieren, die blitzartig zwischen Ernst und Satire wechseln, auf Netz- und Zockerkultur, Kürzel und Memes anspielen. Stets sind kontrollierte Anarchie und der Bruch mit Boomer-Traditionen im Spiel, ob Joko und Klaas eine nachtlange Reportage die Arbeit von Pflegekräften im Yellow-Kanal ProSieben durchsetzen, Jan Böhmermann kompetent über sperrige Themen wie Sandmangel, Kunstfreiheit oder die Hohenzollerns referiert, Tilo Jung die Mächtigen grillt oder Mai Thi Nguyen-Kim den Virologen Streeck souveräner als jede Altkraft durch die Mangel dreht. Die TV-Quote bildet dabei oft den kleineren Teil der Gesamtreichweite; Zentralorgan ist Youtube. Dort aber wird das Abwerfen politischer Reklamezettel nicht geschätzt. Wie nun bringen eher ältere Wahlkämpfer jungen Demokraten politische Programme nahe?
Wie unkontrollierbar die neue digital befeuerte Medienwelt ist, erfuhr die CDU vor zwei Jahren, als ein junger Mann auf Youtube gut 50 Minuten lang am Stück gegen die Klimapolitik der Kanzlerin und ihrer CDU wetterte. Wir Journalisten schäumten: Was will der Grünschnabel? Haha, ein Influencer, möglichst ausgesprochen wie das Synonym für „Grippe“. Der macht doch sonst nur Quatsch-Videos. Und, natürlich, die blaue Locke – auch im 21. Jahrhundert so aufregungssicher wie ein Gender-Sternchen. Nur am Rande: Koloriert Gerhard Schröder nicht auch, wenn auch deutlich kastaniger?
Der junge Informatiker, der sich zum Schutz vorm Netzmob „Rezo“ nennt, holte für seine Klimakritik über 17 Millionen Zuschauer ab, mehr als der beste Liefers-Tatort. Nebenbei schaffte Rezo, wovon etablierte Journalisten oft ein Berufsleben lang vergeblich träumen: Er ließ die Parteiführung wanken, leitete das Ende der Hoffnungsträgerin AKK ein und damit die Führungsprobleme, die die CDU bis heute quälen. Ein Mensch, ein Mikron, eine Kamera, viel Recherche und keine wispernden Politstrategen. Eigentlich ganz einfach.
Mit freundlicher Genehmigung der Berliner Morgenpost
Gutes Rad der Woche
Ein echtes Neid-Bike, dieses Mifa-Klapprad, was mir Peter Stadali aus Weimar da schickte. Meine Hymne auf das Rad hatte unerwartet viele tolle Reaktionen. Danke dafür.
Storch der Woche
Nein, bitte keine Empfängnispanik. Wer den Storch findet, wird nicht schwanger. Sowas glaubt höchstens Friedrich Merz, der bedenklich früh bedenklich heftig schwächelt. Sauerland-Merz vs Scvhmalkalden-Maaßen - ein Traumduell.
Ich wünsche ein Sonnenwochenende.
Herzlich,
Hajo Schumacher
PS: Weil Euch historische Bücher so gut gefallen – dieses epochale Werk haben Maybrit Illner und ich 2009 fabriziert. Ha, und Robert Habeck ist dabei. Wer mehr wissen will, kann leider nicht nur ein Buch gewinnen, sondern muss gleich ein ganzes Dutzend abnehmen. Mail genügt. #Verschlankungsbedürfnis