Man will das nicht gut finden
Kurt Atterberg: Värmlands-Rhapsodie op. 36 (1933)
In den Schleichwegen zur Klassik stelle ich regelmäßig Musikstücke vor, die ich hörenswert finde. Ich schreibe ein paar Zeilen dazu, mit dem Ziel, dir den Zugang zu erleichtern. In der heutigen Episode muss ich das Gegenteil tun: Diesmal erschwere dir den Zugang, aber es muss sein. Wenn dich das nicht abschreckt, lies weiter – und unterstütze den Newsletter auf Steady. (Si apre in una nuova finestra)
Viele Komponisten, und noch mehr Komponistinnen, die ich in den Schleichwegen vorstelle, sind zu Unrecht in Vergessenheit geraten. Heute geht es um einen, den womöglich zu Recht kaum jemand kennt. Der Grund ist nicht primär seine Musik, sondern sein außermusikalisches Tun.
Die Diskussion um die Trennung von Werk und Künstler:in wird in der Musikwelt prototypisch an Richard Wagner geführt. Wagner war glühender Antisemit, und der erste Dirigent, der seine Musik in Israel aufführte, bekam massiven Ärger – das war im Jahr 2001. Daniel Barenboim dirigierte damals die Berliner Staatskapelle in Jerusalem und ließ als Zugabe das eine Stück von Wagner spielen, das als Wendepunkt in der europäischen Musikgeschichte gilt: Das Vorspiel der Oper “Tristan und Isolde”.
Barenboim machte sich für die Musik des Mannes stark, von dem der Autor Ludwig Marcuse schrieb, das Nazi-Regime habe “keinen größeren Ahnen und keinen vollendeteren Repräsentanten seiner Ideologie” gehabt als ihn. Der Jerusalemer Bürgermeister kritisierte die Aufführung, das Simon-Wiesenthal-Zentrum verlangte einen Boykott Barenboims, sein Leiter warf ihm “kulturelle Vergewaltigung” vor. Der Dirigent aber jubelte Wagner dem Jerusalemer Publikum nicht einfach unter, sondern fragte, ob es das berühmte Stück Musik hören wollte. Es gab großen Applaus, aber auch vereinzelte Buhrufe. Er entschied sich für die Empfindung der (gefühlten) Mehrheit und nahm den erwartbaren Eklat in Kauf.
In der Frage, warum Barenboim das gemacht hat, kulminiert das Problem der Trennung von Künstler:in und Werk. Die Frage lässt sich unterschiedlich betonen, und das ist wichtig: Warum hat Barenboim das gemacht? Aber eben auch: Warum hat Barenboim das gemacht? Heute betrachten wir eben nicht mehr nur das Werk selbst, sondern auch die Person, die es hervorgebracht hat – und die, die es interpretiert. Wir erinnern uns an das Gedicht The Hill We Climb, das die Autorin Amanda Gorman bei der Amtseinführung von Joe Biden und Kamala Harris vortrug. Die Diskussion darum, ob weiße Männer oder weiße Frauen das Werk einer Schwarzen US-Amerikanerin in andere Sprachen übersetzen könnten, oder auch: dürften, war hitzig und lang. Inhalt und Sprechende nicht mehr voneinander zu trennen, ist eine der großen ästhetischen, politischen, ethischen Wertverschiebungen der letzten Jahre. Man kann nun dafür kritisiert werden, worüber man sich zu äußern anmaßt. Das sind weiße Menschen nicht gewohnt, und die meisten Männer schon gar nicht. Deshalb gibt es Ärger.
Die gleiche Sache, ausgesprochen von zwei verschiedenen Menschen, ist nicht in jedem Fall die gleiche Sache. Schwule dürfen sich gegenseitig “Schwuchteln” nennen, Heterosexuelle dürfen Schwule nicht so nennen, wenn ihnen etwas am Anstand gelegen ist. Ein kritischer Umgang mit dem Problem kultureller Aneignung, ein Verzicht auf Praktiken wie das Blackfacing und die Vermeidung rassistischen Vokabulars sind nicht nur Beispiele für angemessene Umgangsformen, sondern auch für die zunehmende Berücksichtigung der Sprechort-Metaphysik.
Es führt also nicht irgendwer Wagner in Jerusalem auf, sondern Daniel Barenboim als argentinisch-israelischer Jude, als Gründer eines Orchesters mit zu gleichen Teilen arabischen und israelischen Musiker:innen, in seinem Heimatland, und nach Rücksprache mit dem Publikum. Und er führt Wagner nicht einfach irgendwo auf, sondern in Jerusalem, im Land derer, die der Komponist für “den geborenen Feind der Menschheit und alles Edlen in ihr” hielt. Und er führt nicht irgendein Stück von Wagner auf, sondern einen kurzen Ausschnitt aus der Oper, in der der eine Akkord vorkommt, der die Musikgeschichte verändern sollte: der Tristan-Akkord. Dieser bemerkenswerte Zusammenklang von Tönen war ein Meilenstein auf dem Weg der europäischen Kunstmusik, sich von der Tonalität zu lösen, also der Vorstellung, dass sämtliche Musik immer harmonisch irgendwo hin will. Es ist nicht klar, wohin die Musik nach dem Tristan-Akkord weiter will. Für musikgeschichtlich Interessierte ist der Tristanakkord also von großer Bedeutung – leider war sein Erfinder Antisemit.
Jetzt könnte man sagen, jenun, ein Akkord, darauf kann man vielleicht verzichten. Das Problem ist, dass auf Wagners Konto noch ein paar weitere Erfindungen gehen, auf die weit weniger Menschen zu verzichten bereit wären, das Kino zum Beispiel. Thierry Chervel schreibt (Si apre in una nuova finestra), die Oper sei der eigentliche Vorläufer des Kinos – und ganz speziell die Opern Wagners. Die Spektakel-Ästhetik, bei der das Orchester in einem Graben versteckt wird und das Publikum eng beisammen sitzt, im Dunkeln und mit dem Blick auf die Bühne gerichtet, all dies sind Erfindungen Wagners. Frühere Konzertsäle dienten viel stärker dem Repräsentationsbedürfnis des Publikums, das genau so gut ausgeleuchtet war wie die Musizierenden. Damit machte Wagner Schluss: Es ging um die Show auf der Bühne, seine Show. Mit seiner Musik und seinen Texten.
Wagners Innovationskraft wird ihm sogar von seinen ärgsten Kritiker:innen zugestanden. Und das ist sicher auch ein Grund, warum die ästhetisch-ethische Güterabwägung immer wieder zu seinen Gunsten ausfällt. Wagner wird aufgeführt, aber eben kritisch. Und dabei sind die Inszenierungen, die Wagners Personal mit Hakenkreuzbinden auftreten lassen, noch die schlichteren Auseinandersetzungen. Adrian Daub schreibt (Si apre in una nuova finestra): “Wagner ist seit Langem, und ganz zu Recht, gecancelt. Und ist als Gecancelter ungleich produktiver denn als Säulenheiliger.” Das ist es eben: Kunstschaffende können sich an Wagner abarbeiten. Diesen Vorzug hat der Komponist nicht, den ich euch heute vorstellen will.
Der Schwede Kurt Atterberg, 1887 geboren in Göteborg, schrieb oft von Landschaften seiner Heimat inspirierte spätromantische Musik mit impressionistischen Einsprengseln. Ein Skandinavier, der die Schönheit Schwedens vertont, gleichzeitig ein Musikfunktionär, der sich für die Rechte von Komponisten einsetzt, der Mitte vierzig ist, als Hitler an die Macht kommt – man braucht nicht viel Fantasie, um sich vorzustellen, dass es für die Karriere von so jemandem förderlich sein könnte, mit Nazi-Deutschland zusammenzuarbeiten.
Atterbergs Musik wurde in Nazi-Deutschland von namhaften Dirigenten aufgeführt, von 1935 bis 1938 war er gar Generalsekretär des “Ständigen Rats für die internationale Zusammenarbeit der Komponisten”, einer Organisation der NS-Reichsmusikkammer. Er hinterließ antisemitische Korrespondenz, aber veröffentlichte keine judenfeindlichen Pamphlete wie Wagner.
Die in Stockholm lehrende Ethnologin Petra Garberding schreibt in ihrer Dissertation, dass in Nazi-Deutschland Musik und Politik eins waren, während Schweden die beiden Sphären auch in der Zeit der NS-Herrschaft getrennt beließ. Diese verschiedenen Perspektiven auf das Verhältnis von Politik und Musik ermöglichte es schwedischen Komponist:innen, in Nazi-Deutschland aktiv zu sein, ihre Arbeit aber als eine rein musikalischer Natur (was immer das sein mag) zu bezeichnen. Währenddessen konnte das NS-Regime die Musik nordeuropäischer Komponisten als Beleg einer “Nordischen Musik”, einer angeblich “typisch arischen” Ästhetik heranziehen.
Atterbergs Versuch, nach Kriegsende von der Könglisch Schwedischen Musikakademie rehabilitiert zu werden, ging unentschieden aus: War er Nazi-Sympathisant? Manche sagen so, manche sagen so. Diese, gemessen am Wagner-Standard, verhältnismäßig harmlose Biografie eines Karrieristen, dessen Musik schön, aber wahrlich nicht revolutionär ist, führte wohl dazu, dass sich Musikprogrammverantwortliche nach 1945 von Atterberg weitestgehend fernhielten. Die ästhetisch-ethische Güterabwägung geht üblicherweise zu Atterbergs Ungunsten aus, auch weil die Musik viel zu gefällig ist, als dass man sich daran kritisch abarbeiten könnte. Das ist das Problem, jedenfalls für die heutigen Zuhörenden: Der Atterberg-Sound ist eingängig und sehr malerisch. Man will das nicht gut finden, aber es ist nicht leicht.
Wenn ihr nun wissen wollt, wie diese Musik klingt, empfehle ich die Värmlands-Rhapsodie, die Atterberg zu Ehren von Selma Lagerlöfs 75. Geburtstag schrieb. Wir wissen, von wo aus Atterberg diese Musik geschrieben hat, aber wir wissen auch, von wo aus wir sie uns anhören. Oder uns eben bewusst entscheiden, sie nicht anzuhören. Es liegt bei euch.
https://www.youtube.com/watch?v=Di4MTpoCWuo&list=RDDi4MTpoCWuo&start_radio=1&rv=Di4MTpoCWuo&t=10 (Si apre in una nuova finestra)Und hier noch die Links zum Streaming (Si apre in una nuova finestra).
Schöne Grüße aus Berlin
Gabriel
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