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Abt. Antike

Hallo!

Für das Schreiben, und es gibt bestimmt schon ich weiß nicht wie viele Klagen darüber, wäre es gut, wenn man im Aufwachen genialisch grübeln und dann an den Computer kommen könnte, ohne das meiste davon wieder zu vergessen, bzw. ohne es sich vom Vorgang des Aufwachens, des Übergangs in eine sehr viel langweiligere Welt zerschießen zu lassen. In diese an merkwürdige Konventionen gebundene Welt, die zum Beispiel in dem, was man beim Grübeln an Wortfindungsschwierigkeiten hat, keinen Erkenntnisgewinn mehr sieht und im Grunde unerwünschte und unkreative Wachzustände für die „Wirklichkeit“ hält. Für die „Normalität“. Man darf nicht aufhören, dagegen Widerstand zu leisten.

Mein Monat in Marseille geht zu Ende, und ich packe. Hier schnell noch ein Blick auf die Stadt, wie sie im Stadtmuseum aussieht, Abt. Antike. Ich wohne oben an der Spitze. Glaube ich.

Sich irgendwo einzuschließen, um etwas zu schreiben, das man selbst noch nicht versteht und um das einen garantiert niemand gebeten hat, ist ein absurdes Projekt, und ich hoffe, ich bin der Herausforderung einigermaßen gerecht geworden. Wenn auch leider ohne vorzeigbares Ergebnis. Ich danke der Sonne, die besonders hell war. Ich danke den Fähren, deren Maschinen aus dem Hafen bis in meine Wohnung gewummert haben, was sehr beruhigend war. Ich danke der dicken roten Katze, die auf der Straße die Ratte verjagt hat, und es tut mir Leid, dass ich fast über sie gestolpert wäre. Ich danke der Küchenschabe, die mich begleitet hat, gelassen und gemütlich; umgebracht habe ich sie am Ende doch.

Von diesen vier Begleitern abgesehen waren meine wichtigsten Begegnungen in Marseille Alexander der Große und das Fediverse.

Auf Alexander, Abt. Antike, bin ich über Ovid gekommen, dessen „Metamorphosen“ ich für mein Projekt im Gepäck habe, in einer englischen Ausgabe, gekauft 1984 an der Fillmore Street in San Francisco, und über Ovid erfuhr ich, dass er Jahr 8 unserer Zeitrechnung von Augustus verbannt worden war. Und schon befand ich mich auf einer Wikipedia-Reise zu Kaisern und Feldherren der guten alten Zeit und landete bei Alexander und seinen irrwitzigen Eroberungszügen bis ins heutige Pakistan, auf denen er immer neue Städte gründete und nach sich selbst benannte.

Und wenn wir der Entstehung der Alexanderlegende folgen, gelangen wir schnell ins Sehnsuchtsreich europäischer Altphilologen auf ihrer homoerotisch eingefärbten Suche nach Triebabfuhr mit daraus resultierender Legitimation von Größenwahn. Was hätte aus unserer westlichen Kultur alles werden können, ohne diese Fixierung auf große Männer und ihre Raubzüge? Man wird ja noch fragen dürfen!

Zur Ablenkung sehe ich mir einen Actionfilm mit Steven Seagal als Special-Forces-Commander an, und Segal spricht mit eines seltsam hohen Stimme. Ich schließe die Augen und höre – Donald Trump.

Der Gedanke, Trump könnte sich nach einem Nineties-Actionfilm-Star gestylt haben, dem vorgeworfen wird, er sei ein Betrüger, Vergewaltiger und Putin-Freund, ist natürlich nicht ganz abwegig. Obwohl es natürlich auch umgekehrt gewesen sein könnte. Man weiß nie, wer sich wen als Vorbild nimmt, wenn gleichzeitig mehrere legendentaugliche Bilder von gewaltbereitem männlichen Größenwahn im Umlauf sind.

Der Film, um den es hier geht, ist von 1996 und trägt den Titel „Executive Decision“.  Islamistische Terroristen entführen ein Passagierflugzeug und verwandeln es in eine Bombe, mit der sie Washington zerstören wollen. Interessante Idee! Ein in der Entwicklung befindlicher Fernsehfilm über Trump soll übrigens „Executive Privilege“ heißen - nur um alles schnell noch wirrer miteinander zu verknoten.

Hier sehen wir, wie die Figur von Steven Seagal aus dem Drehbuch des Films geschleudert wird:

Das ist natürlich eine Überraschung. Dass der Special-Forces-Commander früh in der Geschichte entsorgt wird. Dass es überhaupt denkbar sein könnte, sich der großen gewaltbereiten Irren und ihres Anspruchs auf Macht und Mythos zu entledigen. Denken wir uns das Foto kurz als Screenshot aus der Verfilmung der Twitter-Übernahme durch Elon Musk – ach!

Womit wir beim Fediverse wären, bei Mastodon, dem Auffangbecken für alle, die Twitter flüchten. Jeden Morgen füttern mich dort die Veteranen des Indieweb mit ihrer Euphorie – Menschen (vor allem Männer), die am Internet gebaut haben, bevor es so gnadenlose durchkommerzialisiert wurde, und die etwas ganz anderes, viel Offeneres wollten als die Firmen Microsoft, Apple oder PayPal.

Und dann packt die Euphorie auch mich. Dann erinnere ich mich daran, dass Weltreiche, so unbesiegbar sie auch wirken, so viel Fatalismus sie auch erzeugen, untergehen können. Und ich stelle mir vor, der Wahnsinn rund um die Twitterdämmerung könnte ein Zeichen dafür sein, dass die Techgiganten mit den Milliardären, die sie hervorgebracht haben, schon ihr eigenes Satyrspiel inszenieren. Dass die Tragödie, die uns allen keine andere Rolle mehr lässt als die sich selbst vermarktender Angehöriger von Werbe-Zielgruppen, also eigentlich schon vorbei ist.

Aber hier scheint die Sonne. In Berlin packen mich vielleicht wieder die Hoffnungslosigkeit und die Furcht, die Normalisierung von männlichem  Größenwahn zur Konstante der westlichen Kultur könnte unumkehrbar sein. Die „Normalität“ könnte unbesiegbar sein.

Hier ein Moodpic: So fühle ich mich gerade, aufgenommen im Stadtmuseum von Marseille, Abt, Antike.

Die Buchhandlung in San Francisco, in der ich vor 38 Jahren meinen Ovid gekauft habe, wurde übrigens gerade verkauft, weil Inhaber unheilbar krank ist. Die Fillmore Street ist eine der schönsten Straßen der Welt – schnurgerade, hügelab und hügelauf, aufs blaue Meer zustürzend.

Hier in Marseille habe ich oft an San Francisco gedacht, an das gleißende Licht, die Möwen, der beißende Wind. Das war sehr schön.

Danke!

Danke fürs Lesen, danke fürs Weitersagen und danke fürs Bezahlabo Abschließen, wenn das Geld reicht. Übrigens bin ich der Meinung, dass das Patriarchat zerstört werden muss.

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