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Normalität als dysfunktionale Benutzeroberfläche

Hallo!
Frohes neues Jahr! Sagt man das so spät noch? Und wie froh kann es werden? Wir bleiben in der Umklammerung von Scholz-Lindner hocken, die Demokratie so interpretieren, dass weltgefährdende Katastrophen nicht bekämpft werden dürfen, bevor auch der letzte Dorfbürgermeister und Querdenker zugestimmt hat. (Ich verzichte aufs Gendern, ich meine Männer.) Politik muss die Menschen abholen, wo sie sind, und alle mitnehmen. Alle! Das Wir gewinnt! Das Tempolimit wird nie kommen, und Wagemut, der mit Verlangsamung als revolutionäre Veränderung zu tun hätte, muss erstickt werden.
Unmittelbar nach Versendenden dieses Newsletters ziehe ich für einen ganzen Monat nach Hongkong, und das Schönste daran wird sein, dass ich nicht mehr in Deutschland bin.
(Das stimmt nicht. Das Schönste wird sein: Die Energie, auf der Straße, überall. Die missmutig von alten Frauen hingeknallte Suppe. Die Selbstverständlichkeit eines selbstbewussten großstädtischen Umgangs aller mit allen, wie ich sie auch in New York oder Mumbai erlebt habe, aber nie in Deutschland. Das tropische Einverständnis mit dem Verfall. Und die Fahrt mit der Fähre von Kowloon nach Central.)

1. Mahjongg
Meinem Mahjongg-Spiel habe ich in diesem Winter den Untertitel "Spiel mir das Lied vom Tod" gegeben - lieb gemeint. Ich meine Gnome-Mahjongg, das Computerspiel, das ich in einer arkanen antifaschistischen Linux-Distribution namens antiX wiedergefunden habe.


Die Spielsteine liegen auf einem Haufen da, mit Schriftzeichen und Symbolen darauf. Ich muss sie vom Spielbrett räumen. Das geht nur, indem ich Steinpaare finde: Wenn ich zwei gleich dekorierte Steine anklicke, verschwinden sie.
Das Problem ist die Schichtung. Sie ist zufällig, und man kommt nicht an alle Steine heran. Man muss sie in der richtigen Reihenfolge abräumen, um das Brett leer zu bekommen, und für die richtige Reihenfolge gibt es keine Regeln. Man kann Strategien entwickeln, man kann das Spiel ein Stück weit lernen, aber man kann es nicht meistern. Man sitzt vor dem Haufen, klickt los und wünscht sich selber Glück.
Zum Ende hin habe ich immer weniger Möglichkeiten. Dann wird es eng, und oft wird mir irgendwann klar, dass ich es nicht mehr schaffe. Eine Todesahnung. Wenn ich es doch schaffe und es mir gelingt, die verknoteten, einander blockierenden Beziehungen zwischen den Spielsteinen aufzulösen, fühlt es sich besser an - wie das geglückte Leben. Aber das bedeutet nicht, dass es nicht doch zuende geht.
Jedes dieser Spiele dauert vier oder fünf Minuten. In einem Winter, in dem mich Todesnachrichten von Menschen erreichen, die ich lange und gut gekannt habe. Wie schön, damit spielen zu können, mit dem unaufhörlichem Vergehen der Zeit und dem unausweichlichen Ende.

2. Benutzeroberflächen

Merkwürdig manisch habe ich die Vorweihnachtszeit und die Nachweihnachtszeit mit dem Studium von Computer-Benutzeroberflächen verbracht, in (Achtung: Nerd-Content!) Virtual Machines oder von Live-USB-Sticks, auf der Suche nach dem Weg zurück. ET will nach Hause telefonieren! Die Szene ist Heidelberg 1989, unten auf der Straße fahren die ersten Trabis, die ich nicht einmal ignoriere. Ich sitze in der WG an einem DOS-Rechner und schreibe auf DOS-Word. Ohne GUI, also „Graphical User Interface“, dunkelgelbe Schrift auf schwarzem Grund, volle Funktionalität, tastaturgesteuert und ohne Maus. Die singenden und tanzenden Büroklammern von Microsoft sind noch nicht in Heidelberg angekommen. Und die Tastatur klackert hart.
Das ist meine Lieblings-Benutzeroberfläche geblieben: nichts. Keine Office-Simulation. Keine „Ordner“. Kein „Schreibtisch“. Dunkelgelbe Schrift auf schwarzem Grund.
In der Vor- und der Nachweihnachtszeit habe ich nach Benutzeroberflächen und vergessenen Betriebssystemen gesucht, die mir ein bisschen von diesem Nichts vermitteln und Fluxbox oder Openbox heißen: Leerer Desktop, nur über Rechtsklick öffnet sich ein widerspenstiges Menü, das einem vielleicht Zugang auf Dateien gewährt, wenn man ganz lieb bittet. Alles weit weit weg von den Betriebssystemen für den Massenmarkt, die nicht anderes sind als digitalisierte Einkaufszentren.
Die Welt der vergessenen Computer-Betriebssysteme ist wild und wundersam: Irgendwo arbeitet eine Rentnerband daran, BeOS unter dem Namen Haiku OS wieder  funktionsfähig zu machen. Vor hundert Zillionen Jahren wollte Apple BeOs kaufen, entschied sich dann aber doch für NeXT von einem gewissen zuvor von Apple gefeuerten Steve Jobs, und BeOS ging unter.
Dann gibt es da noch Temple OS vom schizophrenen und in der Szene hoch verehrten Programmierer Terry Davis, das ein ganzes religiöses Weltsystem behauptet, ohne sonst sehr viel zu können, und da sind wir schon sehr sehr tief im Schattenreich von Coden und Wahnsinn.

3. Normalität
Ich bin jetzt in einem Alter, in dem Verschrobenheit beinahe schon von mir erwartet wird. Dabei war ich schon immer verschroben, nur dass man es auch anders fassen kann. Ich habe mich zum Beispiel unlängst, nach ein paar Schubsern von außen, streng getestet und mich dann zu meiner eigenen Überraschung sehr klar im autistischen Spektrum verortet.
Wie interessant! Wie erschreckend! Wie WTF!
Die Folgen der Erkenntnis fühlten sich etwa so an: Du stehst auf einem zugefrorenen See, und unter Dir tun sich plötzlich Risse im Eis auf. In alle Richtungen, in atemberaubendem Tempo, bis an alle Ufer. Die Risse verbinden sich miteinander und mit allem anderen, und du folgst ihnen und siehst dein ganzes Leben in allen Verästelungen völlig neu. Du siehst ein sehr sehr stimmiges Bild. Du verstehst (fast) alles.
Du hast aber auch leider keinen festen Boden mehr unter den Füßen.
Und du bist wirklich draußen. Das ist ja nichts, was heilbar wäre. Du hast eine Hirnstruktur, die nicht zur als normal anerkannten Hirnstruktur passt, du hattest diese unpassende Hirnstruktur schon immer und hast dich jahrzehntelang völlig sinnlos abgerackert, um normal rüberzukommen. Umsonst.
Ich war noch nie mit irgendeiner vorgegebenen Benutzeroberfläche zufrieden. Ich hatte keinen Zugang zur Zufriedenheit mit der Benutzeroberfläche "Normalität". Ich kannte das Passwort nicht. Nein, anders: Ich habe immer und immer wieder verzweifelt versucht, das Passwort einzugeben, und jedes Mal eine Error-Meldung bekommen, die ich nicht entschlüsseln konnte.
Was ich stattdessen erlebt habe, könnte man untder „Missbrauch durch Normalität“ zusammenfassen. Normalität als dysfunktionale Benutzeroberfläche. Aber ach, egal.

4. Dank
Weltstädte sind Maschinen zur Herstellung befreiender Komplexität. Hier ein Bild von Hongkong als Desktop-Wallpaper zum kostenlosen Download für alle Abonnent*innen:

Ich melde mich dann nochmal von dort, von den Umzügen zum Lunar New Year, die das Jahr des Wasserhasen einläuten.
In diesem Jahr des Wasserhasen wollen wir Bullshit als Bullshit benennen. Die Möglichkeiten, die sich uns eröffnen, wenn wir das konsequent tun – unglaublich.
In diesem Sinne. Danke fürs Abonnieren, danke fürs Bezahlabo abschließen, wenn das Geld reicht. Ich bin übrigens der Meinung, dass das Patriarchat zerstört werden muss.

Links und Vids

Haiku OS

https://www.haiku-os.org/ (Si apre in una nuova finestra)

Zwei unsymphatische Influencer-Bros werfen einen Blick auf Temple OS

https://www.youtube.com/watch?v=LtlyeDAJR7A (Si apre in una nuova finestra)

Hongkong

https://www.youtube.com/watch?v=qPThSQlZE_0 (Si apre in una nuova finestra)

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