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Plattformwechsel

I.

Dies ist ein Foto von mir, wie ich ein Foto von einem Foto mache, das in meinem Arbeitszimmer in Berlin hängt und das vor ungefähr dreißig Jahren ein Fotograf von mir geschossen hat, bei Recherchen für eine Geschichte über einen alternativen Zirkus in San Francisco für das ZEIT magazin:

Der Fotograf, Robert Gumpert, hat sehr schöne konventionelle Reportagefotos gemacht, aber weil ich die klassischen Bilder kannte, die August Sander in den Zwanzigerjahren des 20. Jahrhunderts von Zirkusartisten aufgenommen hat, habe ich ihn auch um ein paar Aufnahmen in diesem Stil gebeten. Und weil ich mich in eines davon eingeschlichen habe, existiert jetzt ein Foto von mir als Reporter mit Zirkusartistin á la August Sander, das zufällig auch viel über meinen Stil als Reporter verrät: sehr vorsichtig, fast ängstlich. Ich will nicht stören und versuche, mich an etwas festzuhalten.

Auf das Foto bin ich nur gekommen, weil ich von Jon Carroll erzählen wollte, dem ich auf dieser Recherchereise auch begegnet bin und dessen Namen ich aus der Zeit kannte, als Mitte der Achtzigerjahre in San Francisco gelebt habe – als Beleuchter einer Vaudeville-Truppe, die Gummihühner jonglierte. Diese Truppe hat mich dann wieder mit zurück nach Europa genommen, auf eine Gummihuhn-Tournee. Sie begann in Amsterdam, und dort konnte ich umsonst wohnen, weil ich für einen anderen Beleuchter zwei unterarmlange Stangen mit riesigen, spinnenartigen Computerchips eingeschmuggelt hatte, für die erste computergesteuerte Lightshow einer Rockgruppe, die ich verachtete und die „Genesis“ hieß.

Sachen eben, wie sie einem automatisch passieren, wenn man als Mensch von der Anlage her sehr vorsichtig ist, fast ängstlich, und nicht stören will.

Als Vaudeville-Beleuchter Mitte der Achtzigerjahre habe ich viel Zeitung gelesen, vor allem den San Francisco Chronicle, und dort am liebsten zwei Kolumnisten: den sehr witzigen „Drive-In Movie Critic“ Joe Bob Briggs und den sehr einfühlsamen und politischen Stadtspaziergänger Jon Carroll. Und als plötzlich Zeitungsmensch geworden war, wieder in die Stadt kam und hörte, dass Carroll mit dem Zirkus zu tun hatte, über den ich schreiben wollte, verabredete ich mich mit ihm.

Wir trafen uns in einem gesichtslosen Büro, und nachdem er meine Zirkusfragen beantwortet hatte, erklärte er mir, dass er seine Kolumne jetzt online veröffentliche, weil das Internet die Zukunft sei. Was mir unmittelbar einleuchtete, und damit war die Frage nach der Bedeutung des Internets für mich ein für allemal geklärt. Dann flog ich wieder nach Hamburg, um mich in einem Stellungskrieg der Zeitungsverlage gegen das böse Internet wiederzufinden, der auch heute noch wütet und dessen Krämpfe uns immer noch lähmen, dreißig Jahre später.

Der hundertjährige Krieg. Der hunderttausendjährige Krieg. Die hunderttausendjährige Wirklichkeitsverweigerung.

Plattformen, die untergehen, Plattformen die längst untergegangen sind und deren Untergang man sich nicht eingestehen will. Plattformen, die schon 20.000 Meilen unter dem Meer verrotten und noch immer bespielt werden.

Nur zur Erinnerung: Twitter ist tot. Twitter ist verreckt, bevor der Printjournalismus die Plattform überhaupt ansatzweise verstanden hätte. Selbst Twitters Leiche ist schon umbenannt worden. Und gleichzeitig scheitert 20.000 Jahre nach Erfindung des Internets die Digitalisierung der Berliner Verwaltung, und die Faxgeräte sind auch alle kaputt.

Wir leben auf untoten Plattformen, die nicht mehr miteinander kommunizieren. Überall Verwesungsgeruch. Der einzige Plattformwechsel, auf die die Welt sich einigen zu können scheint, ist der von der offenen Gesellschaft in den Faschismus: Die Welt spielt mit dem Gedanken, sich selbst ganz zuzubetonieren.

II.

Nach meiner Autismus-Selbstdiagnose, die mein direktes Umfeld sofort überzeugt hat, verlasse ich im Augenblick gerade die Plattform „Normalität“ und wechsle auf die Plattform „Neurodiversität“. Wobei die Plattform „Neurodiversität“ ja gerade das Angebot macht, auf den Normalitätsbegriff zu verzichten und sich irgendwo in einem Spektrum zu verorten. Das ist verführerisch, aber ich weiß noch nicht so ganz genau, wie weit ich mich darauf einlassen kann.

Ich verstehe sehr gut, was der Diversitäts- und Spektrums-Gedanke will, ich habe nämlich von anerkannten Mit-Autisten inzwischen wirklich sehr traurige Geschichten von Diskriminierungserfahrungen und der daraus resultierenden Scham gehört. Diese Geschichten machen mich wütend, und natürlich wünsche ich den Diskriminierenden , die sich so stolz als normgerecht erleben (und zu denen auch die Klassifizierenden in der Psychiatrie gehören können), eine sofortige, endgültige Auflösung ihres Normalitätsbegriffs.

Trotzdem würde es mir im Augenblick noch helfen, einen Begriff von Normalität behalten zu können, der noch nicht als Kampfbegriff verheizt worden ist. Einen, der nicht zu Stolz und Verachtung und dann als Verteidigung zu Gegenstolz führt, also letztlich zu einem permanenten Rumgegockele. Ich muss ja nicht dazugehören. Ich habe auch vor meiner Selbstdiagnose nie irgendwo dazugehört, und fand das immer ganz in Ordnung so.

Ich hänge irgendwie dazwischen. Stand ist, dass ich mich weder dazu bringen kann, mich als Teil einer Befreiungsbewegung zu verstehen, aus Angst, in Selbstverkitschung und Folklore abzurutschen, noch dazu, mich korrekt psychiatrisch diagnostizieren und meine Hirnstruktur als „gestört“ einordnen zu lassen.

Auf Mastodon habe ich dann eine Lösung entdeckt, in einem eher unangnehmen Post einer Autismus-Aktivistin, die erklärte, dass man als Autist*in eine offizielle Diagnose brauche, sonst würde man sich Hilfsangebote erschleichen – ungefähr so wie Transfrauen sich nur den Zugang zur Damentoilette erschleichen wollen, wo sie dann unweigerlich der Blitzstrahl der Uterus-Pride-Bewegung trifft. Ohne Diagnose, hieß es dann, sei man höchstens „Verdachtsautist*in“.

Das finde ich eigentlich sehr schön: Ich bin Verdachtsautist. Höchstens. Das genügt mir. Das hat für mich auch irgendwie eine tiefe Gerechtigkeit: Wir sollten unsere Identitäten vielleicht alle als Verdachtsidentitäten klassifizieren. Faschisten, die Andere, deren Anderssein sie stört, als krank abqualifizieren (und die deshalb kein Gendersternchen verdienen), stehen schließlich auch nur unter Verdacht, Menschen zu sein, und wer weiß, vielleicht erhärtet er sich noch. Man darf die Hoffnung nicht aufgeben

So sah es heute bei uns auf dem Balkon aus, im Thymian:

Ich hatte die Pflanze für tot gehalten, sie ist aber wieder ausgetrieben. Sie hat einfach weitergelebt.

Übrigens bin ich dafür, dass das Patriarchat zerstört wird.

Links

Jon Carroll:

https://joncarrollprose.com/about/ (Si apre in una nuova finestra)

Robiert Gumpert:

https://www.all-about-photo.com/photo-articles/photo-article/1138/division-street-by-robert-gumpert (Si apre in una nuova finestra)

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