Bonjour tristesse
Hallo!
Als meine traurige Stadt Berlin sich vor ein paar Tagen oder hundert Jahren einen neuen Bürgermeister gewählt hat, bin ich an den Stadtrand gefahren, in die Außenbezirke, in dessen rabenschwarzem Würgegriff mein Heimatbezirk Mitte sich befindet. Die farbliche Darstellung der Wahlergebnisse der deutschen Hauptstadt - schwarz umkränzte grüne Innenbezirke - ist ja als Mahnung überall verbreitet worden: Hier lebt die wahre Mehrheit. Grün ist gescheitert. Kein Weg führt am Rückschritt, am sich Festklammern an der Vergangenheit vorbei. Kein Weg führt an den Handwerkern mit ihren Nazi-Hoodies vorbei, die man aus den Außenbezirken herbeilocken muss, wenn man in der linksversifften Mitte etwas saniert haben möchte, und die dann freie Fahrt und überall Parkplätze brauchen.
Das Bild der schwarzen Rosette rund um Berlin sieht ein bisschen wie ein Arschloch aus.
Ein Ring, sie zu knechten, sie alle zu finden, / Ins Dunkel zu treiben und ewig zu binden.
Beim dritten Wahlgang, nach dessen Abschluss der Weg frei war für die Streichung aller linksgrünen Illusionen aus dem Regierungsprogramm, weil man „den Menschen“ keine Vorschriften machen darf, hatte ich mein Ziel erreicht: einen ungastlichen Baumarkt am äußersten Rand von Weißensee, fast schon in Malchow. Als ich aus dem Bus stieg, war da nichts, beziehungsweise die Verkörperung meines Begriffs vom Nichts: Gewerbegebiet.
Hier die Darstellung eines Gewerbegebiets durch das von Dr. Martin Vogt geleitete „Kompetenzzentrum Ressourceneffizienz“ des Vereins deutscher Ingenieure:
Erläuterung: „Die 3D-Grafik dieser Prozessvisualisierung Ressourceneffizientes Gewerbegebiet veranschaulicht, wo genau sich Ressourceneffizienzpotenziale in einem Gewerbegebiet befinden und wie Unternehmen diese bereits in der Praxis genutzt haben. Dabei ist sowohl die Vernetzung der Unternehmen untereinander als auch mit den anliegenden Wohngebieten von zentraler Bedeutung.“
Vorher war viel Umsteigen. Tram bis Pankow, dann Bus. Im Bus der Mann mit dem Bier, der mich die ganze schaukelnde Fahrt über anstierte. Das Mädchen in der schwarzen Cargohose und der Lederjacke, das in ihr Smartphone hineinwütete, dass der Mensch, mit dem sie sprach, sich verprügelt fühlen musste, aber was sie sagte, war eigentlich lieb gemeint. Die Gruppe pubertierender Jungen, brav und unauffällig angezogen, die diskutierten, ob man nachts noch sprayen gehen solle und aus welchem Fenster man dazu steigen müsse und wer beim letzten Mal fast abgestürzt wäre; dabei klangen sie ganz schüchtern und fast ängstlich, und jedes zweite Wort war Digga.
Meine Reise war ein Protest gegen den Onlinehandel. Ich wollte nicht mehr auf den Paketboten warten.
Der Baumarkt war ein Baumarkt, also ein Ort zur Perfektion getriebener Heimatlosigkeit. Es gibt einen Reliefmodell-Baumarkt-Bausatz von Faller:
Hier die Rückseite der Fassade:
In einem Regal vor der Kundentoilette fand ich meine neue Schreibtischlampe für 16 Euro 95. Ich zahlte kontaktlos und trug sie ein paar Kilometer weit zu Fuß zurück Richtung Innenstadt, bis ich stark unterzuckert war. Dann entdeckte ich zwischen einem buddhistischen Tempel und einem Kampfsportstudio einen Späti, bei dessen Besitzer ich Geld für eine Tüte Haribo eintauschen konnte und der dabei immer weiter in sein Handy schrie. Ich aß mein Weingummi in der Sonne vor einem Imbiss, der DÖNER, CURRYWURST und ITALIANISCHE PIZZA verkaufte. Hinter mir standen vor einem SUV aus Brandenburg zwei Männer, die sich nicht weiter ins Zentrum trauten.
Mehr war nicht.
Nicht mehr als Nichts, Leere, Verlorenheit und eine Wut, die sich selbst nicht kennt. Und die jetzt meine Stadt regiert.
Von den Wahlen in der Türkei will ich gar nicht erst anfangen.
Wenn es nur noch darum geht, bestehende Herrschaftsverhältnisse aufrecht zu erhalten, koste es was es wolle, und wäre es die Wahrheit, wird es trist. Wenn es nur noch darum geht, alles, was an diesen Verhältnissen rührt, als Versuch zu denunzieren, das Land zu spalten - oder gar als „kriminell“ -, wenn nur noch die Schlachten ausgefochten werden dürfen, die garantiert von jenen gewonnen werden können, die sowieso schon von den bestehenden Verhältnissen profitieren, und alle anderen Konflikte als etwas abgetan werden, was man „den Menschen“ nicht zumuten kann, weil sie „noch nicht so weit sind“, wenn „den Menschen“ überhaupt nichts anderes mehr zumutbar ist als der Status quo, dann wird es trist.
Und so ist es trist geworden. So trist wie die Rückseite eines Baumarkt-Fassadenmodells.
Nur dass auf der Rückseite des echten Baumarkt-Modells, in dem wir leben, pausenlos neue Ausbeutungsmodelle perfektioniert werden. Dass auf den ausgedörrten Wiesen dahinter große Herden Schäfchen ins Trockene getrieben werden. Gigantische Herden. Schäfchen bis an den Horizont.
Während uns der neue Berliner Bürgermeister vor dem Baumarkt erklärt, dass es zu radikal wäre, einen Blick hinter den Baumarkt werfen zu wollen. Dass Veränderung leider unmöglich ist und es keine andere Welt geben kann als die, in der wir leben und die leider untergeht. Für alle, die ihm nicht glauben, kann Präventivhaft angeordnet werden. Dabei ist dieser Bürgermeister ein sehr lieber Mensch und hat heute dem "Tagesspiegel" gesagt, er stehe für Berlin als "internationale, bunte und vielfältige Metropole."
Danke für die Geduld beim Warten auf diese Lieferung, danke fürs Lesen, danke fürs Abonnieren, wenn das Geld reicht. Übrigens bin ich der Meinung, dass das Patriarchat zerstört werden muss.