Neues Jahr, alte Gespenster
Als vor einigen Tagen der alte Le Pen starb, kam mir angesichts der vielen gemäßigten und irritierend ratlosen Würdigungen ein unangenehmer Gedanke. Man rief ihm im Sinne einer Fernsehkritik nach: Dies hat er so gemacht und jenes anders. Manches erreicht, anderes nicht. Kaum jemand traute sich zu benennen, wofür Le Pen senior stand: Antisemitismus, Verachtung von Homosexuellen, Leugnung des Massenmords an den europäischen Juden, Gewalt, Folter und ein faschistisches Wertesystem. Hass, Hetze und dauernde, systematische Lügen.
Ich dachte dann, dass das breite Publikum vielleicht vergessen hat, was Faschismus und Nationalsozialismus sind. Welche Folgen sie haben und warum es lebenswichtig ist, diese Ideologien zu bekämpfen. Dass es keine Phänomen sind, die in den Tiefen der Geschichte schlafen und nur irgendwelche Minderheiten betreffen. Irgendwie hat sich eine mediale Äquidistanz etabliert zwischen der offenen Gesellschaft und der extremen Rechten, als ginge es um verschiedene Meinungen oder zwei Sportmannschaften.
Die Zeitzeugen sterben, die Dokumentationen, Filme, Bücher und Serien haben sich versendet. Neuere Werke fehlen, erst recht in jenen Medien und Formaten, die von Jugendlichen genutzt werden. Stattdessen entwickelt die radikale Rechte unter Trump, Musk und ihren politischen Fans in Europa eine neue Stärke. Die sind noch keine voll entwickelten Faschisten, weil ihnen bislang die Mittel dafür fehlen: Sie verfügen über keine militärische Macht, keine Geheimpolizei und wichtige Subsysteme sind noch unabhängig.
Aber das muss nicht so bleiben. Die geistigen Grundlagen des Faschismus - die Pflege von Hass und Hetze, das Denken in Freund/Feind -Kategorien und die Verachtung der parlamentarischen Demokratie, der freien Medien sowie ihrer irgendwie als anders wahrgenommenen Mitmenschen - sind alle präsent. Besonderes Kennzeichen ist die Liebe zur Lüge: Sogar im Fall der Waldbrände in Kalifornien kann man studieren, wie Trump und seine MAGA Fraktion auf Dauersendung von Bullshit gehen.
Faschismus ist ein Pilotenspiel der Gewalt: Erst werden Minderheiten verfolgt und drangsaliert, aber bald schon muss nachgeschoben werden. Mehr Gewalt muss her, also Krieg und Bürgerkrieg, um die faschistische Gesellschaft bei Laune und unter Spannung zu halten. Irgendwann ist dann alles zerstört.
Noch ist die extreme Rechte schwächer, als sie tut. Aber lange Zeit bleibt nicht mehr. Den Kopf zu schütteln wird 2025 nicht genügen. Nur ein starkes, ein vereintes Europa kann es noch vermeiden, unter die machtpolitischen Räder zu kommen. Europe United. Das ist das einzig relevante Thema des Bundestagswahlkampfs.
Ich habe alle auf deutsch erhältlichen Krimis von Dror Mishani gelesen und war gespannt darauf, wie er die israelische Gegenwart und seinen persönlichen Alltag nach dem 7. Oktober beschreibt.
Das Buch macht wieder einmal deutlich, was Literatur vermag: den Nachrichten noch eine weitere, eine existentielle und poetische Dimension hinzuzufügen. Im ganzen Wahnsinn muss ja weiter gelebt werden, muss der Sohn zum Basketball und der Schreibkurs will moderiert werden. Man möchte die Kinder nicht mit den Details des Überfalls schocken, aber ganz vermeiden lässt es sich nicht. Mishani ist auf Distanz zur Politik von Netanjahu und seiner Koalition, entwickelt eigene Ideen und man erfährt wieder einmal, dass Israel eben eine lebendige Demokratie ist. Die großen Theorien und Begriffe sind nicht seine Sache, er bemüht sich, wie in seinen Romanen, um eine präzise Beschreibung von Details, von Phänomenen am Rande. So gelingt ihm ein Dokument, das mit der Zeit immer wichtiger wird.
Ein Mann sitzt vor dem Fernseher. Neben ihm - wer kennt’s nicht ?- brutzeln einige Hühner am Spieß vor einem Kaminfeuer. Zugleich brät er Speck und Zwiebeln für ein Omelett. Er schaut seine Lieblingssendung: Les Escapades de Petitrenaud, eine gastronomische Tour de France. Doch der Moderator verirrt sich, denn sein heutiger Gast (“so ein junger Newcomer” haha)ist auf keiner Landkarte verzeichnet. Und dann klopft es an der Tür unseres Fernsehzuschauers und nun löst sich alles: Der arglos kochende Zuschauer ist Paul Bocuse, komplett mit seinem Original Opinel-Messer und der Besucher ist Jean-Luc Petitrenaud selbst. Sie genießen, es ist 11 Uhr, zu zweit das Omelett aus acht Eiern und trinken Rotwein. Höchste Kochkunst, miserables Drehbuch - ein faszinierendes und herzerwärmendes Programm. Mit solchen Sendungen versöhnte sich die Provinz mit der Haute Cuisine. Nun ist unser Freund Petitrenaud verstorben. Aber sein Werk verblüfft und unterhält weiter:
https://www.youtube.com/watch?v=j11C5gsvzLM (Si apre in una nuova finestra)Nach meinem letzten Newsletter entwickelte sich auf der Plattform X ein kurioser Sturm im Fingerhut. Es ging um das adjektiv palästinensisch, das ich in Bezug auf Jesus verwendet habe: Jesus, ein palästinensischer Jude. Eine Banalität. Aber manche sahen rot, ergingen sich in wüsten Beschimpfungen und drehten generell völlig durch. Es las sich, als hätte ich behauptet, Jesus sei Araber gewesen und Muslim oder bei der Fatah, ja der Hamas.
Piano, piano. Palästina ist der gewöhnliche und gebräuchliche Begriff für die ganze Region, wenn wir die Antike betrachten. In jedem historischen Atlas, in modernen Bibeln und nahezu überall, wo es um die Antike in jener Region geht, findet sich eine Karte des Palästinas zur Zeit Jesu. Jedes Kind (Si apre in una nuova finestra) kann das wissen. Damit ist nicht der noch zu gründende Staat der aus den Nachrichten bekannten Palästinenser gemeint – da haben wir es ja mit arabisch sprechenden, sunnitischen Muslimen zu tun. Palästina ist ein geografischer und historischer Begriff - wie Europa. Wir schreiben ja auch vom Europa zur Zeit der Kelten, zur Zeit Napoleons – obwohl es bis heute keinen europäischen Staat gibt.
Im zweiten Jahrhundert gründeten die Römer eine Provinz des gleichen Namens, aber die war viel kleiner. Zu sagen, dass man für die Jahrhunderte davor nicht von Palästina schreiben soll, ist so, als würde man die Existenz des Rheinlands erst mit der Gründung des Bundeslandes Rheinland-Pfalz zugestehen. Oder man würde Goethe nicht mehr als deutschen Dichter bezeichnen, weil der deutsche Nationalstaat erst 1871 gegründet wurde.
Palästina ist kein antisemitischer und kein unzutreffender Begriff: Der Autor Reza Aslan nennt in seinem exzellenten Buch Zelot (Si apre in una nuova finestra), einer sozialgeschichtlichen Biografie des Jesus von Nazareth, seinen Protagonisten a jewish man in Palestine. Theodor Herzl bezeichnete Palästina noch 1896 als “unsere unvergessliche historische Heimat”. Die gut dokumentierte Präsenz jüdischer Gemeinden seit dem antiken Palästina ist übrigens der beste Gegenbeweis zur bescheuerten These, Israel sei ein koloniales Projekt.
Heute wird in Frankreich eine alte, komplizierte Tradition gefeiert, die Galette des Rois. Dann wird ein besonderer Kuchen gereicht, der nicht nur viel Marzipan enthält, sondern auch ein besonderes Objekt: die Fève. Wer das kleine Teil in seinem Kuchenstück entdeckt, darf die Krone für einen Tag tragen - klappbare Pappkronen aus goldfarbenem Karton, die man mit der Galette zusammen erwirbt. Eine süße Tradition wenn nur ein Kind mit am Tisch sitzt, in einer Runde mit Cousins und Cousinen allerdings eine Übung in pädagogischer Diplomatie.
https://madame.lefigaro.fr/cuisine/le-gouter-de-la-semaine-une-galette-des-rois-facon-tatin-20250106 (Si apre in una nuova finestra)Kopf hoch,
ihr
Nils Minkmar
PS: Auch im letzten Jahr wuchs die Zahl der Leserinnen und Leser des “siebten Tags” rasant!Viele haben mir geschrieben, mit mir Gedanken und Geschichten geteilt oder mich ins Vertrauen gezogen. Danke! Wenn Sie diesen Newsletter gerne lesen, empfehlen Sie ihn weiter. Es besteht auch die Möglichkeit, meine Arbeit daran finanziell zu unterstützen, das geht hier: