Der Zauber des Anfangs
Der letzte Wahlkampf alten Typs/Paddington 3/Pörksen “Zuhören”/Pot au Feu
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Der Bundestagswahlkampf 2025 ist, dank Trump, der letzte seiner Art. Noch ist alles wie früher. Profipolitikerinnen und Politiker preisen sich an wie Dienstleister: Wähle mich und die Steuern sinken, die Löhne steigen und auch das Wetter wird nun langsam sonniger – Du bekommst richtig was für dein Kreuz auf dem Wahlzettel. Die Bild fragt, was die Politik für uns tut, so wie in der alten Bundesrepublik, als Obrigkeitsstaat und Konsumwunder eine Synthese eingingen.
In diesem Jahr ist das albern. Das ganze System wird infrage gestellt, da kann man nicht weiter so tun, als ginge es um einen Wettbewerb zwischen Dienstleistern. Das dieses Mal angebotene Thema – Migration– ist nur ein Puzzleteil, fein zurechtgeschnitten auf schon vorhandene, bekannte, wenn auch untaugliche Politikangebote. Ohne die Aggression von Wladimir Putin erst in Syrien, dann in der Ukraine wären nicht so viele Menschen nach Europa gekommen. Aber da es schwer ist, als deutsche Politik gegen Putin vorzugehen, riskant und teuer, geht man lieber gegen Migranten vor. Grenzen dicht, Abschiebungen - das geht ja immer. Lösen tut es nichts.
Die Leute bekamen nicht die Kandidaten, die sie sich wünschten (Özdemir, Pistorius, Wüst) und wurden nicht mit den großen, den gefährlichen Fragen der Zeit behelligt. Die Beschreibung der Lage, die adressierten Probleme mussten zu den angebotenen Lösungen passen. Kein Problem durfte größer sein als die fernsehtauglichen Konzepte, die ohnehin herum lagen.
Der ganze Wahlkampf gleicht den letzten Tagen von Napoléon auf Sankt Helena: Wenn man an der Gesamtlage nichts ändern kann, gar nicht mehr hinsehen möchte, beschäftigt man sich mit der Sitzordnung beim Abendessen.
Heute, wer Christian Schweppes Zeitenwende gelesen hat, weiß es, kann Moskau nach Lust und Laune Raketen auf Berlin schießen. Es gibt weder eine funktionierende Abwehr noch genügend Ressourcen, um sich zu wehren. Würde diese US-Regierung einen großen Krieg riskieren, um die arroganten Deutschen zu retten?
Die Lage erfordert keinen Wettbewerb um mehr exekutive Wohltaten, sondern den umgekehrten Ansatz: Was können Institutionen, Unternehmen und alle Bürgerinnen und Bürger tun, um unsere Freiheit zu verteidigen? Politik ist in der parlamentarischen Demokratie, Sokrates wusste es, kein Snack-Automat mit Wahlmöglichkeit. Man muss selbst etwas tun. So wie die Dinge stehen, kann man sich glücklich schätzen, wenn es dabei nur um Geld geht. Es ist die reine Feigheit, wenn nicht über Steuererhöhungen geredet wird. In allen Ländern der Eurozone stehen große Ausgaben zur Sicherung der Verteidigung an, aber die Länder haben schon viele Schulden gemacht. Die privaten Vermögen sind aber sehr hoch. Wie nach 1949, als das Gesetz zum Lastenausgleich ersonnen wurde, könnten Besitzer von Kapital und Immobilien dazu eingeladen werden, der Gemeinschaft Geld zu leihen, um jene Freiheit und den Frieden zu sichern, dem sie ihren Wohlstand verdanken.
Die wichtigste Aufgabe der neuen Bundesregierung spielt in diesem Wahlkampf keine Rolle: Die Verstärkung der europäischen Zusammenarbeit durch eine intensivere deutsch-französische Politik. Auf diesem Feld hat sich die Ampel-Regierung nicht eben mit Ruhm bekleckert. Drei Goethe-Institute wurden in Frankreich geschlossen – ohne Rücksprache mit den regionalen Partnern, ohne Begründung. Ein einziges Mal reiste der Kanzler mit Macron nach Kyiw, beide fielen dafür immer wieder durch Solo-Spezialaktionen auf: Macron mit der Idee, europäische Bodentruppen in die Ukraine zu schicken, und Scholz mit seinem Anruf bei Putin. Auch in die jetzige Lage, die spätestens seit dem Wahlsieg Trumps absehbar war, stolpern Paris und Berlin kopflos, improvisierend und jeder für sich. Polen, Finnland, die skandinavischen und die baltischen Länder sowie Tschechien haben die ideologische Führungsrolle in Europa übernommen. Es ist bitter, aber wahr: Die guten Jahre unter Joe Biden wurden nicht genutzt, um Europa für diese Krise vorzubereiten.
Never waste a good crisis warnte schon Hillary Clinton. In vier Jahren werden die Wahlkampfsendungen europäisch besetzt sein. Europa wird vom Randthema irgendwo nach Verkehr und Rente zu einer Schicksalsfrage. Die Regierenden der Nationalstaaten müssen dann mit der Öffentlichkeit der Nachbarländer kommunizieren. Man sollte aber jetzt schon den SPD-Chef nie mehr ohne Raphaël Glucksmann oder Carole Delga, die Spitzen der Union nie mehr ohne Édouard Philippe oder Catherine Vautrin sehen.
In diesen Tagen fühlen sich viele ratlos, ängstlich und erschöpft. Es ist Frühjahrsmüdigkeit, denn es weht der Zauber eines neuen Anfangs in Europa.
Mancher, manchem wird die Stille aufgefallen sein, mit der ich dem dritten Teil der Paddington-Saga begegnet bin. Ich habe natürlich auf den Filmstart gewartet, aber doch mit einer gewissen Skepsis. Dritte Teile sind selten besser als die ersten beiden. Die Maßstäbe liegen hoch, denn Paddington Teil 2 war ein Lichtblick der guten Laune, der Poesie und der Sozialkritik. Ich hatte seinerzeit im Kino so viel Spaß wie lange nicht mehr, habe ihn mir mehrfach angesehen und mit Lob überhäuft. Und nun das.
https://www.youtube.com/watch?v=gp3y90-Fe1Y (Si apre in una nuova finestra)Eine langwierige und dabei konfuse Story um ein mythisches Bären-El Dorado in Peru. Von Peru sieht man nur Bäume, keine Peruanerinnen und Peruaner nirgends. In der Rolle des falschen Freundes, in der im Vorgängerfilm Hugh Grant den Bösewicht seines Lebens spielte, agiert nun Antonio Banderas, dem niemand was gesagt hat. Er fuchtelt und grimassiert durch den Film, als würde er so das Verstreichen der Zeit beschleunigen können: Um endlich Feierabend zu haben. Er erinnerte mich an einen Mitstudenten in den ersten Semestern meines Geschichtsstudiums. Der war immer sehr früh in der Bibliothek, schrieb Karteikarten voll, zog sich auch an wie ein britischer College-Professor und machte kurz gesagt sehr viel Wind. Bis er sich im Proseminar zu Wort meldete und klar wurde, dass er thematisch völlig lost war. Die Requisiten, die Routinen, der Habitus – das war akademische Mimikry, um nicht aufzufallen. Banderas bemüht sich also tapfer, aber es wird nix und so kippt die Mischung ohne überzeugenden Schurken in unerträgliche Sweetness. Man schaut der KI beim sich austoben zu und wandert mit den Gedanken zu völlig anderen Dingen. Besser, man schaut noch einmal Paddington 2.
Wie in den Essais von Montaigne ist der Titel des neuen Buches von Bernhard Pörksen völlig irreführend. Es handelt sich nicht um den x ten Aufruf, sich tief in die Augen zu schauen statt im Internet zu pöbeln oder um einen Juli Zeh-mäßigen Appell, sich bitte von Rechtsradikalen zutexten zu lassen, um ihre Nöte zu verstehen – sondern um intellektuelle Reiseliteratur. Pörksen lädt ein zu einer Expedition an die Quellen der Wahrheit. Denn das Zuhören gilt in der deutschen Kultur seit der Reformation und noch mal geboostert durch Jürgen Habermas als das beste Instrument, um die Wahrheit zu finden. Gilt das noch heute? Alle dürfen alles sagen, aber wer hört ihnen zu? Pörksen versteht Zuhören in einem umfassenden, detektivischen Sinn: Warum werden manche Indizien und Beweise einfach überhört? Und gibt es außer Texten und Reden auch noch andere Wege, die Öffentlichkeit bei der Wahrheitsfindung zu unterstützen?
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Sein Buch gleicht den Sachbüchern von Bruce Chatwin auf der Suche nach den Songlines der australischen Aborigines: Pörksen erkundet das Gelände der Odenwaldschule und fragt, warum ein veröffentlichter Skandal so wenig Folgen hatte. Er trifft den einstigen Gouverneur von Kalifornien, Jerry Brown und nimmt dort einen katastrophalen Kaffee ein. Pörksen stellt uns Browns Freund und Berater Jacques Barzaghi vor, eine Romanfigur aus dem echten Leben, der der New York Times die Brownsche Wahlkampfstrategie mit einem unsterblichen Zitat erklärte:”Unsere Campaign transzendiert das Verstehen.” Passt auch auf den Bundestagswahlkampf, teilweise. In anderen Kapiteln geht es um die Ukraine und um Luisa Neubauer – immer auf der Suche nach der Tiefengeschichte unseres Moments, unseres Lebens, nach jener Wahrheit, die sich nur dann offenbart, wenn wir uns selbst zuhören.
Mittwoch war so ein Tag dafür. Wenn die Woche durchhing, eigentlich niemand Zeit hatte, große Dinge zu erkochen und alle Energie andernorts verlangt wurde, dann gab es bei meinen französischen Großeltern Pot-au-feu. Nie und nimmer hätten sie das für Gäste zubereitet, außer in größeren Notfällen, etwa dem Zweiten Weltkrieg.
Es ist das sozialistische Gericht überhaupt, denn der Gesamteindruck ist weit überzeugender als jedes Element für sich. Es ist ein Gericht ohne Stars und kein Element funktioniert allein besonders gut. Biedere Karotten, vergessene Kartoffeln, langweilige Rüben, suspekter Sellerie und krass fettes Fleisch werden, am besten schon am Vortag, ihrem Schicksal überlassen. Die Sache kocht autonom vor sich hin. Dann gibt es erst die Brühe, später den Rest mit einer Vinaigrette. Oder alles zusammen. In Paris ist le pot au feu wieder das angesagteste Gericht überhaupt. Verrückte Zeiten.
https://www.lemonde.fr/m-styles/article/2025/02/21/pot-au-feu-la-recette-des-fondateurs-des-bieres-de-belleville_6557497_4497319.html (Si apre in una nuova finestra)Kopf hoch,
ihr
Nils Minkmar
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