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Duplo Days

In unserem Haus wohnt ein sehr netter, alleinstehender Mann. Wenn ich mit ihm plaudere, ist er von ausgesuchter Höflichkeit, seine Kleidung ist elegant und Humor hat er auch. Doch vergangene Woche – die Kanzlerin entschuldigte sich gerade live im Fernsehen – hörte ich durch dünne Wände seinen Ausruf ehrlicher Verzweiflung: Ich will von einem Mann regiert werden!“

Ich musste lachen, obwohl es ja gar nicht lustig war. Mich erinnerte der Spruch an die Zeichnungen des großen Sempé, wenn kleine Männer es plötzlich mit der ganzen, bösen Welt aufnehmen wollen.

So ist das eben in diesen Tagen: Alle drehen durch. Mich lässt beispielsweise der Schokoriegel des Gesundheitsministers nicht mehr los: Als in der unseligen Nachtsitzung vom Wochenanfang die Bundeskanzlerin das Wort an Jens Spahn richtete, musste er sich entschuldigen, er habe „gerade einen Duplo im Mund.“ Das ist an sich nicht illegal. In vielen Büros, auch in Redaktionen stehen Boxen oder Automaten mit Gummibärchen von Haribo oder Katjes und Schokoriegeln der Firma Ferrero. Doch meiner Erinnerung nach spricht man als Erwachsener diesen Süßigkeiten in Momenten wachsender Ratlosigkeit, Langeweile und Müdigkeit zu. Ihre Kombination wirkt nicht nur wegen den Farben, der Konsistenz, der potenten Mixtur aus Geschmacksboostern und Industriezucker, sondern auch wegen der assoziierten Nostalgie. Es sind Süßigkeiten aus der Farbfernsehwerbung der Kindheit. In den Spots aus dem Ferrerokosmos ging es meiner Erinnerung nach besonders surreal zu: Seltsame Darsteller in krassfarbener Kleidung lösen Miniprobleme unter einer künstlichen Sonne mit intensivverpacktem Naschwerk. Das synthetische Blau des Ferrerohimmels, die ewig strahlenden Mütter und die eigenartige Stimmung dieser Szenen sind mir gut in Erinnerung geblieben. Eigentlich waren es Inszenierungen überirdischer Verhältnisse, künstlicher Paradiese. Die Produkte lösten dieses Versprechen weniger Geschmack als durch die Verpackung ein. Kaum etwas ist so perfekt und umfassend von der Welt abgeschieden wie Duplo, Kinderschokolade oder Überraschungseier. Ein großes Thema in der Kinderaufzucht der siebziger Jahre war die Lebensmittelhygiene, die Sauberkeit, besser noch Reinheit, von allem und jedem überhaupt. Da konnte eine moderne Mutter stets auf Ferrero vertrauen, hier lauerten keine keime, Pilze oder Bakterien, das waren die Sweets aus der Zukunft, haltbar bis in alle Ewigkeit.

Das Versprechen der Transzendenz aller Zeit war diesen Produkten eingeschrieben. Sie waren ja nicht nur, wie das traditionell war, an hohen Feiertagen für die Kinder verfügbar oder am Sonntag zum Dessert, sondern einfach immer. Die Kinder stürmen ins aufgeräumte Haus und die stets anwesende, nie beschäftigte, elegante Mutter reicht ihnen aus einem Korb oder eben dem Kühlschrank die ewigen Riegel, Eier oder Milchschnitten. Als Erwachsener wählt man den Duplo, um sich nicht aus dieser, sondern aus jeder bekannten Zeit weg zubeamen. Es ist eine verzweifelte Suche nach Trost.

Nun sind gerade Politikerinnen und Politiker nicht zu beneiden: Seit zehn Jahren folgt eine Krise auf die nächste. Kaum war der Wahnsinn des Irakkriegs vorbei gezogen, steuerte der frisch globalisierte Westen in die Finanzkrise, aus der eine Staatsschuldenkrise wurde. Ihr folgte der arabische Frühling und seine brutale Unterdrückung in Syrien. Vor ihr flohen die Menschen nach Europa, nach Deutschland, so entstand die sogenannte Flüchtlingskrise, die in Wirklichkeit eine Krise im Leben dieser Menschen ist. Die politische Lage spitzte sich 2016 noch mal zu, als die Briten für den Austritt aus der EU stimmten und in den USA Donald Trump die Wahl gewann. Es begannen Jahre, in denen das liberale, europäische Modell, symbolisiert durch Angela Merkel und Emmanuel Macron, weitgehend im politischen Belagerungsmodus überstehen musste.

Die bekannten Parteien haben das nur mit Mühe überstanden, überall bilden sich neue politische Koalitionen und Fronten, die Öffentlichkeit ist, abzulesen am rasanten Wandel der Medien, fragmentiert, nervös und diskursiv verwirrt.

Zu den aufgezählten Krisen kommen noch zwei weitere langfristige, potentiell sehr bedrohliche Prozesse hinzu, der Klimawandel und die Digitalisierung. Sie erfordern eine derart umfassende und entschlossene Antwort von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft, dass ihre Formulierung die Kapazitäten der demokratischen Systeme einer offenen Gesellschaft völlig überfordert.

Eines Tages, ich arbeitete noch im Feuilleton der FAZ, rief mich dort, mitten in der Produktion, Ulrich Beck an. Nebenan gab es Aufregung um und mit Frank Schirrmacher, ich suchte eine Formulierung, um ihn auf einen Rückruf zu vertrösten, denn wenn er erst anfing zu reden, dauerte es. Ich sagte, ich würde mich später wieder melden, denn „hier ist grad Krise“. Er antwortete ganz ruhig, mit einem einzigen Satz, den er ganz fröhlich sagte: „Aber die Krise ist der neue Normalzustand, wussten Sie das nicht?“

Nun rächt es sich, dass nicht nur unsere Eliten, sondern wir alle kaum auf Krisen vorbereitet wurden. Ausbildung und Studium orientieren uns immer auf Verbesserung, auf Optimierung. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde ja auch immer alles besser, die Menschen leben länger, haben mehr Geld, Plagen wurden zurückgedrängt. Aber nun ist es anders geworden. Die Pandemie zerrt dabei besonders an den Nerven, denn sie legt offen, woran es hapert: An der mangelnden internationalen Zusammenarbeit, dem schwachen Vertrauen zwischen Institutionen und Staaten, die es verlernt haben, schnell und entschieden zu handeln.

Um Krisen zu überstehen, braucht es Übung. Das römische Reich, einer der menschlichen Institutionen, die am längsten Bestand hatte, sorgte sich früh und umfassend um die seelische Gesundheit zumindest der Eliten.

Der französische Philosoph Michel Foucault hat in seinem Buch „Die Sorge um sich“, dem dritten Band seiner Geschichte der Sexualität, dargestellt, mit welchen Techniken und Praktiken die Römer versuchten, gesund und souverän durch Krisen zu kommen. Die Traumdeutung zählt dazu, Übungen in Meditation und Reflexion, stetige Weiterbildung und Selbstprüfung, aber auch der Austausch mit Mentoren, sowie das Schreiben von Briefen und persönlichen Aufzeichnungen. Diese Übungen bewirken das, was derzeit viele in asiatischer Philosophie, in Yoga, Zen und anderem Buddhismus suchen: Autonomie und Ausgeglichenheit. Diese griechische und römische Tradition ist demgegenüber nahezu vergessen. Solche Selbstsorge hilft, auch längere Krisen zu überstehen und wirkt nachhaltiger als ein Kinderschokoriegel.

Was tun?

Eine gute Ablenkung und Inspiration gleichzeitig ist der Thriller „44 Tage“ von Stephan R. Meier (Penguin Paperback). Hier wird die Zeit der Entführung von Hanns-Martin Schleyer im Jahr 1977 erzählt, allerdings aus einer völlig anderen Perspektive. Man erfährt einiges über die Rolle der Geheimdienste und die Widersprüche staatlichen Handelns und sehr spannend ist es auch – obwohl das Ende ja bekannt ist.

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