Ein Ort auf Erden
Der Stress mit dem Wohnen/Didier Eribon/Wirecard/ Guy de Malherbe
Es begann mit dem Besuch freundlicher Installateure, einer Ingenieurin und der Hausbesitzerin. Der Wasserdruck in der Wohnung über der unseren ließ zu wünschen übrig und nun sollte mal gecheckt werden, woran es liegt. Aber die kleine Expedition fand die Rohre nicht. Unser Haus ist ein Altbau mit vielen Tricks. Dann wurde erst die eine Toilette abmontiert, dabei versehentlich noch die zweite zerstört. Derweil gab es einen noch ungeklärten Vorfall im Hinterhaus, der zu einem Rohrbruch führte. Erstmal konnte er rasch behoben werden aber dann, schilderte mir einer der Installateure völlig fertig diese Erfahrung, stieg Wasser von unten in das Badezimmer der Nachbarn und kein Mensch wusste, woher. Das Wasser wurde abgestellt, eine Woche lang. Eine weltverändernde Erfahrung: Alles wird plötzlich schwierig.
Ein Großteil der Unterhaltungen, die die Menschen hierzulande führen, handeln vom Wohnen. Vom Umziehen, Renovieren und den damit verbundenen Problemen. Kaum jemand bleibt davon verschont. Ein bekannter Schauspieler, der auch ein Leser der Süddeutschen ist und mir ab und zu schreibt, seufzte schriftlich wegen einer Eigenbedarfsklage, die ihn aus seiner geliebten Wohnung, Zuhause seit Jahrzehnten, vertreiben möchte. Eine Familie aus unserer Nachbarschaft ist ebenfalls auf der Suche, unfreiwillig: die Bewohnerin der Wohnung unter ihnen beschwert sich über den Lärm der Kinder und hat die Hausbesitzer auf ihrer Seite. Anwälte sind mandatiert.
In meiner Kindheit und Jugend hatten wir das dauernd: Nachbarschaftsstreit, Klagen und Umzüge. Die Suche nach der guten Wohnung, nach einer sicheren Adresse auf Erden ist einer der ganz großen Stressfaktoren in dieser Gesellschaft. Ohne darin Experte zu sein, vermute ich, dass die rechtliche Basis, also das Miet- und das Baurecht, ein Problem darstellen - nicht so richtig aus einem Guss und an die modernen Zeiten angepasst, sondern unfair und labil. Viele Familien wenden, um diesen Problemen zu entfliehen, jahrelang große Mühen auf, um einmal Immobilienbesitz zu erwerben – doch die Familien wandeln sich, Kinder ziehen aus und das Haus fungiert als Anker, wenn man längst weiter segeln möchte. Dieser verzweifelte Wunsch nach irdischer Sicherheit wäre auch anders zu erfüllen. In einer Baugenossenschaft wohnt man sicher, ohne sich zu ruinieren. Leider sind diese Modelle immer noch die absolute Ausnahme. Auch Dienstwohnungen sind eine gute Lösung, werden auch sicher wieder vermehrt angeboten, wenn sich die Personalkrise verschärft. Der Soziologe Pierre Bourdieu hat während einer Métrofahrt zwei Frauen gelauscht, die sich über die Wohnungen ihres Lebens unterhielten. Man konnte, folgerte er, eine soziale Biografie anhand ihrer Wohnformen und Möglichkeiten schreiben – von der Studentenbude zum Reihenhaus im Vorort und den entsprechenden Krediten. Es ist ein das gesamte Leben umfassende Thema.
Die vergangenen guten Jahrzehnte mit all dem Geld im Umlauf und den wenigen Anlagemöglichkeiten haben die Lage verkorkst. Immobilien sind einerseits das Zuhause von Menschen, andererseits die Anlageform Nummer Eins. Nicht immer wird die Mahnung des Grundgesetzes beherzigt, nach der Eigentum verpflichtet. Fast alle Baustellen, an denen ich vorbei komme, bauen für das Luxussegment.Die derzeitige Lage sorgt für große Unzufriedenheit und Stress – von dem jede und jeder denkt, es sei bloß Privatsache. Bloß Pech. Dabei ist es Politik.
Auf der Buchmesse 2017 durfte ich ein Gespräch mit Didier Eribon führen. Eine Begegnung mit ihm ist immer sehr angenehm, denn er ist von einer altmodischen Höflichkeit, entwickelt echte Begeisterung für seine Gesprächspartner. Er kam an unseren Stand und klagte über Müdigkeit, sehnte sich nach einem Espresso. Hatten wir im Angebot, also servierte ich ihm eine Tasse. Nils, flüsterte er, das ist ja wie in einem Traum. Mir ist nach einem Café und schon gibt es den hier für mich…
Ein Gespräch mit ihm ist sehr interessant, außer, wenn es um aktuelle Politik geht. Da bewohnt er eine super linke Ecke, von der aus Macron weit schlimmer als die LePen erscheint oder so ähnlich. Sein Champion Jean-Luc Mélenchon ist so garnicht mein Fall, also suchte ich nach einer anderen Frage. Da er bei anderer Gelegenheit mit viel Humor von seiner Mutter erzählt hatte, fragte ich ihn arglos, wie es der alten Dame geht. Doch sie war kurz zuvor gestorben und er brach in Tränen aus.
Nun erscheint sein Buch über die Frau, die ihn zur Welt gebracht hat und es ist ein ganz außergewöhnliches Werk über Familie, Klassenfragen und Ratlosigkeit. Es ist ein Text von großer Aufrichtigkeit und voller Humor, den man bei aller Beklemmung gerne liest.
https://www.suhrkamp.de/buch/didier-eribon-eine-arbeiterin-t-9783518431757 (Si apre in una nuova finestra)Vielleicht wird uns in einigen Jahren die Wirecard-Affäre als der Anfang vom Ende der deutsch-russischen Verbindung unter Angela Merkel erscheinen. Schon jetzt kann man die Affäre als Symbol deutscher Naivität und blinder Gier gegenüber Russland deuten. Dass Wirecard-Manager Jan Marsalek ein russischer Geheimdienstmitarbeiter war, passt exakt in dieses Bild. Aber welche Dienste waren noch beteiligt? Viele Hinweise finden sich in der preisgekrönten Dokumentation von Gabriela Sperl, derzeit nur auf Sky/wow zu sehen.
https://www.wowtv.de/streamen/wirecard-die-milliarden-luge-2020/TF16993235 (Si apre in una nuova finestra)Die komischen Aspekte, die diese Story auch bietet, wurden in einer ebenfalls sehenswerten Serie mit Matthias Brandt gewürdigt.
https://www.netflix.com/watch/81423659?trackId=14277281 (Si apre in una nuova finestra)Irgendwann ist der Kult des perfekt arrangierten Tellers auch in allen Levels durchgespielt, dann werden andere Arrangements interessant. Der Maler Guy de Malherbe schwört auf Schmorgerichte, die immer besser schmecken, je länger sie vor sich brutzeln. Und dann ist Zeit zum Plaudern oder eben zum Malen.
https://www.lemonde.fr/les-recettes-du-monde/article/2024/03/08/canette-aux-olives-la-recette-de-guy-de-malherbe_6220870_5324493.html (Si apre in una nuova finestra)Kopf hoch,
ihr
Nils Minkmar
PS: Etwa hundert Abonnenten kommen von Sonntag zu Sonntag bei diesem Newsletter dazu, herzlichen Dank! Wer ihn gerne liest und finanziell unterstützen kann, soll einfach diesem Link folgen: