Ein Abend im Sélect
Das doppelte Frankreich/Doku über Selenskyj/Yoran Krempel/Slater-Klassiker

Es gibt angesagtere, schickere Adressen in Paris als diese alte Brasserie am Boulevard Montparnasse. Hier sitzen Rentner aus der Nachbarschaft neben Filmstars und Schriftstellern; viele lesen oder machen sich Karteikarten – Alltag im Quartier Latin. Am Dienstag traf ich dort Olivier, meinen Freund seit Kindertagen. Er ist heute Sozialarbeiter an einer Schule, engagiert sich in der Kommunalpolitik und nicht gerade der größte Fan des Präsidenten. “Eh bien”, sagt er triumphierend gleich zu Beginn, “nicht mal Du schaust ihn Dir noch an!” An jenem Abend hat Macron nach sehr langer Zeit mal wieder einen Fernsehauftritt. Den habe ich, stimmt, geschwänzt. Ich verweise auf die relative Leere im Sélect: “Sieh dich um, alle sitzen vor dem Bildschirm, um dem Präsidenten zu lauschen, nur widerständige Gallier wie Du nicht, typisch!” Wenn mir seine Klage über Macron zu viel wird, erkundige ich mich diskret nach dem Wohlbefinden von Monsieur Mélenchon. Man lese da ja so einiges in diesem Enthüllungsbuch, La Meute, das ich mir auch direkt gekauft habe.…dann wechseln wir bald zu erfreulicheren Themen – der Familie, den Kindern und Olivier hat sich eine schicke neue Brille machen lassen.
Zwischendurch stockt der Service und Olivier hakt nach, aber da erscheint der Kellner schon mit dem gewünschten Glas Wein. Olivier entschuldigt sich fast: “Man kann ja mal was vergessen…” Der Kellner: “Das mag vorkommen Monsieur, aber nicht bei mir.”
Das Sélect ist ein Ort, der von Erwachsenen geführt wird. Die KellnerInnen, die Köchinnen und Köche sind in ihrem Metier ausgebildet und bleiben Jahre. Auch wenn es überfüllt ist, spät, laut und heiß, ist ihnen nichts anzumerken. Oft werden lange Tische von Geburtstagsgesellschaften belegt, es gibt laute Touristengruppen, die Unverträglichkeiten und an der Bar betrinkt sich eine bekannte Schauspielerin mit einem Freund, der erkennbar nicht ihr Mann ist. Alles ok. Seit 1923 wird hier Tag und Nacht serviert, dem Personal ist nichts Menschliches fremd. Diese Art von Professionalität, von Stabilität ist selten geworden. Das schnelle Geld macht man damit nicht. Auf der großen Fläche des Sélect könnte man ein halbes Dutzend von Buden und Pop-Up Stores betreiben. Auch mit der digitalen Markenbildung hat man es hier nicht so. Die Küche ist französischer Standard, keine Bowls oder Avocado-Toasts, aber doch viel Grünzeug. Irgendwo hängt ein Brief der Bürgermeisterin von Paris, die das Sélect für seine Verdienste um das französische Geflügel lobt : Das halbe Poulet rôti ist eines der Standardgerichte!
Ich bringe Olivier noch zu seinem Auto. Seit Anne Hidalgo die Stadt zum Fahrradparadies gemacht hat, findet man sogar wieder Parkplätze in der Innenstadt. Er sieht sich um und befindet: Paris ist doch eine echt schöne Stadt. Ich stimme zu - kein originelles Fazit von uns beiden, aber Originalität wird ja auch überschätzt.
Als ich das Hotel erreiche, ist Macron immer noch auf Sendung. Er sieht müde aus. Es geht um den Zustand der Gefängnisse und um Details, wie die Möglichkeiten der Miete von Flächen in spanischen Strafanstalten. Robert Ménard, der rechte Bürgermeister von Béziers, hält wieder den großen Monolog von der allgemeinen Unsicherheit wegen zu viel Migration. Frankreich gibt es zwei Mal: Einmal in den Fernsehstudios, da wird alles immer schlimmer. Dann draußen, auf den Boulevards, den Dörfern oder zum Beispiel im Sélect – da ist ein gutes Leben möglich.
Jede Zeit hat ihre inspirierenden politischen Gestalten. In meiner Jugend waren es Willy Brandt, Michail Gorbatschow und Nelson Mandela, nun ist das Wolodymir Selenskyj. Der legendäre französische Dokumentarfilmer Yves Jeuland hat mit Kolleginnen von Le Monde, unter anderem Ariane Chemin, eine zweiteilige Biografie des ukrainischen Präsidenten realisiert, die unbedingt sehenswert und überraschend ist. Jeuland hat mit Kriegsreportagen und solchen Dingen nichts am Hut, aber er hat schon einen Film über das Leben von Charlie Chaplin gemacht und damit konnte man ihn überzeugen – denn Selenskyj begann als Musical-Star und hatte auch eine Chaplin-Nummer im Programm, die im Film kurz zu sehen ist. Überhaupt findet sich in dieser Doku ganz erstaunliches Material über die musikalische Karriere von Selenskyj, seinen Aufstieg zu Ruhm und Wohlstand, über seine Heimat und seine Freunde. Die Lage ist nicht einfach, aber dieser Film macht Mut und vermittelt eine Vorahnung, wie es nach dem Krieg sein wird, wenn das Russland Putins verloren hat.
https://www.arte.tv/de/videos/118250-001-A/selenskyj-vom-entertainer-zum-staatsmann-1-2/ (Si apre in una nuova finestra)
In unserem französischen Haus stehen noch Geräte, die von meinen Großeltern angeschafft wurden. Viel werden sie nicht gekostet haben, denn damals wurde per Katalog bestellt und zwar bei einem Versandhandel, der Lehrern Vorzugspreise gewährte. Bezahlt wurde immer in monatlichen Raten. Etwa ein Monstrum von Geschirrspülmaschine, das seit Ewigkeiten in Betrieb ist, nie repariert wurde und nach wie vor eine unfassbare Leistung bringt. Im Schuppen steht eine Kühl-Gefrierkombination, die schon zu Mitterrands Amtsantritt veraltet war, eine Friteuse aus Flugzeugstahl und diverse andere Utensilien, allesamt unzerstörbar (okay die Friteuse wurde in der Praxis durch den Airfryer ersetzt). In unserer deutschen Küche hingegen haben wir Waschmaschine, Geschirrspüler und Kühlschrank schon x-mal ausgetauscht oder repariert. Für Toaster würde ich am liebsten ein Abo abschließen, denn nach einigen Monaten geben sie alle ihren Geist auf. Die Auskunft der Techniker ist dann immer dieselbe: Sie dürfen die Geräte halt nicht so oft benutzen.
Über die politische und philosophische Dimension dieses Wandels hat der Philosoph Gabriel Yoran ein wichtiges Buch geschrieben. (Disclaimer: Gabriel ist auch Mitbegründer der Plattform Steady, die diesen Newsletter vertreibt.) Er geht mit viel Sachverstand der Frage nach, weshalb trotz technologischer Entwicklung und allgemeiner Reichtumszunahme die Dinge um uns herum eher schlechter werden – eben, wie Yoran schreibt, zu Krempel. Es ist keine Einbildung, sondern Politik. Es ist ein Buch, auf das ich schon lange gewartet habe, weil es Alltagsbeobachtungen, technologische Analysen und Zeitkritik so verbindet, dass man es auch gerne liest, nämlich in einer modernen und humorvollen Sprache.
Ich bin ausnahmsweise heute, am Sonntag, unterwegs und darf mit dem tollen Team von Was bisher geschah im Staatstheater Celle auftreten. Logischerweise komme ich nicht zum kochen, also tröste ich mich mit der Lektüre von Klassikern, etwa diesem Slater-Doppelrezept zu wechselhaftem Frühjahrswetter. Das ist schon ziemlich gut, wenn man es auch nur liest und enthält sowohl eine vegetarische als auch eine Geflügelkomponente.
https://www.theguardian.com/food/2022/apr/10/nigel-slaters-wild-garlic-and-broccoli-pastries-and-chicken-with-creme-fraiche-recipes (Si apre in una nuova finestra)Kopf hoch,
ihr
Nils Minkmar
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