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Menschen haben keine Wurzeln

Der Januarvorschlag/Dror Mishani/arte-Doku zum deutsch-französischen Beziehungsstatus/Simples Huhn für Winterschlaf

In unserer Familie wurde schon immer über Politik gesprochen. Morgens wurde ich von lauten Stimmen geweckt, die die Zukunft des Sozialismus, die Dekolonisierung oder neueste politische Skandale debattierten. 

Und nun überlege ich seit einigen Tagen, was mir so an besonderen Tiefpunkten in Erinnerung geblieben ist, denn ein Vorschlag des CDU-Generalsekretärs geht mir nicht mehr aus dem Sinn: die Deutschpflicht auf Schulhöfen. Kinder, die in der Pause kein Deutsch sprechen, sollen ermahnt und bestraft werden, so möchte der Mann die Silvestergewalt in Neukölln bekämpfen. Je länger ich darüber nachdenke, desto bewundernswerter ist dieses Juwel von einem Januarvorschlag: von allen Seiten falsch. Ich vermute, es ist der schlechteste politische Vorschlag meines Lebens.

Es ist ein großer Vorteil, wenn Kinder mehrere Sprachen sprechen können und man soll sie bei jeder Gelegenheit dafür loben. Dabei eine Wertung vorzunehmen - europäische Sprachen top, alle anderen Flop - ist diskriminierend und unsinnig. Wer - wie es in einer Stuttgarter Grundschule (Si apre in una nuova finestra) geschehen ist, eine Schülerin bestraft, weil sie in der Pause türkisch spricht, hat  im Schuldienst nichts verloren. Es ist nichts anderes als bürokratische Xenophobie. 

Dass Kinder, deren Eltern nicht gut deutsch oder Hochdeutsch sprechen, am besten in gemischten Klassen gedeihen und die Schule eine Aufgabe hat, gutes Deutsch zu vermitteln, Vielfalt zu fördern und Ambitionen zu wecken, steht auf einem anderen Blatt. 

(Hinweis am Rande: Dieses Land braucht Zuwanderung in großem Ausmaß und wirbt um Touristen und Geschäftspartner. Wer möchte schon nach Deutschland ziehen oder en famille reisen, wenn sein Kind hier Stress bekommt, weil es seine Muttersprache spricht?)

Politisch hat es noch nie einer konservativ-bürgerlichen Partei etwas genutzt, auf der rechten Spur überholen zu wollen. Solche Versuche führen in die politische Bedeutungslosigkeit, denn Menschen, die so etwas gut finden, haben eine weitaus krassere Alternative rechts von der Mitte. 

Es ist schrecklich, welche Konjunktur das "Thema Migration", eigentlich die Fremdenfeindlichkeit, in allen europäischen Ländern  hat. Im Vereinigten Königreich kann man beobachten, wie die von Fremdenfeindlichkeit getriebene Brexitkampagne das Land ruiniert hat - ganz gegen die Interessen der Leute. Die Furcht vor, der Hass auf polnische und albanische Menschen waren stärker als die Vernunft. In Frankreich ist es kaum besser, die Abwertung von Menschen anderer Hautfarbe und Herkunft ist in der politischen Rhetorik Alltag. Komplexe Probleme der organisierten  Kriminalität und des religiösen Fanatismus, der vorstädtischen Bandenbildung und des Drogenhandels werden auf das  übersichtlichere Thema Migration reduziert,  was die Affekte mobilisiert, gut ablenkt und überhaupt nichts löst. 

Diese Sicht der Dinge zu bekämpfen, ist die zentrale Aufgabe einer humanen und progressiven Politik in  Europa. Das geht nicht mit Hinweisen auf Nutzen und Profit durch Zuwanderung – hier geht es um Werte und Menschenbilder. Auch um Bilder von uns und von der Welt

Menschen wachsen nicht wie Spargel aus dem Boden. Es zeichnet uns aus, dass wir als Säugetiere auf zwei Beinen keine Wurzeln haben, sondern gehen und wandern können, und zwar ziemlich weit und das schon sehr lange.  Alle unsere Vorfahren sind aus Afrika ausgewandert und wenn man den Planeten als Einheit sieht, können wir auch nirgends hin (bis auf jene raumfahrenden Milliardäre, die sich Trips zu Mars und Mond kaufen möchten - und von mir aus auch dort bleiben können). Wir müssen also gut miteinander auskommen.

Der Vorschlag von Mario Czaja lädt zum Träumen ein: Er ist von jedem Winkel aus betrachtet falsch. 

In den letzten Wochen habe ich mich mit diesem Krimi gut unterhalten gefühlt. Der israelische Autor Dror Mishani - dessen voriges Buch "Drei" mir ehrlich gesagt zu gruselig war - erzählt von der Sinnkrise eines Ermittlers, der in Serien wie Fauda eine Welt der starken Männer und der Heldentaten bestaunt und dem sein polizeilicher Alltag dann klein und witzlos vorkommt. Er hat zwei rätselhafte und wenig spektakuläre Fälle auf dem Tisch, aber nach und nach entdeckt er Elemente, die nicht ins Bild passen. Seine Suche führt ihn nach Paris und in die Welt der Geheimdienste, dabei bleibt die Geschichte immer überraschend. Teilweise wird aus der Sache auch ein israelischer Gesellschaftsroman und ich würde so etwas auch gern aus und über Deutschland lesen. 

Seit Monaten ist in der kleinen deutsch-französischen Szene von diesem Datum die Rede, dem 60.ten Jahrestag der Unterzeichnung des Elyséevertrags. Es ist die Gelegenheit, dem frustrierenden Zustand der Beziehungen durch eine Rückbesinnung auf den Aufbruchsgeist von damals zu entfliehen oder der Sache neuen Schwung zu verleihen. Diese arte-Dokumentation ist eine gute Standortbestimmung und daher recht ernüchternd. Seit der Amtszeit von Angela Merkel gibt es mehr verpasste als realisierte Chancen. Zwar wurde der komplette Bruch mehrfach vermieden, aber richtig toll stehen die Dinge nicht. Man frage sich nur, ob eine Geste wie jene in Verdun zwischen Kohl und Mitterrand oder die Einführung einer neuen, gemeinsamen Währung heute noch denkbar wäre. Dass die Ankündigung zur Lieferung der Panzer für die Ukraine getrennt und nacheinander erfolgte, war wieder so ein Moment, an dem das Gesicht in die Hände wollte. Hier wie dort verkennen PolitikerInnen das enorme Potenzial, das in einer intensiveren Zusammenarbeit liegt. Dazu müsste man  Risiken eingehen - wer ist dazu bereit?

https://www.arte.tv/de/videos/108461-000-A/deutschland-frankreich-beziehungsstatus-ungeklaert/ (Si apre in una nuova finestra)

Neulich traf ich mich mit einem Freund zum Mittagessen und wir gestanden, beide noch tief im Winterschlaf zu sein und mit wenig Energie gerade mal das allernötigste zu schaffen. In so einer Lage muss man gut essen, hat aber weder Lust, auszugehen noch die Power, umfangreich Kochkunstwerke zu schaffen. Also ist solch ein Rezept genau passend:

https://www.theguardian.com/food/2022/dec/27/baked-chicken-and-potatoes-with-lemon-and-rosemary-recipe-rachel-roddy (Si apre in una nuova finestra)

Kopf hoch,

ihr

Nils Minkmar

PS: Der  Charakter dieses Newsletters scheint mir darauf zu gründen, dass ich ihn ganz frei gestalten kann. Damit ich dafür auch die Zeit habe, kann, wer es möchte, hier einen kleinen Beitrag dazu leisten: 

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