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In der Synagoge mit Thomas Löser (Grüne / Wahlkreis Dresden 2)

Weinböhla: Nach der Wanderung mit Martin Dulig (SPD) (Si apre in una nuova finestra) ruht sich unsere vierköpfige Gruppe im Außenbereich einer Gaststätte aus. Mein Blick fällt auf die Vorderseite der Speisekarte, auf der umrahmt ein unübersehbarer Warnhinweis an Veganer*innen prangt. Der Betreiber lässt seiner Wut freien Lauf, sieht sich offenbar von Fans der fleischlosen Ernährung in seiner Existenz bedroht. Sämtliche Tische sind belegt, die Bedienung hat uns am Stammtisch platziert und gewarnt, dass das Essen lange dauere.

Die Nachfrage ist groß – die Wut auf Veganer*innen noch größer. Das Fehlen eines veganen Angebots scheint in den Augen der Verantwortlichen keine ausreichend effektive Abschreckung zu entfalten. In der Not, belagert von Horden nach Sojasteaks schreienden Hungrigen, greift das Team zum letzten Mittel: dem Hinweis, dass sich Veganer in die 20 km entfernte Neustadt verziehen sollen.

Ich lese diese Zeilen und freue mich. Ein Geschenk - die Überleitung zu meinem Treffen mit dem grünen Landtagsabgeordneten Thomas Löser in der Dresdner Neustadt auf einem Silbertablett serviert.

Thomas Löser: selbstbewusst, fröhlich, grün

„Wie dumm kann man sein“, ruft Thomas Löser erheitert aus, als ich ihm von der Speisekarte in Weinböhla erzähle. Diese Reaktion zeigt exemplarisch, was für ein Typ der direkt gewählte Landtagsabgeordnete ist. Wenn er von den Anfeindungen gegen die Grünen berichtet, unterstreicht er dies mit wegwerfenden Handbewegungen. Er redet sich nicht in Rage, zeigt auch keine Angst. Nüchtern stellt er fest, dass das alles Folge von Verhetzung sei. Eher mit einem wissenden Lachen als mit resignierter Miene.

Wir treffen uns beim Sommerfest in der Jüdischen Kultusgemeinde Dresden. Beheimatet nahe dem Bahnhof Neustadt, unmittelbar neben einem Bauwagenplatz. 2023 fand die Einweihung der Synagoge statt, in einem kärglich wirkenden Gebäude. Eine ungewöhnliche Gemeinde: bunt wie die Neustadt, deren Abgeordneter Thomas Löser im Landtag ist. Direkt gewählt im damaligen Wahlkreis Dresden 5, das erste grüne Direktmandat in Dresden seit Gründung von Bündnis 90.

Thomas Löser: Tätowierung auf der rechten Hand, legeres Outfit, auf dem Foto lässig am Pult der Synagoge lehnend, im Gespräch mit Rabbi Akiva Weingarten.

Studium Kunstgeschichte, Geschichte, Pädagogik, danach Gymnasiallehrer für Kunst und Geschichte. Wohnend nicht in der Neustadt, sondern auf der anderen Elbseite in der Johannstadt, die ebenfalls zu diesem Wahlkreis gehört.

Verhetzung, aber normale Gespräche möglich: Thomas Löser zeichnet ein komplexes Bild, das den Schilderungen von Martin Dulig ähnelt. Sachsen in Aufruhr – nur Geschrei und Gewalt? Das verbreitete Bild weicht von Lösers und Duligs Erfahrungen ab.

Die Situation ist vielschichtig, vielfältige Faktoren spielen eine Rolle. So kommt es sicher auf das Umfeld an. Präsenz in der links-alternativen Neustadt zu zeigen, das ist für die Grünen ein Heimspiel. In der Johannstadt weniger.

Es hängt auch davon ab, welchen Menschen Politiker*innen begegnen, im Straßenwahlkampf spielt der Zufall eine Rolle. All das erklärt dieses Phänomen aber nicht hinreichend. Zwei weitere Faktoren verdienen Beachtung: die Art des Auftretens und die Empfindsamkeit.

Auftreten: Thomas Löser ist selbstbewusst und vermittelt das auch. Ich stelle mir vor, dass er so manchem Wutbürger proaktiv den Wind aus den Segeln nimmt. Sinnlose Gespräche an Infoständen und Co. würde er schnell abbrechen, so Löser. Er strahlt dafür die erforderliche Autorität aus.

Empfindsamkeit: Sollten Wutbürger doch zu Tiraden ansetzen, interessiert das jemanden wie Löser eher peripher. Das ist jedenfalls mein Eindruck. Wegwerfende Handbewegung, Lachen – und die präzise Analyse der aktuellen politischen Situation.

Dennoch: Thomas Löser mag selbstbewusst und widerstandsfähig sein, er agiert in einem angespannten Umfeld. Löser erzählt eine Geschichte, die den ganzen Wahnsinn der aktuellen Lage aufzeigt. Ein Gastronomiebetreiber mit Migrationshintergrund erteilt mittels Schild Grünen pauschal Hausverbot. Der Abgeordnete sucht das Gespräch, will die Hintergründe erfahren. Die Energiepreise, erfährt er. Offenbar hat der Betreiber Probleme, die Kosten für seinen Betrieb in der Innenstadt zu stemmen. Löser hilft beim Kontakt mit dem Energieanbieter und bei der Lösungssuche.

Kopfschüttelnd hinterfragt er mir gegenüber das gesamte Geschäftskonzept des migrantischen Wutbürgers. Fazit: Stromverschwendung durch eine immense Anzahl an stromintensiven Großgeräten führt zu hohen Stromrechnungen. Daran sind nicht die Grünen schuld.

Kulturkampf betreiben die anderen

Die Grünen kümmern sich nur um Minderheiten, so ein wirkmächtiger Vorwurf. Thomas Löser kümmert sich als Stadtrat um bezahlbares Wohnen. Seit 2009 vertritt er den Wahlkreis Johannstadt, Altstadt und Friedrichstadt im Dresdner Stadtrat, von 2013 bis 2019 als Fraktionsvorsitzender. Ein vielfältiger Wahlkreis: Plattenbauten in der Johannstadt, die in Teilen als sozialer Brennpunkt gilt. Die Altstadt mit Semperoper, Frauenkirche, Zwinger. Und die Friedrichstadt, die sich in den letzten Jahren stark verändert hat.

Gentrifizierung, städtische Wohnungsbaugesellschaft, Mietpreisbremse: Das sind Themen, mit denen sich der grüne Stadtrat und Landtagsabgeordnete beschäftigt. Im Landtag als wohnungspolitischer Sprecher der Grünen-Fraktion. Keine Themen für Minderheiten, wie das erfolgreiche Narrativ weismachen will.

Ein weiterer Schwerpunkt seiner Tätigkeit: Bildung. Auch kein Nischenthema. Im Stadtrat kämpft er für gut ausgestattete Kitas und Schulen, als Mitglied des Wissenschaftsausschusses im Landtag befasst er sich mit den finanziellen Rahmenbedingungen für Hochschulen.

Thomas Löser ist ein Grüner, Umwelt- und Klimaschutz gehören zur DNA der Partei. Und sind für viele Menschen eine wesentliche Motivation, sich bei den Grünen zu engagieren. Bei Löser reicht das Interesse dafür in die DDR-Zeit zurück, 1988 kam er in Riesa mit der Umweltbewegung in Kontakt. DDR-Opposition und Umweltbewegung sind eng miteinander verknüpft, siehe mein Bericht über die Alte Bäckerei in Großhennersdorf (Si apre in una nuova finestra), die bis heute eine Umweltbibliothek beherbergt.

Die Hauptmotivation Lösers, sich für die Grünen zu engagieren, wurzelt aber in einer späteren Auseinandersetzung: dem Streit um die Waldschlösschenbrücke. Heute fahren Autos über diese Brücke, den Kampf haben Löser und Co. verloren. Die Folgen unterschiedlich: Die UNESCO erkannte Dresden den Weltkulturerbetitel ab, Thomas Löser kandidierte 2009 für den Dresdner Stadtrat und 2019 für den Landtag. Erfolgreich.

Kultur ist ebenfalls ein wichtiger Bestandteil in der politischen Sozialisation und Gegenwart Thomas Lösers: allerdings nicht in der Form des Kulturkampfes, sondern als Kampf für Kultur. Bevor er sich intensiv parteipolitisch engagierte, setzte er sich für die Bürgerinitiative „Kulturpalast erhalten“ ein. Ebenfalls erfolgreich: Dieses geschichtsträchtige DDR-Gebäude gehört heute zu den Highlights der Dresdner Innenstadt, dank Konzertsaal, dem Kabarett Herkuleskeule und dem Hauptstandort der Städtischen Bibliotheken ein belebter Ort. Ein Ort für die einheimische Bevölkerung, ein Meilenstein der Stadtentwicklung.

Jüdische Kultusgemeinde Dresden: einzigartig wie die Neustadt

Kultur: Die jüdische Kultur gehört untrennbar zur Stadtgeschichte Dresdens – und sie wird in den letzten Jahren wieder sichtbarer. Dazu trägt wesentlich die neu gegründete chassidisch-liberale Kultusgemeinde unweit des Bahnhofs Neustadt bei.

Ich erreiche die unscheinbare Synagoge eine halbe Stunde vor Thomas Löser. Es regnet, der steinige Weg ist mit Pfützen übersät. Das Gelände des Alten Leipziger Bahnhofs: ein ungewöhnliches Areal für eine Synagoge. Nach etwa 100 Metern, links der Eingang, rechts ein Bauwagenplatz.

Vor einigen Jahren wollte der Konzern Globus an dieser Stelle einen großen Einkaufsmarkt bauen. Hitzige Debatten in der Stadt, wie so oft. Thomas Löser gehörte zu den erklärten Gegnern dieses Ansinnens – die Ratsfraktionen der Grünen, der SPD sowie weitere Stadträte verhinderten dieses Projekt. Einige Vertreter der Linksfraktion enthielten sich bei wichtigen Abstimmungen in dieser jahrelangen Auseinandersetzung mit abweichenden Stadtratsbeschlüssen. Löser steckt tief in der Materie drin. Später erklärt er mir, wie prekär die Situation weiterhin ist.

Nun ist die Situation aber noch so, wie sie ist. Synagoge, Bauwagenplatz, Kulturzentrum Hanse 3: eine kulturelle Oase inmitten der politischen Oase Dresden-Neustadt. Und die chassidisch-liberale Kultusgemeinde mit Rabbi Akiva Weingarten passt perfekt in dieses Ambiente. Kippa und Regenbogenfahne, im Eingangsbereich Plakate und Flyer zu Themen wie Rassismus und Antisemitismus.

https://www.3sat.de/film/dokumentarfilm/220306-ultraorthodox-der-kampf-des-rabbi-akiva-dokfilm-100.html (Si apre in una nuova finestra)

Eine einzigartige Gemeinde, die überregional viel Aufmerksamkeit erregt: tief religiös, an orthodoxe Traditionen anknüpfend, aber lebendig und weltoffen. Anlaufpunkt für Aussteiger aus ultraorthodoxen Gemeinden weltweit. Moshe Barnett, der Gemeindevorsitzende, feierte beim CSD in Dresden auf dem Wagen der SPD mit. Ich treffe beim Sommerfest neben Thomas Löser die SPD-Direktkandidatin Sophie Koch und den SPD-Stadtbezirksrat Felix Göhler.

Ich bin zu früh, aber dankbar: Das ermöglicht mir, im Saal der Synagoge am religiösen Gesprächskreis teilzunehmen. Ein freundlicher Besucher besorgt mir eine Kippa, die einzige typische Regel, die dort Anwendung findet. Bierflaschen auf dem Boden, eine divers zusammengesetzte Gruppe diskutiert unter Anleitung der Rabbinerin Esther-Jonas Märtin offen über religiöse Texte, ein Mädchen verteilt Toffifee. Das Ambiente erinnert eher an Gesprächsrunden der DDR-Opposition oder an eine Diskussion in einem alternativen Zentrum als an eine religiöse Veranstaltung.

„Symbolisch wichtig“: Thomas Löser und das Direktmandat

Der Gesprächskreis ist beendet, der Saal füllt sich. Gemeindemitglieder haben vielfältige Speisen aufgetischt. Warnhinweise an Veganer*innen: hier Fehlanzeige.

Ich entdecke Thomas Löser, wir kommen ins Gespräch. Und irgendwann im Verlaufe dieser Unterhaltung gelangen wir zur zentralen Frage, die am Wahlabend über den Einzug der Grünen in den Landtag entscheiden könnte. Wiederholt Löser seinen Erfolg von 2019, erringt er im neu zugeschnittenen Wahlkreis wieder das Direktmandat?

Thomas Löser strahlt eine interessante Mischung aus Selbstbewusstsein und Zurückhaltung aus. So selbstbewusst wie er auftritt, so zurückhaltend ist er bei einer Prognose für den Wahlausgang. Obwohl die objektiven Fakten dafür sprechen, dass er gute Chancen auf das Direktmandat hat. So auch die Einschätzung von Roman Grabolle (Si apre in una nuova finestra):

Eine Feststellung liegt Thomas Löser am Herzen: Er betont, dass ein grünes Direktmandat in der Neustadt und Johannstadt „symbolisch wichtig“ sei.

Symbolisch wichtig: Er beschränkt sich nicht auf die Bedeutung für die Grünen. Er meint damit vielmehr die Sichtbarkeit des anderen Dresdens, des anderen Sachsens. Trotz schlechter Rahmenbedingungen das Direktmandat als Signal: Hallo, wir sind noch da. Und wir gehen nicht weg.


Zum Wahlkreis Dresden 2 (Neustadt/Johannstadt):

Thomas Löser hat seinen Wahlkreis 2019 mit 24,1 % zu 23,5 % der Stimmen gegen den CDU-Kandidaten Gunter Thiele direkt gewonnen, bei den Zweitstimmen führte die CDU mit 24,6 % zu 20,7 % vor den Grünen. Allerdings erfolgte vor der Landtagswahl 2024 ein Neuzuschnitt dieses Dresdner Wahlkreises, da Dresden einen weiteren Wahlkreis erhält.

Bis 2019 umfasste der Wahlkreis Dresden 5 diverse Stadtteile beiderseits der Elbe. Nun tritt Thomas Löser im Wahlkreis Dresden 2 an, der sich aus dem gesamten Stadtbezirk Neustadt sowie den Stadtteilen Johannstadt Nord und Johannstadt Süd aus dem Stadtbezirk Altstadt zusammensetzt. Die Stadtteile Äußere Neustadt und Leipziger Vorstadt, die zum Stadtbezirk Neustadt gehören, sind Hochburgen der Grünen.

Der Neuzuschnitt dürfte Thomas Löser eher helfen, vor allem die Stimmen aus der neu hinzugekommenen Äußeren Neustadt erhöhen seine Chance auf die Wiederwahl.

Es kommt aber auch auf die politische Stimmung an. Nach den vorliegenden Umfragen müssen die Grünen mit sachsenweiten Einbußen rechnen. Bei den Kommunal- und Europawahlen mussten die Grünen im gesamten Land, in Großstädten wie Dresden und in innerstädtischen Hochburgen wie der Neustadt relevante Verluste verkraften.

Diese Entwicklung stellt auch für Thomas Löser in der Neustadt und der Johannstadt eine Herausforderung dar. Andererseits kann er darauf hoffen, verstärkt Wähler*innen von anderen Mitte-Links-Parteien für sich zu gewinnen.

Das Hauptmotiv vieler Wähler*innen dürfte sein, einen Sieg des AfD-Kandidaten zu verhindern. Die Wahl des Wahlkreisgewinners von 2019 ist naheliegend. Zudem ist Thomas Löser im Wahlkreis verwurzelt. Kombiniert mit einer umfangreichen Erststimmen-Kampagne, unter anderem auf Plakaten sichtbar, dürften seine Chancen auf das grüne Direktmandat in Dresden gut sein.


Zur Lage der Grünen vor der Landtagswahl in Sachsen:

Erweist sich das grüne Direktmandat in Dresden sogar als überlebenswichtig?

Die aktuelle politische Situation ist für die Grünen herausfordernd. Seit der Bundestagswahl 2021 leiden sie unter der Ampel-Regierung in Berlin, der Unmut beträchtlicher Teile der Bevölkerung konzentriert sich auf die Grünen. Allemal im Osten Deutschlands, allemal in Sachsen und Thüringen. Energiepreise, Bauernproteste, Klimaschutz, sexuelle Selbststimmung: Bei zahlreichen Themen dienen die Grünen als Feindbild. In Ostdeutschland kommt der russische Krieg gegen die Ukraine erschwerend hinzu. Die abwertende Bezeichnung „olivgrün“ ist verbreitet, befeuert von AfD, BSW – und den eigenwilligen Einlassungen des sächsischen Ministerpräsidenten.

Besucht auch gerne meinen Blog Krimiperlen, auf dem ich politisch relevante Kriminalliteratur vorstelle. Jüngst Robert Bracks “Schwarzer Oktober”, im Verlag Edition Nautilus erschienen. (Si apre in una nuova finestra)

Bei 6 % taxieren die Institute die Grünen in Sachsen. Das würde trotz Verlusten von 2,6 % für den Wiedereinzug in den Landtag reichen. Doch können die Grünen sicher sein? Wie SPD und Linke fürchten die Grünen, dass manche Wähler*innen im letzten Moment CDU wählen könnten. Aufgrund der falschen Annahme, es sei wichtig, wer die stärkste Partei wird: CDU oder AfD.

Die Grünen halten dagegen und weisen darauf hin, dass es um demokratische Mehrheiten und eine Regierung ohne AfD und BSW gehe. Sie verweisen auch auf den Anti-Grüne-Wahlkampf der sächsischen CDU.

Reicht das? Im Notfall gibt es eine weitere Möglichkeit, in voller Stärke in den Landtag einzuziehen – selbst, wenn die Grünen die 5-%-Hürde unterschreiten. Hierfür reichen zwei Direktmandate. Thomas Löser und die Neustadt sowie die Johannstadt spielen hierbei eine zentrale Rolle.

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