Erfolg? Los!
Heute habe ich eine Mütze getragen. Eine Wintermütze aus Fleece. Obwohl es nur neun Grad waren. Aber es war windig und klamm und mir war nach Mütze. Also habe ich sie getragen. Und festgestellt: Das hättest du früher nicht gemacht.
Früher wäre ich mit nacktem Kopf in den Sturm gerannt. Um den Kopf freizubekommen. Um nichts anderes zu hören außer das Brummen und Heulen des Sturms um meine Ohren. Ab und zu mache ich das immer noch. Doch damals habe ich aus anderen Gründen keine Mütze getragen. Ich habe keine getragen, weil ich nicht daran gedacht habe. Ich habe nicht daran gedacht, dass ich danach lange frieren würde. Ich habe nicht an mich gedacht. Lange nicht.
In letzter Zeit denke ich mehr an mich. Nicht nur über mich und meine Ziele, sondern ich denke mit Hirn und Herz. Normalerweise denkt mein Hirn: Welches Ziel ist das nächste? Denn Ziele haben mich immer überleben lassen, Ziele haben mich einen Weg in die Zukunft finden lassen. Und das ist auch gut so. Wenn es nicht das Einzige ist, was das Hirn macht.
Herz und Hirn können aber auch schöne Ziele träumen, nicht nur Überlebensziele. Zum Beispiel den Traum von der Bestsellerautorin. Oder von der etablierten Bildhauerin. Hirn und Herz denken dann sowas wie: Dann hast du es geschafft!
Gott sei Dank kenne ich Hirn und Herz schon lange und weiß: Sie haben schon oft gedacht, wenn sie dieses oder jenes Ziel erreichen würden, dann wäre alles gut. Und ja, natürlich wird es mit dem Erreichen von Zielen immer ein Stück besser.
Zum Beispiel bei der Renovierung unseres Hauses. Vier Jahre ist das jetzt her, noch immer fehlen Fußleisten an manchen Ecken, der Flur sieht aus wie ein Lagerraum und es gibt – oh Schreck – immer noch unausgepackte Grabbelkisten, die wahrscheinlich eh komplett auf dem Müll landen. Da ist es gut, wenn ich zurückblicke und schaue, welche Ziele schon erreicht sind. Das tut gut.
Aber wenn Hirn und Herz dauerhaft meinen, das reicht noch nicht? Dann werde ich ganz kribbelig und fühle. Vieles. Zweifel zum Beispiel:
Hätte ich meine Talente nicht mehr nutzen müssen? Warum habe ich die Anfragen von Verlagen nicht angenommen? Weil ich das nicht mehr wollte, dieses Reduziert-werden auf die Suizidwitwe. Weil ich mehr bin. Aber wer will dieses Mehr lesen? Talent und Können und Erfahrung reichen im Buchbetrieb nicht. Du musst zur richtigen Zeit am richtigen Ort sein. War ich bisher nicht. Werde ich vielleicht auch nie sein. Und dann? Hätte, Hätte, Fahrradkette.
Setze ich eben auf die Bildhauerei. Immerhin habe ich ein Diplom. Und gute Ideen. Beherrsche das Handwerk. Mag es zu lernen. Erarbeite Konzepte. Ich bin bereit für den öffentlichen Raum! Aber der Kunstmarkt ist ähnlich wie die Literaturwelt: Man muss die richtigen Leute kennen. Man muss sich vermarkten. Man muss Kontakte knüpfen, Zeit investieren, und Geld.
Mit einer Posttraumatischen Belastungsstörung – kurz PTBS – habe ich davon nicht viel. Sie setzt mich unter Dauerstrom, immer in der Annahme, dass jeden Moment mein Leben von jetzt auf gleich vorbei sein könnte. Dass das Kind stirbt oder der Wikinger. Dass die AfD in Deutschland regiert und Menschen mit psychischen Erkrankungen ausweist oder gleich ausrottet. Ich höre ihr nur halb zu, der PTBS, aber das kostet Energie und deshalb habe ich davon wenig übrig.
Wenig Energie gleich wenig Arbeitszeit. Wenig Arbeitszeit gleich wenig Geld. Und wenig Geld gleich wenig Chancen. Auch da erwische ich mein Hirn bei dem Glaubenssatz: „Aber wenn du dich genug anstrengst, kannst du alles erreichen!“ Typisches Kind der Hollywood-Filme der 1980er- und 1990er-Jahre. Was aber ist genug? Und was ist, wenn Anstrengung allein nicht reicht?
Mit meinem ersten Mann Markus, einem Querschnittsgelähmten, habe ich über zwanzig Jahre erlebt, wie das ist, wenn man sich anstrengt und es trotzdem nicht reicht. Wenn man immer wieder behindert wird. Es macht einen mürbe, die Behinderung wandert vom Körper in die Seele, und irgendwann stirbt sie.
Man könnte meinen, Markus hätte kein erfolgreiches Leben gehabt. Und am Ende Suizid begangen. Ich finde, er hat sich zwei Jahrzehnte lang jeden Tag erfolgreich da durchgekämpft. Wenn man aber ohne Pausen kämpft, weil man muss, wann ruht man dann aus?
Und was heißt eigentlich Erfolg? Ich bin in einer Generation groß geworden, die stark von Konsum geprägt war. In der Familie wurde angegeben mit den besten Autos, im Freundeskreis mit den neuesten technologischen Errungenschaften, später mit Reisen und Erlebnissen wie man es finanziert, mit dem Einkommen. Wie wir heute wissen, ist Einkommen aber absolut ungerecht verteilt in Deutschland. Krautreporter (Si apre in una nuova finestra) arbeitet gerade an einer guten Serie zu dem Thema Ungleichheit, falls jemand mehr wissen möchte.
Wo kann ich mich da nun einordnen? Als Frau mittleren Alters mit drei erlernten Berufen, Studienabschlüssen, mit einem Kind und einem Mann und einem renovierten, aber noch lange nicht fertigen Haus. Nun mit einer Posttraumatischen Belastungsstörung, die dafür sorgt, dass ich meine Berufe nicht oder nur wenig ausleben kann?
Sie hat es immerhin versucht. Würden einige sagen. Vielleicht wird noch was aus ihr, so alt ist sie nun auch wieder nicht. Würden andere sagen. Ich würde sagen: Ich habe heute eine Mütze getragen!
Ich habe eine Mütze getragen, weil nicht nur die Harten in den Garten kommen – die Weichen können es auch erreichen. Das hat mich schon früher genervt, in der Schule, wenn mein Klassenlehrer diesen Spruch vom Stapel gelassen hat. Immer dieses: „Da musst du durch.“ Oder „Jetzt reiß dich mal zusammen.“ Für wen? Für die Schule? Für gute Noten? Oder für meine psychische und körperliche Gesundheit? Ist es da gut, ständig über seine Grenzen zu gehen? Um Erfolg zu haben? Da musst du Opfer bringen!
Opfer bringen musste ich auch ohne eine Wahl zu haben. Aber heute hatte ich eine Wahl. Heute habe ich eine Mütze bei neun Grad getragen. Weil ich auf mich gehört habe. Ich habe gespürt: Ich fühle mich nicht wohl bei diesem Wetter draußen. Und bin nicht bei der Wahrnehmung geblieben. Ich habe gehandelt. Heute nehme ich eine Mütze mit. Ich sorge für mich.
Ich wünschte, das hätte mir jemand in der Schule beigebracht. Wie man gut für sich sorgt. Das musste ich als Erwachsene trotz meiner Beraterausbildung seit Jahrzehnten immer wieder neu lernen. Und da weiß ich heute mit Hirn und Herz und Bauch komplett zusammen: Das ist Erfolg! Du hast erfolgreich auf dich achtgegeben und die Mütze getragen. Gut gemacht!
Und ganz ehrlich? Ich habe Angst vor Erfolg. Also vor diesem großen mit Spotlight. Was für ein Leben wäre das? Ich habe schon in den letzten Jahren die Erfahrung eines Z-Promis gemacht. Wenn Leute meinten, mich zu kennen, weil sie meinen Blog in meinem Vereinsprojekt gelesen haben. Und dann enttäuscht waren, wenn ich im wahren Leben ganz anders war. Wie muss das erst A-Promis gehen, die eine Projektionsfläche für Millionen von Menschen sind?
Okay, Bestsellerautoren und bekannten Künstlern passiert das nicht auf diese Weise – aber würde ich so leben wollen? Von Termin zu Termin hetzten? Kann ich (gerade) gar nicht. Termine fordern mich heraus, weil ich nie weiß, wie es mir geht. Ich kann das, aber nur ausgesuchte. Und dann meine Familie: Ich weiß, wie kostbar die Zeit mit ihr ist. Wie schnell das vorbei ist, die Kindheit. Unser Teamwork. Die Gesundheit von uns als Eltern.
Noch können wir zu Dritt als Händler auf Mittelaltermärkte fahren. Und ich hoffe, dass das nur der Anfang ist und noch so lange so bleibt. Das kriege ich gerade noch hin, in einem gut eingespielten Team, mit meiner Familie eben. Das will ich nicht aufgeben für einen Ego-Erfolg—Termin-Tempo-Trip. Was nicht heißt, dass ich nicht an Texten, Buchideen und Werke, Werkgruppen und Ausstellungen arbeite. Aber in einer Geschwindigkeit, die zu mir passt. Auch wenn das Schneckentempo bedeutet. (Ich mag Schnecken. Vor allem die Häuser. Aber das ist ein anderes Thema.)
Wo würde das alles bleiben, wenn man erfolg-reich wäre im herkömmlichen Sinne?
„Du kannst alles haben, wenn: du dich nur genug anstrengst / weißt, wer du bist / viel Zeit und Geld investierst / Geduld hast / positiv denkst / genug betest / du diesen Satz durch jede beliebige Bullshitbingophrase ergänzt, denn alles nach dem ersten Komma ist eine Lüge.“
Ich weiß, ich kann nicht alles haben. Ich will auch gar nicht alles haben. Welche Ziele hätte ich dann noch? Ich weiß auch nicht, was die Zukunft bringt. Gott sei Dank. Aber jetzt, aktuell, mache ich meinen Frieden damit, erfolg-los zu sein. Und freue mich über jeden kleinen Erfolg in Richtung Leben mit oder mit weniger PTBS. Auf diese Weise setze ich mein Leben auf Erfolg und Los! Mit Mütze bei acht grauen Grad.
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