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Tier Liebe

Seit einigen Jahren schon sage ich: Wir müssen uns darauf vorbereiten, dass Pelle vielleicht bald nicht mehr da ist. Als ob man das planen oder einkalkulieren könnte. Als ob man sich wappnen könnte vor diesem Gefühl, das einhergeht, wenn es dann doch passiert. Denn das geht nicht. Trauer ist mindestens genauso unberechenbar und wild und frei wie Pelle, wie unser Hund, der nun gestorben ist.

Pelle war sechzehn Jahre alt. Für einen mittelgroßen bis kleinen Hund aus Rumänien eine lange Zeit. Er hatte Alterserscheinungen. Brauchte morgens länger beim Spaziergang, um sein gewohntes Tempo wieder aufzunehmen. Hörte die Hausklingel nicht mehr. Sah nicht mehr gut. Hatte aber noch seine verrückten fünf Minuten, ging überall hin mit, liebte es mit anderen Hunden zu spielen – wenn auch kürzer als sonst. Sprang an uns hoch, fraß wie gewohnt, schlief nur mehr als sonst. Flitzte wenige Tage vor seinem Tod noch wie ein Kometenschweif durch die hohe Wiese und hinterließ dort seine Furchen. Als ich die Wiese zwei Wochen später mähen musste, kam sie wieder, die Trauer. Ich wollte nicht mähen, ich wollte nicht alleine im Garten sein ohne ihn, ich wollte, dass er einfach wieder da ist!

Schnelles Loslassen

Einerseits ist es gut, dass er keinen langen Leidensweg hatte. Keine langwierige Krebserkrankung oder Einschränkung. Er war eben einfach nur ein alter, glücklicher Hund. Und dann konnte er von einen auf den anderen Moment nicht mehr stehen. Ist im wahrsten Sinne auf die Schnauze gefallen. Kein Gefühl und keine Kontrolle mehr in den Vorderbeinen, in den Hinterbeinen auch schon schwierig. Bandscheibenvorfälle bei alten Hunden. Kann man für 15.000,- Euro aufwärts in einer Tierklinik operieren lassen. Oder mit Kortison am Tropf beim Tierarzt und Schmerzmitteln behandeln. „Da gibt es eine minimale Chance“, so die Tierärztin.

Minimale Chance im Gegenzug zu tagelanger Odyssee mit Schmerzen, ohne Laufen, Pinkeln, Kacken. Wir haben Pelle das nicht mehr zugemutet. Wir haben ihn auf andere Weise gehen lassen. Wir waren alle drei dabei, sein Rudel hat ihn nicht im Stich gelassen. Sein Kopf lag auf meiner Hand, wie immer, wenn er sich geborgen fühlen wollte. Ich habe ihm in die Augen gesehen bis zum Schluss.  

Doch wie soll man das verstehen, wenn der Hund morgens noch neben einem lag beim Yoga machen und man nachmittags sein Grab aushebt?

Wenn man einen Tag später auf einen Markt zum Verkaufen von Skulpturen fährt und da ist plötzlich Platz im Fußraum des Transporters? Wenn das Tippelgeräusch auf dem Fußboden fehlt? Das Grunzen nachts, des Hecheln und Lächeln morgens beim Frühstück, das Schnauze sauber machen am Hosenbein nach dem Essen, das Füße warmhalten am Abend auf dem Sofa?

Pelle war dreizehn Jahre fast täglich immer an meiner Seite, immer mit mir in einem Raum. Das ist die längste Zeit, die ein Lebewesen mit mir verbracht hat. Ich habe zwanzig Jahre mit meinem ersten Mann Markus gelebt, bevor er gestorben ist. Nun bald acht Jahre mit Chris. Elf Jahre mit meiner Tochter (wenn man die Schwangerschaft nicht mitrechnet). Sechzehn Jahre habe ich bei meinen Eltern gelebt. Doch all diese Menschen waren nicht fast vierundzwanzig Stunden am Tag an meiner Seite. Das war nur Pelle. Und jetzt ist er weg.

Nur eine Gewohnheit?

Natürlich hat der Abschied auch mit dem Loslassen von Gewohnheiten zu tun. Der Anblick des Körbchens, das nun leer ist. Alleine im Garten sein, ohne Hund. Dennoch ist der Hund selbst nicht einfach nur eine Gewohnheit. Jeder Hund hat wie jeder Mensch sein eigenes Wesen. Und mit diesem Wesen treten wir in Beziehung. Oft ist das Haustier auch wie ein Spiegel für uns. Mir hat Pelle meine Gefühle gespiegelt. Oft wusste ich erst, dass ich traurig bin, weil er zu mir kam, um mich zu trösten. Diese Beziehung, sie endet, wenn das Tier stirbt.

Nun müsste man meinen, dass ich eigentlich Profi im Trauern bin. Mit den vielen Todesfällen in meinem bisherigen Leben. Mit einem Verein für Suizid-Hinterbliebene. Und zwei Hunden und zwei Katzen, die ich vor Pelle gestorben sind. Die Trauer ist aber jedes Mal anders. Weil jede Beziehung anders ist. Was sie gemeinsam haben, ist der Schmerz. Diese verdammte Wucht, die sich um einen legt und zudrückt, bis man kaum noch atmen kann.

Der Schmerz meint es nicht böse, er ist auch ein Spiegel. Für die Liebe, deren Gegenüber nun fehlt. Für die Liebe zum Tier.  

Meine bisherigen Tiere habe ich alle im Garten begraben, so auch Pelle. Von ihren Gräbern sieht man nicht mehr viel, sie sind in das Leben im Garten übergegangen. Bei Pelle ist das für mich zum ersten Mal anders. Neben sein Grab haben wir eine Pflanze gesetzt, die Freunde uns nach seinem Tod gebracht haben. Gestern habe ich eine Kerze besorgt, die ab heute in einer Lampe auf seinem Grab stehen soll. Das war bis jetzt nie meine Art der Trauer.

Warum das bei Pelle so ist? Ich weiß es noch nicht. Vielleicht lasse ich den Schmerz dieses Mal mehr zu. Es ist schwer und tut so wahnsinnig weh, aber dadurch geht es etwas schneller. Nach zwei Wochen Anakonda-Würgegefühl in meiner Seele wurde es langsam besser. Da konnte ich sagen; jetzt kann ich es aushalten. Das heißt aber nicht, dass ich vorher falsch getrauert hätte. Wir suchen uns das nicht aus. Die Trauer und unser Umgang damit hängen nicht nur von unserer Persönlichkeit ab, sondern auch von den Umständen. Wie schnell unser Leben gerade ist, welche anderen Probleme wir noch bewältigen müssen.

Ich hätte zum Beispiel gedacht, dass ich meine Trauer kreativ umsetzen würde. Ging aber nicht. Ich konnte zwei Wochen gar nichts Kreatives machen. Nicht mal fotografieren. Es war blankes Überleben und Funktionieren und Schmerz aushalten. Wie Wehen, nur seelisch. Jetzt beginnt es so langsam, dass ich es kann und auch möchte. Vielleicht füge ich später noch Bilder hier im Text ein, nachträglich.

Trauer, Tier und Kunst

Als Pelle noch lebte, habe ich nach einer Arbeit an einer neuen Ziegelskulptur die Tonpigmente meiner Hände für eine expressive Skizze genutzt. Ich wusste noch nicht, was ich später damit machen würde; es war instinktiv. So arbeite ich oft. Dass ich Sachen anfange und sie lange liegen lasse, bis sie reif genug sind, dass ich weiter daran arbeiten kann. Nun habe ich auf dieser Skizze Pelle gesehen. Der von einem Engel oder Himmelsboten oder dem Tod getragen und gehalten wird. Er ist noch etwas unsicher, was das soll, das sieht man Pelle an. Aber er ist auch sicher und geborgen bei diesem kraftvollen und doch luftigen Geschöpf, das ihn begleitet.

Damit bin ich nicht alleine. Viele Künstler haben ihre Emotionen – teils unbewusst – in ihren Werken verarbeitet. Trauer betrifft uns alle. Wir finden sie in vielen Werken wieder. Aber auch Tiere sind ein großes Thema in der Kunst. Die Kunsthalle Emden hat ihnen einst eine eigene Ausstellung gewidmet. Zu Recht. Viele Künstler hatten tierische Begleiter. Man denke beispielswiese an Frida Kahlo, die von ihren Tieren vor allem ihren Affen portraitierte. Er war ihr tierischer Begleiter, ihr Spiegel.

Auf meinen Ideenskizzen steht immer noch: Pelle modellieren. Seit Jahren hatte ich vor, ihn als Tonskizze festzuhalten. Ich habe es nie getan. Einmal aus praktischen Gründen: Ein Hund bleibt nicht stundenlang als Modell stehen. Auch wenn er im Alter nun stundenlang irgendwo liegen konnte. Ich wollte ihn am liebsten in Bewegung festhalten. Ein wenig habe ich ein schlechtes Gewissen, weil ich es nun doch nicht gemacht habe – ihm eine Skulptur als Denkmal zu schaffen. Weil mein Modell nun unwiderruflich weg ist.

Glaube

Ich habe es aber auch deshalb nicht getan, weil ich insgeheim dachte: So lange ich ihn noch nicht modelliert habe, darf er nicht sterben, weil er mir ja noch Modell stehen muss. Das hat natürlich nicht geklappt. Genauso wenig wie das innere Vorbereiten auf den Abschied. Aber wir Menschen brauchen so etwas. Solche kleinen Kinderwahrheiten, die uns so lange tragen, bis die Realität doch unausweichlich da ist: Pelle ist tot.

Und damit zu leben, bleibt unsere Aufgabe als Hinterbliebene. Denn wir bleiben hier, hinten, zurück, ohne diese Beziehung. Diese Leere auszuhalten, sie zu integrieren und neu zu definieren, das ist es, was jetzt vor mir liegt. Mit Skulpturen, Bildern, Texten wie diesen. Trauerritualen wie der Spaziergang ohne Pelle, den wir weiterhin tun, oder die Kerze auf dem Grab. Vielleicht zieht irgendwann auch wieder ein anderer Hund hier ein. Ganz sicher sogar. Aber das ist dann ein anderes Wesen, eine andere Beziehung.

Pelle ist tot. Und Pelle bleibt. Er war und wird immer ein Teil meines Lebens sein. Wie alle Wesen, die ich geliebt habe. Wo er jetzt ist, kann niemand mit Gewissheit sagen. Ich habe keine Angst vor dem Tod, ich persönlich möchte einfach noch gerne etwas leben, bevor es zu Ende ist. Zumindest hier. Ich glaube, dass Energie nicht verloren geht, und so etwas Komplexes wie unsere Seele nicht einfach nur ein Konstrukt aus Genetik, Hirnstoffwechseln und erlerntem Verhalten ist. Genauso wie Pelle ist jeder von uns einzigartig und wertvoll.

Auch jedes Arschloch da draußen, das ich nicht mag, wird von jemand anderes geliebt. Gott sei Dank.  

Mein Glaube ist nicht mehr so festgezurrt wie in meinen jungen Jahren, als alles noch mit einem Zauber und einer Begeisterung überzuckert war. Älter zu sein macht nicht gleichgültig, aber gelassener – und lässt in den meisten Fällen hoffentlich auch mehr Lernen und neue Erkenntnisse zu. Ich weiß, dass ich nichts weiß, bleibt einer der Sätze, die mich begleiten. Ich habe die Weisheit nicht gepachtet und die Welt enthält so viele Mysterien, für die mein Leben nicht ausreicht, um sie zu erfassen. Deshalb wäre ich ein Narr, würde ich sagen, ich weiß, was mich nach dem Tod erwartet.

Ich weiß nur, dass mir dieses „Er lebt in meinem Herzen weiter“ nicht reicht. Ich wünsche mir, dass es Gott, wie ich ihn kennengelernt habe, tatsächlich gibt. Dass es stimmt, dass er oder sie die Liebe in Person ist. Dass Gott seine Geschöpfe nicht einfach nur erfindet und wieder aussterben lässt, sondern dass sie danach einen Platz haben in seiner oder ihrer liebevollen Präsenz. Und dass ich eine Chance habe, meine geliebten Wesen dort irgendwann wiederzusehen. Ob es stimmt, kann keiner beweisen oder widerlegen. Es ist auch nicht wichtig, denn das ist Glaube. Daran, dass Liebe überlebt.

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Argomento Nic: Aus meinem Leben

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