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Tide – Wie ein Werk und Wertigkeit entsteht

Heute war der Dachdecker bei uns, einen Sturmschaden beheben. Sie waren zu zweit eine Stunde beschäftigt. Kosten abgerundet etwa 450,- Euro. Zurecht. Weil sie gut ausgebildet sind, ein Meister und sein Schüler; der Meister hat eine lange Lehrzeit hinter sich, viel Erfahrungswerte und macht seine Arbeit mehr als gut. Er hat sich das im wahrsten Sinne verdient.

Auf den Fotos sehr ihr „Tide,“ ein Objekt aus Beton, Altmetall, Altholz. Sie kostet 1600,- Euro. Ob sie das wert ist? In der Solo-Ausstellung letztes Jahr habe ich dazu verschiedene Rückmeldungen erhalten und keiner war sich einig. Kollegen und Galeristen meinten, ich sei zu günstig. Andere bezogen das Publikum mit ein – gemischt aus Kunstkennern und Touristen. Da müsse man den Preis anpassen, also günstiger sein, weil man sonst nichts verkaufen würde. Der allgemeine Mensch versteht diese Preise nicht. Und das stimmt.

Woher auch? Wer erklärt einem, wie die Preise für ein Werk entstehen? Kunst gehört ins Nischenwissen und ist für die Allgemeinheit nicht klar greifbar. Entweder sind es die Eliten, die in ihrem Kunstkauderwelsch für den Normalbürger nicht mehr zu verstehen sind, oder die Hobbykünstler, die den Markt überschwemmen, ohne große Handwerkskenntnis. Oder Dekoration, die man auch im Baumarkt kaufen kann. Um das mal ganz pauschalisiert zu formulieren. Die Frage: „Was ist Kunst?“, beantwortet jeder anders. Und deshalb auch, was Kunst wert ist.

In der Kunstszene selbst gibt es zwei Möglichkeiten zur Werteermittlung: Die handwerkliche Sichtweise und den Künstlerfaktor. Der Künstlerfaktor berechnet den Preis aus der Größe des Kunstwerks und der Erfahrung des Künstlers. Werke, die während eines Studiums entstehen, sind günstiger als nach einigen Jahren Berufserfahrung. Ähnlich wie beim Meister und Gesellen.

Kunstwerke können aber auch wie im Handwerk nach Stunden und Material berechnet werden. Da Künstler sich selbst versichern müssen oder bei einer Anstellung noch die Arbeitgeberkosten anfallen und natürlich noch Investitionen für Materialien und beim Bildhauer Werkzeug, empfiehlt der Bund Bildender Künstler für ausgebildete Künstler mindestens einen Stundenlohn von 70,- Euro. Je nach genutztem Material wird der Preis für ein Kunstwerk noch teurer: Bronze kostet mehr als Beton.

So gesehen ist die „Tide“ noch relativ preiswert. Auch wenn das Material nicht teuer ist. Zumindest dem Anschein nach nicht. Das Altholz habe ich von einer anderen Baumliebhaberin geschenkt bekommen. Das Altmetall mit dem Beton stammt aus dem Boden unseres Hauses. Restmüll, könnte man meinen. Ein emotionaler Wert für mich.

Nun zum Kopf. Der hat seine eigene Geschichte. Und seine eigenen Arbeitsstunden. Er ist aus einem Modell entstanden, das ich noch zu Studienzeiten angefertigt habe; könnte also allein gesehen einen niedrigeren Künstlerfaktor haben. Den Kopf habe ich noch während des Studiums weiter bearbeitet. Eine Silikonform gebaut, was eine teurere Investition ist, eine Kontraform gebaut. Den Kopf schließlich gegossen – aber nur zur Hälfte. Man könnte es auch einen Betriebsunfall nennen.

Aber so entstehen oft Werke bei mir: Aus vermeintlichen Fehlern. Aus dem, was nicht klappt. Weil das bei fast allen Werken dahinter steckt: Das vermeintliche Scheitern, das Kaputtgehen, die Zerstörung. Ich bewahre sie auf, diese halbfertigen Werkstücke, und lasse sie liegen, bis sie ein neues Leben bekommen. Bis dahin können Jahre ins Land ziehen. Und genau diese Jahre haben ihren Wert.

Gestern habe ich die Notizen der letzten fünf Jahre sortiert. Und dabei festgestellt, wie aus Fragmenten Ideen wurden, und aus Ideen Konzepte, und aus Konzepten Werke oder sogar Werkgruppen. Mein Gehirn arbeitet die ganze Zeit. Es filtert Handwerk und Kunstwissen und Erfahrungen zu etwas Neuem. In „Tide“ sind also nicht nur Reste eingeflossen, die aus ihrer Dreieinigkeit etwas Neues entstehen lassen, sondern der Erfahrungsschatz mehrerer Jahre.   

Und natürlich weitere Handwerksarbeit. Der Kopf musste geschliffen und patiniert werden. Das Holz mehrmals geölt. Das Metall gebürstet, das Altbeton ebenfalls patiniert. Nichts, was man auf den ersten Blick sieht, aber was die Materialien lange haltbar machen, sodass sie auch eine Zeitlang draußen bleiben können. Arbeitsstunden? Einige.  

Und dann die Kunst an sich. Kunst ist nicht allein das Beherrschen des Handwerks. Es ist ein Dialog zwischen Schöpfer und Betrachter. Manche Künstler erklären ihre Werke, andere lassen die Interpretation völlig offen und halten sich nach dem Entstehen raus. Ich gehöre eher zur zweiten Sorte, aber wenn jemand fragt, erzähle ich gerne, was ich mir dabei gedacht und was ich dabei gefühlt habe. Denn Gefühle spielen in meinen Werken immer eine Rolle.

Unterkante Oberlippe. Sagen wir manchmal, wenn wir lange durchhalten müssen und das Gefühl haben, dass uns das Wasser bis zum Hals steigt und wir gerade noch so atmen können. Das kenne ich gut und das drückt „Tide“ aus. Der Kopf ist dabei aber noch bis unter der Unterlippe aus der Holzwelle. Das kann man nun positiv oder negativ betrachten, für mich ist es weder noch. Für mich ist es eine Beschreibung des Lebens.

Die Tide lenkt das Meer in Ebbe und Flut. Und genauso gibt es in unserem Leben Zeiten, in denen wir kaum noch atmen können, vielleicht sogar eine Zeit lang tauchen müssen. Aber auch wenn es sich so anfühlt, hält das nicht ewig an. Irgendwann bekommen wir wieder „Oberwasser“, manch einer auch zu viel davon. Ich bewege mich meistens mit Nase und Lippen über der Oberfläche, denn ich schätze es auch, abtauchen zu können, wenn mir danach ist.

Meine Fühler strecke ich wie ein Taucher seine Schnorchel trotz ihrer filigranen Erscheinung stabil in die Höhe. Sie sind mal niedrig, mal hoch, aber meine Antennen haben im wahrsten Sinne „Gewicht.“ Meine Intuition zeigt mir den Weg über den Bug der Welle hinaus. Und: Ich schwimme mit dieser Welle, mit ihren Linien, ihrer Kraft von hinten, ihrem Gehirn tief unten verwurzelt im Meer.

Auch solche Gedanken haben ihren Wert. Zusammengefasst rund 1600,- Euro. Für ein Werkstück, das es so nur einmal im Leben gibt. Ein Schnäppchen, wie ein Galerist sagte. Aber darüber darf man natürlich nicht reden. Über Geld. In der Kunstwelt gibt es vieles, was man angeblich nicht darf oder was man unbedingt tun sollte. Es ist fast vergleichbar mit der Kirche.

Sowohl in Kirche und Glaube als auch in anderen Subkulturen tue ich mich schwer mit Dos and Donts. Ich bin eher für Transparenz und Offenheit. Mag sein, dass dadurch mein Künstlerfaktor sinkt und ich eher ins Handwerk rutsche, aber ich nenne mich ja nicht umsonst „arts & crafts“ (Dazu ein anderes Mal mehr.) Ich sehe das auch nicht als Rechtfertigung oder Verteidigung meiner Preisgestaltung. Ich sehe das als Bildung und Aufklärung. (Und mag sein, dass das jetzt eine Verteidigung war. ;)

Die Dachdecker jedenfalls haben ihre Arbeit heute gut gemacht und werden auch dementsprechend bezahlt. Der Dachdecker tritt in Vorleistung mit seiner Arbeitszeit und gegebenenfalls mit Material. Das tun wir Künstler auch. Nur dass unsere Zeitspannen oft länger sind und unsere Preise – in Anbetracht aller Leistungen – oft zu günstig.

Wenn man bedenkt, dass wir unsere Werke für Ausstellungen noch langwierig verpacken müssen, damit sie sicher ihren Platz erreichen, dort sicher aufgestellt, manchmal auch selbst kuratiert werden müssen (ein Kurator ist ein eigener Beruf – auch dazu ein anderes Mal mehr), und danach wieder abgebaut, sicher verstaut und nach Hause gebracht werden müssen. Und das ohne eine Garantie auf Verkauf.

So betrachtet würde ich sagen, wir Künstler sind in gewisser Weise Billigware auf dem Kunstmarkt. Unterkante Oberlippe eben. Tideabhängig. Das soll aber gar kein Mitleid auslösen, den Künstler mit dem tropfenden Dach muss es nicht geben. Künstler sind kreative Seelen und finden immer Wege, sich zu finanzieren. Wir unterrichten, nehmen Aufträge an, machen Design und Massenware, um das Exklusive zu retten, suchen uns notfalls einen anderen Broterwerb. Wir können nicht anders. Wir lieben das Schaffen, Schöpfen, Gestalten. Manch einer auch, weil er sich damit wie ein kleiner Gott fühlen kann.

Man muss das nicht mögen, was Künstler machen. Manch einer sagt auch, dass „richtige“ Kunst provozieren und polarisieren muss. Dass Schönheit langweilig ist. Ich weiß nicht. Ich finde Dogmen langweilig. Ich mache einfach. Das war und ist schon beim Schreiben so gewesen.  

Deshalb schreibe ich jetzt auch darüber, was ich mache. Über Kunst. Weil beides Freude macht. Und weil Beides vielleicht noch etwas Aufklärung bedarf. Denn bis der ausgebildete Künstler genauso wertgeschätzt wird wie der Dachdecker, wird es noch dauern. Wenn es überhaupt passiert. Weil ein Dach notwendig ist, wenn wir trockenen Hauptes bleiben wollen. Kunst hingegen schützt nur unsere kreative Seele. Wieviel ist uns das wert?      

Argomento Crafts: Atelieralltag

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