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»Schachtnovelle«

Sasza, hör mir zu, auch wenn es komisch klingt: Es war irgend so ein Abend. Bedeutungslos. Mitten auf der Kreuzung hat sich etwas aufgetan. Vom Erker sah es aus wie eine Pfütze. Als würde Regenwasser sich in einer Mulde sammeln. Vom Bordstein zur Mitte hin, wo die Pflastersteine niedrig stehen. Wo Kutschen, Wagen, Autos sie tief hineingetrieben haben, in den Grund. Ich dachte nichts dabei und ging ins Bett. Wurde geweckt von Menschen, die in Andacht säuseln. Ich wollte wieder wegdämmern, aber Blaulicht hielt mich wach und zog mich hin zum Fenster. Ich habe nicht verstanden, was ich sah. Als wäre über Nacht ein kleiner Tümpel aus der Stadt gewachsen. Als hätte wer, ein Gott oder Konzern, mit großer Präzision, eine runde, schwarze Platte bündig auf den Boden gelegt. Sie schimmerte nicht, hatte keine Transparenz, keine Spiegelung und keine Tiefe. In meinem Kopf war darunter noch das Pflaster, der Boden, die Mark und Welt. Und hätte nicht ein BMW über der Kante gehangen, schräg und steil, dass ich hinschauen und nicht hinschauen wollte, ich hätte nicht an eine dritte Dimension gedacht. Nicht an Grube, Loch und Schlucht.

Sasza, hör mir zu, auch wenn es komisch klingt: Sie haben aus dem BMW noch eine Frau geangelt. Dann hat der Kranwagen vom Hilfswerk schlecht rangiert, den Wagen touchiert und der BMW ist still hineingefallen. Keine Ringe, keine Wellen, kein Geräusch. Das Flatterband der Polizei war nicht genug. Vor allem für den Andrang. Sie mussten von der Baustelle am Bahnhof Zäune holen. Nach dem Mittag hatte sich das halbe Haus versammelt. Geier aus dem Seitenflügel hat geprahlt. Er habe sie am Morgen schon bemerkt. Warum sie? Weil er Pupille dazu sagt. Er wäre bei Sonnenaufgang zur Montage. Hätte sich gewundert, gehalten und aus der Tür heraus mit einer Holzleiste hineingepiekst. Die Leiste wäre nicht kalt, nicht heiß, nicht nass gewesen. Also, sagt er, schwört sogar, hätte er selbst mit der Hand hineingelangt. »Und?«, fragte wer. »Wie Milch«, hat er gesagt. Erzählte dann, wie er als Kind in einen Bottich voller Milch gegriffen habe. Warme Milch. So warm wie er. Nur dann, hat er gesagt, dann spürt man sie und spürt sie nicht. Auf dem Gehweg ist ein Strom von Menschen, die sich um die Kreuzung schieben. Vom Erker sieht es aus wie Religion. Kreuzgang oder Kaaba. Manchmal wirft jemand aus der Menge was hinein und alle raunen, weil es still und spurlos in die Pupille plumpst, wie in waagerechten Nebel.

Sasza, hör mir zu, auch wenn es komisch klingt: Es gibt so viel zu erzählen, dass ich nicht weiß, wo anfangen. Ob überhaupt. Manchmal ist es so viel, dass die Mühe sich nicht lohnt. Das Fernsehen war da. Geier im RBB und SternTV und immer nur die Sache mit der Milch. Der Bauzaun wurde betoniert. Zu zwei Seiten ein Tor. Jemand hat erzählt, es wäre einer rüber und hinein. Ich hätte es gern gesehen. Im Fernsehen war es nicht. Es gibt keinen Beweis. Nur ein Indiz: Ein zweiter Zaun. Der Radius ist größer. Und trotzdem schafft es manchmal einer was hineinzuschmeißen. Dann brüllen sie ihn an, aber machen nichts. Die Straßen sind für Autos dicht. Kreuzgang nicht mehr möglich. Man muss von einer Seite kommen. Wer klug ist, kommt von Norden. Von Norden kommt man gut heran. Dann kann man Uniformen sehen, Schutzanzüge und wie sie letzte Woche wen hineingelassen haben. Hinunter. In einer Gondel. Er war abends in den Tagesthemen und am Tag darauf bei Lanz. Er und ein Minister. Geier meint, es wäre nicht derselbe. Der Taucher hat bei Lanz gesagt, es wäre weder warm, noch kalt, noch nass gewesen. Nur still und dunkel. Noch haben sie die Suche nach dem Grund nicht aufgegeben. Sie lassen jeden Tag ein neues Tiefseekabel kommen. Ich habe gestern einen Topf mit Milch gemacht. Wenn man sie warm macht, wie man innen drin ist, dann merkt man an der Haut, wenn man hineinlangt. Wenn man sie aber warm macht, wie die Finger selbst sind, dann hat der Geier recht: Man merkt es nicht.

Sasza, hör mir zu, auch wenn es komisch klingt: Es wird einem egal. Der Kran mit Gondel wurde abgebaut, seitdem einer bei Nacht hinaufgeklettert und hineingesprungen ist. Statt Soldaten oder Polizei flankieren jetzt zwei Männer die Pupille. Sie drehen zwischen Zaun und Zaun lustlos ihre Runden. Und wären nicht die gelben Fantasiewesten, man wüsste nicht genau, was sie hier tun. So weiß man es: Sie sichern. Wenn sie rauchen, schnippen sie die Filter mitten rein. Tagsüber ist der zweite Zaun geöffnet. Man kann hinein, und wenn man kleine Hände hat, dann kommt man durch den Bauzaun und kann in die Pupille fassen. Manchmal stehe ich im Erker und schaue es mir an. Menschen bringen ihre Kinder. Aber Kinder schert es nicht. Was kein Geräusch macht, keine Wellen, was nicht spritzt oder zerbricht, das hat Kindern keinen Wert. Nur Erwachsene sitzen in Russenhocke oder Schneidersitz vorm Zaun und zwängen sich die Mittelhände wund. Entweder stecken sie den Finger wie in Sahne, oder sie machen eine hohle Hand, um etwas zu schöpfen. Aber sich schöpfen lässt es nicht. Mit der letzten Bahn sind die meisten Pilger fort. Am Wochenende länger. Manchmal kommt ein Kastenwagen, spät am Abend. Dann reicht einer dem Wachen von der Sicherheit Scheine oder Bier und schleudert zehn Minuten lang Kanister voller Lauge oder Altöl hinein. Zwischen diesem Satz und meinem letzten ist wieder wer mit Anlauf auf den Zaun, mit Schwung darüber und ohne ein Geräusch und eine Spur davon.

Sasza, hör mir zu: Sie haben Streben aus dem Zaun gebogen, sodass je ein Bein hindurchgeht. Man kann bis zu den Knien in der Pupille baumeln, wie in einer Kneippkur. Sie ziehen davor ihre Schuhe aus. Wer weiß warum. Junge Leute sitzen tags am Rand und lassen ihre Bierflaschen hineinfallen. Gestern hat eine Frau ihr Baby durch den Zaun geschoben und hineingetaucht wie Klein-Achilles. Ich frage mich, ob sie weiß, dass manchmal, nachts, Männer kommen, sich an den Zaun pressen und der Welt ins Auge wichsen. Meistens sind es Koreaner. Die Stichprobe ist klein. Noch kann es Zufall sein. Dem Geier haben sie die Wohnung aufgebrochen. Die Hausverwaltung. Aber Geier fort und mit ihm alles, was er hatte. Ich könnte ihnen sagen, dass ich ihn gesehen habe. Wie er nachts sein ganzes Leben weggebuckelt hat. Bis rüber zur Pupille. Jede Nacht drei oder vier Gänge. Wenn alle außer ihm und mir geschlafen haben. Koffer in Gänze. Möbel in Teilen. Zum Schluss Fussmatte und Matratze. Und in der letzten Nacht auf einer Trittleiter hinauf, hinüber und hinfort. So schnell wie diese drei Wörter geschrieben und gelesen sind: Hinauf, hinüber und hinfort. Dass der Tritt zurückgeblieben ist, das kam mir falsch vor. Also bin ich runter, um ihn hinterherzuwerfen. Aber Sasza, auch wenn es komisch klingt: Ich habe ihn behalten. 

Herzlich willkommen zur achten Ausgabe von »Feine Auslese«.

#1 / Ich glaube ja noch immer …

… nicht, ich will es gar nicht glauben, dass ich im Frühjahr vielleicht zum letzten Mal beruflich in diese Stadt in Sachsen fahren werde. Nicht für immer, natürlich nicht. So dramatisch müssen wir nicht sein. Aber der Jugendklub, in dem ich alle Jubeljahre lese, wird von drei Säulen getragen. Der Stadt, dem Landkreis und dem Freistaat selbst. Was wird aus diesen Säulen, wenn diese ekelhafde Partei erst Land, Kreis und Kommune regiert? Wer muss zuerst dran glauben, wenn es um Fördergelder geht? Der Jugendklub? Der linke? Auch wenn er gar nicht links ist. Nur eben explizit nicht rechts. Ein Schutzraum für die Wenigen und Letzten. Wo Bier und Limo so billig sind, Lesungen und Livemusik und jede Party so erschwinglich, dass jede*r kommen kann. Und wer es sich nicht leisten kann, kommt trotzdem rein. Wie hieß der Jugendklub bei euch am Ort? KuZe? KuLa? JuKe? Es geht nicht einzig darum, das große Ganze zu verteidigen.

#2 / Toujours la tristesse

Sport am Morgen. Gegen Rücken und schlechte Laune. Der Tag ist jung. Es ist stiller als gewöhnlich. Von den Duschen dringt das folgende Gespräch zu mir herüber:

«Diggi, was das?»
«Handtücher.»
«Ja, aber warum zwei?»
«Eins für Eier, eins für Gesicht.»
«Junge, du musst deine Eier besser waschen.»

Laune wieder gut.

#3 / Feine Ablese

Angelesen: Weltalltage (Si apre in una nuova finestra) von Paula Fürstenberg

Auch im letzten Drittel noch immer so begeistert wie am Anfang. Es geht um zwei Freunde, deren Rolle, deren Verantwortungsverhältnis zueinander sich plötzlich umkehrt. Und es geht um Krankheit. Woher sie kommt, an uns, zu uns, in uns: nicht medizinisch, sondern kulturell, gesellschaftlich, genealogisch. Es ist ein Buch über Schwindel, das bis ins Letzte durchzogen ist von Stabilität. Ein über lange Strecken neues Leseerlebnis. Viel Innenschau, viel Rückschau. Aber: Womöglich nichts für Leser*innen, die viel Handlung gewohnt sind.

Ausgelesen: Noch wach? (Si apre in una nuova finestra) von Benjamin von Stuckrad-Barre

Ich wollte nicht und hab’ dann doch. Es wird dem strukturellen Machtmissbrauch schon sehr überzeugend auf die Finger geschaut. Auch das Zerbrechen einer Männerfreundschaft hat mich in meinem Voyeurismus mitgerissen. Gegenwartssprache, Betriebssprache, Tätersprache – das alles kann BSB so gut wie kaum ein anderer. Was er aber auch kann: Autor und Erzähler trennen. Besonders da, wo es anfangen könnte, ihm als Autor weh zu tun. Bleiben wir im Konjunktiv: Ich hätte den Erfolg dieses Buches einer Autorin gewünscht.

Abgelesen: The Woman Who Went to Bed for a Year von Sue Townsend

Meine Fresse: Wie man sich als Autor ärgert, wenn jemand aus dem Dunstkreis der Kolleg*innen eine wirklich tolle Buchidee verkackt. Mein Hass auf Staffel 8 von Game of Thrones ist nichts dagegen. Never meet your hero's other works, echt ey. Aber: Die Adrian-Mole-Reihe von ihr, die würde ich immer wieder lesen. Wirklich! Immer wieder! Wenn ihr Teenager zu Hause habt, die gerade Englisch lernen: Super Lektüre. Sieben Bände. Aufsteigendes Alter. Genau so gut auch für Erwachsene.

#4/ Wenn der Berg nicht zum Paul kommt

Mein Lektor hat mir gedroht: wenn ich zu viel toure, haut er mich. Aber vier Herzenstermine stehen trotzdem im Kalender:

06.03. / BERLIN (Si apre in una nuova finestra) / Lesebühne
07.03. / KÜNZELSAU (Si apre in una nuova finestra) / Humorlesung
08.03. / LÖRRACH (Si apre in una nuova finestra) / Humorlesung
26.04. / OSNABRÜCK / Romanlesung

Alle Termine, alle Infos gibt es nach der Winterpause unter: paulbokowski.de (Si apre in una nuova finestra)

#5 / Das letzte von der Rolle

Habe lange nachgedacht, woher dieses Ei wohl stammt,
Das ich hier im Zug aus Hamburg in der Jackentasche fand. 
Nicht im Philosophensinne, nicht nach Darwin oder Kant, 
Sondern wo Besoffen-Paule es die Nacht zuvor entwand. 
Gab dem Rätsel Zeit bis Uelzen, als der Knast mich übermannt. 
Werde nie ein Ei verschmähen, weil sein Ursprung unbekannt.

#6 / Feiaahmnt.

Wer hätte gedacht, dass Newsletterschreiben so viel Laune macht. Alle bisherigen Newsletter findet ihr hier (Si apre in una nuova finestra). Wenn ihr die Arbeit an diesem Newsletter supporten wollt, sehr gerne! Und jetzt: Prosit. 

#7 / Nachklang

🔊 🔊 🔊 Lambchop mit «Up with People» 🔊 🔊 🔊

https://open.spotify.com/track/4F4PtHOaintIGU09jJ9uP4?si=w7fafOYJRYyFCQ8KiMdU6Q (Si apre in una nuova finestra)

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