»Die Neider des jungen Werther«
Richtig einleuchten tut mir nicht, warum Neid so eine schlechte Reputation hat. Ich bin quasi immer neidisch. Neid ist neben Langeweile, Misanthropie und einem guten Bündel Kindheitstraumata eine der beständigsten Säulen meines künstlerischen Schaffens. Ach, und arrogant bin ich auch noch. Künstler! Von wegen! Wir wissen alle, dass hier gleich 14 Uhr rum ist und ich immer noch in Boxershorts vor meinem Rechner sitze und außer Kartoffelbrei vom Vortag und einer halben Tüte Cini Minis bisher nichts Anständiges gegessen habe.
So zu tun, als wäre man nicht neidisch, ist eine Eigenart, die ich vor gut 20 Jahren zusammen mit meinem Mitgliedsausweis für die katholische Kirche abgegeben habe. Dieses Hochstilisieren pseudochristlicher Tugenden ist mir nichts. Von den Griechen abgucken und dann so tun, als hätte man’s erfunden. Nichts gegen gemäßigt Gläubige. Aber unter uns: Ich töte nicht, ich klaue nicht, ich huldige keinem Götzenbild. Das muss dem Papst schon reichen. Und Nummer Neun und Zehn sind doch wirklich Quatsch. Wenn mein Nachbar eine geile Hütte hat und nices Hab und Gut, warum soll ich nicht auch eine geile Hütte haben wollen? Man darf nur nicht Neid und Missgunst verwechseln. Ersteres sagt »Nachbars Hütte ist so nice, so eine baue ich jetzt auch, dann geht’s mir besser«. Letzeres ist argumentativ etwas anders gelagert. Letzeres sagt: »Nachbars Hütte ist so nice, die zünde ich jetzt an, dann geht’s mir besser«.
Vielleicht ist das so ein Migrant*innending. Wenn man Eltern hat, die aus dem Libanon gekommen sind, Vietnam, Polen oder Eritrea, links ein Koffer, rechts ein Kind, dann ist doch Neid der eigentliche Antrieb. Heißt nur anders: Hoffnung auf ein marginal besseres Leben. Uns wurde dieser Neid eingetrichtert, auf dass das Zündfeuer von Integration und Aufstieg weiterbrennen möge. Treibstoff Neid. Im guten wie im toxischen Sinne. »Du, der Papa macht jetzt sieben Wochen Nachtschicht, weil der Hoffmann von gegenüber im Sommer nach Benidorm fliegt. Und der Papa und ich, wir wollen auch nach Benidorm.« Spricht doch nichts dagegen. Toxisch daran war allerdings, dass der Neid eben nicht zuerst die Müllers und Schneiders und Hoffmanns getroffen hat, sondern die Akkayas, Nguyens, Szabós und Wieczoreks. Dass die Migrant*innen sich immer erst untereinander das Leben schwer machen müssen. Das will mir genauso wenig in den Kopf.
War mir lange nicht so klar, wie die dünne Grenze zwischen Neid und Missgunst ausgerechnet bei meinesgleichen so verwischt. Dass es ein Khani schwerer bei mir hat als eine Dröscher. Das kommt natürlich, weil mir der Khani näher ist. Dass beide nur mit Wasser kochen, weiß ich natürlich. Aber beim Khani glaube ich auch zu wissen, wie groß der Topf ist, wie klein die Küche und wie alt die mobile Kochplatte. Um so wichtiger das Kind beim Namen zu nennen: Missgunst scheiße. Neid normal.
Herzlich willkommen zur zweiten Ausgabe von »Feine Auslese«.
#1 / Ich glaube ja noch immer …
… dass es gesamtgesellschaftlich gesehen ein großer Fehler war, den Nachttopf abzuschaffen. Das einzige Zimmer, das seit dem russischen Überfall keinen Deut Wärme erlebt hat, wirklich keinen einzigen, ist das Badezimmer. Ich bin wie Reinhold Messner. Bei jeder Tour ins Kalte komme ich mit einem Zeh weniger zurück. Nur weil ich nachts mal auf Toilette muss. Ist da ein formschönes Dekoobjekt mit 700 ml Fassungsvermögen wirklich zu viel verlangt? Ich kenne eure Schlafzimmer! Da fällt ein weiteres Stück Keramikgedöns im Farbton Eierschale oder Pebble gar nicht auf! Könnt ihr zur Not auch selbst gießen! Hauptsache spülmaschinenfest. Klar, ich könnte auch den ganzen Weg ins Badezimmer mit Teppichboden auslegen. Aber wo kämen wir da hin? Richtig! Nach England! Die Engländer sind unangefochtene Meister darin, den plätscherfreudigsten Raum eines jeden Hauses mit saugstarker Auslegeware zu veredeln. Googelt mal »england carpet toilet«. Deshalb bleibe ich dabei: Bring back the Nachttopf! Los IKEA, pack uns einen Strüllå in den nächsten Katalog!
#2 / Toujours la tristesse
Manchmal stelle ich mir vor, dass früh am Morgen, während ich im Bett liege, eingepackt wie eine fette Raupe, die Geister meiner Vorfahren in meiner Zimmerecke stehen. Schweigend starren sie mich an. Schauen geduldig dabei zu, wie ich mir, allein das Gesicht erhellt von meinem Smartphone, Stunden über Stunden Videos von Instagram und TikTok reinziehe. Und dann reden sie über mich:
„Welcher ist das?“
„Der Letzte.“
„Der Letzte?“
„Der Allerletzte!“
„Wieso?“
„Ein Invertierter.“
„Bitte was?“
„Sodomit. Uranier. Warmer Bruder!“
„Ach schade.“
„Wie alt?“
„Vierzig.“
„Vierzig?!“
„Ja, vierzig.“
„Großer Gott!“
„Da war ich schon verreckt. Mit 36.“
„Pest?“
„Franzosenkrankheit.“
„Kann ich unterbieten.“
„Wie alt?“
„Keine 14.“
„Schwindsucht?“
„Nein.“
„Pocken?“
„Nein.“
„Kindbettfieber?“
„Bingo!“
„Hat der keine Arbeit?“
„Das ist seine Arbeit!“
„So ein Arschloch.“
#3 / Eine unangenehme Wahrheit
Stell' mir die unangenehmste Frage, die dir in den Sinn kommt. Aber nur, wenn du dich traust, sie auch selber in diesem Newsletter zu beantworten. Jeden Monat eine Frage. Jeden Monat zwei Antworten. Deine und meine! Schick deine Frage und deine Antwort einfach an feineauslese@paulbokowski.de (Si apre in una nuova finestra)
Niklas fragt: »So Paule, Gretchenfrage: Wie hast du's mit der Religion?«
Paul / »Social Distancing seit 1998. Im Grunde ist es wie bei Harry Potter: Buch nie gelesen, ein paar der Filme anerkennend abgenickt, vor allem der Effekte wegen. Am Ende aber festgestellt: Ist alles nicht so meins. Ach, und wenn Leute auf einer Party davon anfangen, ist es keine gute Party und höchste Zeit zu gehen.«
Niklas / »Meine Eltern sind absolute Hardcore-Protestanten. In Papas Arbeitszimmer hängen drei Porträts: Oma, Opa, Luther. 2007 habe ich mein Vikariat angefangen. Im Predigerseminar war das komplette Spektrum deutscher Unarten: Antisemiten, Islamhysteriker, misogyne Zölibatsneider. Zur Finanzkrise hatten wir fünfmal mehr Gläubige im Gottesdienst als vorher. Einmal stand ein Mann im Pfarramt mit drei Ordnern voller Bankunterlagen und einem selbstgemalten Stammbaum der Familie Rothschild. Seitdem mache ich Sport & Politik auf Lehramt.«
Danke Niklas!
#4 / Feine Ablese
Angelesen: Hund Wolf Schakal (Si apre in una nuova finestra) von Behzad Karim Khani
Da steckt viel Poesie drin. Poesie und Pathos. Kann man mögen, muss man aber nicht. Nicht unbedingt. Weil die Sprache auch sonst ein Tempo hinlegt, das einen selten starken Sog erzeugt. In einem Rutsch von Seite Null auf 153. Zwei Sachen stören aber: Das sehr häufige Z-Wort und das bittere Geschmäckle, ein Prekariatsgaffer zu sein. So gut ist es geschrieben. So echt fühlt es sich an. Beeindruckend.
Ausgelesen: Serpentinen (Si apre in una nuova finestra) von Bov Bjerg
Machen wir es kurz: noch besser als »Auerhaus«. Meine Meinung. Auch weil es sperriger ist oder spielerischer, da sind die Grenzen fließend. So fließend, dass es Spaß macht, dabei zuzuschauen. Ich hätte es bei gutem Wetter lesen sollen. Kunden, die bei diesem Artikel weinten, weinten auch bei »Ein wenig Leben«.
Abgelesen: Portnoys Beschwerden (Si apre in una nuova finestra) von Philip Roth
Muss man seit Woody Allen noch Bücher über jüdisch-amerikanische Sexualneurotiker lesen, deren primärer Sozialkontakt ein Psychotherapeut ist? Ich hätte meine Reise durch das Oevre von Philip Roth nicht mit seinem besten Buch anfangen sollen. Das ist mein Menschlicher Makel. Portnoys Beschwerden jedenfalls weggelegt nach Seite 80. Mich mit einem Kapitel zu verlieren, das »Verrückt nach Mösen« heißt, ist aber auch wahrlich keine Kunst.
#5 / Wenn der Berg nicht zum Paul kommt
16.03. / DÜSSELDORF / Lesebühne Literaturensöhne
28.03. / POZNAN / bilinguale Romanlesung
29.03. / SOSNOWIEC / bilinguale Romanlesung
30.03. / WROCLAW / bilinguale Romanlesung
08.04. / WIESBADEN / Humorlesung
15.04. / ERLANGEN / Humorlesung
20.04. / BERLIN / Humorlesung
21.04. / BERLIN / Humorlesung
Alle Termine, alle Infos unter: paulbokowski.de (Si apre in una nuova finestra)
#6 / Das letzte von der Rolle
Einfach mal innehalten und kurz davon träumen, aus einer so arschreichen Familie zu kommen, dass das einzige, was mir bei den Begriffen »Existenz« und »Angst« in den Sinn kommt, meine kleine Galerie voll selbstgezogener Bettlakengespenterkerzen ist.
#7 / Feiaahmnt.
Wer hätte gedacht, dass Newsletterschreiben so viel Laune macht. Hoffe, dass die leidenschaftlichen Stunden an der einen oder anderen Stelle transportiert haben. Wenn ihr die Arbeit an diesem Newsletter supporten wollt, sehr gerne! Und jetzt: Prosit.
#8 / Nachklang
🔊 🔊 🔊 Easy Life mit »Nightmares« 🔊 🔊 🔊
https://open.spotify.com/track/6BxhzevDe4Mzrabj9Pa1eZ?si=909c10fd70ea4b55 (Si apre in una nuova finestra)