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Das fehlende Puzzleteil

Die gestohlenen Kinder in Spanien

Während der Franco-Diktatur wurden in Spanien unzähligen Müttern ihre Babys genommen und an Adoptiveltern verkauft. Noch bis Anfang der 80er Jahre verdienten Ärzte, Notare, Pfarrer und Nonnen an diesem Kinderhandel. Die Rede ist von geschätzt 300.000 betroffenen Kindern. Es ist auch die Geschichte von Susi Cervera und Sonia Espinosa.

Zusammenfassung

Während der Franco-Diktatur wurden in Spanien geschätzt 300.000 Neugeborene ihren Müttern gegen deren Willen weggenommen und für hohe Summen an katholische Paare vermittelt. Susi Cervera und Sonia Espinosa sind Betroffene dieses systematischen Kinderhandels, an dem Kirche und Ärzte bis in die 80er Jahre hinein verdienten. Während Susi nach langem Suchen ihre Mutter fand, scheitern Sonia und viele andere an der mangelnden Kooperationsbereitschaft katholischer Orden, die sich auf Schweigegelübde und fehlende Akten berufen.

 Von Heike Papenfuss, Valencia

Susi Cervera war 14 Jahre alt, als eine Mitschülerin in der Schule eines Tages behauptete, Susi sei von ihren Eltern adoptiert worden. Die Aussage überraschte Susi Cervera und traf sie zutiefst. Als sie ihre Mutter mit dem Gehörten konfrontierte, stritt diese entschieden ab: „Sie sagte, sie sei meine leibliche Mutter. Mein Vater war zu diesem Zeitpunkt schon gestorben.“

Der Zweifel aber ließ Susi Cervera nicht mehr los. Sie fing an, in Schubladen und Schachteln nach Papieren zu suchen, bis sie eines Tages ihre Geburtsurkunde fand: „Wir feierten meinen Geburtstag am 10. April, aber da stand ich sei im Februar geboren worden. Ich habe meiner Mutter die Urkunde gezeigt und sie hat gesagt, das sei ein Irrtum, sie hätten das falsch aufgeschrieben, nichts weiter.“

Erst viele Jahre später erfährt sie von ihr die Wahrheit: Susi ist im Jahr 1965 bei den Nonnen des Ordens der Siervas de la Pasión in Valencia zur Welt gekommen. Ihre leibliche Mutter war bei ihrer Geburt 16 Jahre alt. Das Kind nahm man ihr gleich nach der Geburt weg und übergab es kurz darauf den Adoptiveltern. „Mein Vater hat immer gesagt, du hast uns viel Geld gekostet“, erinnert sich Cervera. „Ich dachte, das ist ein Spaß. Aber es war wahr.“

Systematischer Kinderhandel

Susi Cervera ist eines von geschätzt 300.000 Kindern in Spanien, die ihren Müttern nach der Geburt gegen deren Willen weggenommen und an Adoptiveltern verkauft wurden. Angefangen hat dieser Kinderhandel 1938 nach dem Ende des Bürgerkriegs und mit Beginn der Franco-Diktatur. Der renommierte Psychiater Antonio Vallejo Nájera eröffnete in diesem Jahr mit der Erlaubnis Francos eine Praxis für psychologische Forschung.

Er war ein Anhänger der Rassenlehre der Nazis und besessen von dem Gedanken, die Marxisten auszurotten. Marxisten waren für ihn alle Linken, Kommunist*innen, Sozialist*innen und Anarchist*innen. Zunächst wurden den Frauen, die in den Gefängnissen des Regimes waren, ihre Kinder und Neugeborenen systematisch entrissen und an regimetreue, katholische Familien gegeben. Diese sollten die Kinder zu aufrechten Spanier*innen erziehen. Die Nachfrage nach Adoptionen war groß, denn Kinderlosigkeit galt damals als Stigma, als Strafe Gottes.

So weitete sich der Kinderhandel im Lauf der Jahre aus. Ärzte, Anwälte, Notare, Pfarrer und Nonnen witterten ein einträgliches Geschäft. In den Krankenhäusern, in denen Gynäkologen an diesem Geschäft beteiligt waren, kam es immer wieder vor, dass man Frauen nach der Geburt mitteilte, dass ihr Kind überraschend gestorben sei. Während man den verzweifelten Familien kleine Holzkisten mit dem vermeintlichen Leichnam übergab, den sie beerdigen sollten, wurde das Baby unterdessen an adoptionswillige Familien verkauft.

Manche Frauen, die ein Kind adoptieren wollten, fingierten mit einem Kissen unter der Kleidung eine Schwangerschaft und kehrten dann mit ihren vermeintlich eigenen Babys in ihre Dörfer zurück. Auch die katholische Kirche verdiente an diesen Verbrechen kräftig mit. Junge Frauen, die unverheiratet schwanger geworden waren, wurden von ihren Eltern in die Häuser einiger Orden gebracht, wie das der Siervas de la Pasión in Barcelona oder Valencia.

Hier verbrachten die jungen Frauen ihre Schwangerschaft. Nach der Geburt mussten sie hier ihr Kind zurücklassen. Die Eltern der Schwangeren zahlten den Nonnen viel Geld für den Aufenthalt und die Geburt, die Adoptiveltern noch einmal mehr für das Kind. Die Summen entsprachen denen eines Autos oder einer Wohnung. Eine Praxis und ein lukratives Geschäftsmodell, das auch noch nach dem Tod Francos fortgeführt wurde – bis in die 80er Jahre hinein.

Die eigene Mutter „unbekannt“

Auch Sonia Espinosa ist ein Opfer dieser Machenschaften. Auch sie wurde im Haus der Siervas de la Pasión in Valencia geboren. Am 2. März 1970, „Mutter unbekannt“, so steht es in ihren Papieren. „Das kann nicht sein“, sagt Espinosa, „meine Mutter lebte monatelang im Haus der Nonnen – natürlich war ihr Name den Nonnen bekannt.“ Die Namen der Mütter wurden in den Geburtsurkunden verschwiegen, um ihre Identifizierung unmöglich zu machen. Trotzdem versucht Sonia Espinosa seit Jahren alles, um ihre Mutter zu finden. Damit ist sie nicht allein. 

Zahlreiche Opferverbände unterstützen die gestohlenen Kinder dabei, ihre Wurzeln zu finden. Seit 1999 haben sie das Recht auf ihrer Seite. Ein Gesetz garantiert den Spanier*innen seither, ihre leiblichen Eltern ausfindig machen zu dürfen. Dies wiegt schwerer, als das Recht einer Mutter, nach der Geburt eines Kindes anonym zu bleiben. Krankenhäuser, die damals an diesem Kinderhandel beteiligt waren, haben inzwischen ihre Archive geöffnet und ermöglichen den Betroffenen, Nachforschungen anzustellen, um ihre leiblichen Mütter zu finden.

Einige katholische Orden aber, wie auch die Siervas de la Pasión in Valencia, wollen davon nichts wissen. Sonia Espinosa erinnert sich: „Wir haben die Nonnen hier in Valencia vor einigen Jahren vor Gericht gebracht, damit sie uns die Wahrheit sagen. Aber der Anwalt der Nonnen hat sich auf das Berufsgeheimnis berufen, die Nonnen auf ihr Schweigegelübde. Wir haben das angefochten und das Gericht hat uns Recht gegeben. In einem zweiten Prozess haben sie dann behauptet, sie hätten gar keine Unterlagen mehr. Was soll man da tun?“

Manchmal hilft der Zufall. Susi Cervera etwa hat ihre Mutter über das Fernsehen gefunden: „Es gab damals ein Programm, das hieß ‚Diario de Patricia‘, in dem sie Menschen, die Angehörige suchten, zusammengeführt haben. Da trat meine Mutter auf, in Begleitung des Anwalts, der sie unterstützt hat, und erzählte ihre Geschichte. Mein Sohn hat das gesehen und mich gerufen. Mama, das ist deine Mutter, hat er gesagt. Die Tochter dieser Frau war am gleichen Ort und am gleichen Tag zur Welt gekommen wie ich.“

Susi Cervera kontaktierte daraufhin den Anwalt und vereinbarte ein Treffen mit ihm. Um sicher zu gehen, machten beide Frauen eine DNA-Probe. Das Ergebnis war eindeutig: „Wir sind zu 99,9 Prozent Mutter und Tochter.“ Mit 46 Jahren lernte Susi Cervera so ihre leibliche Mutter kennen. Die war damals von ihrer Mutter gezwungen worden, ihr Neugeborenes im Orden zurückzulassen.

Ein Schritt, der sie fortan quälte. Zwei Jahre später ging sie noch einmal zu den Nonnen, sie wollte ihr Kind zurück. Doch die Nonnen wollten ihr nichts über den Verbleib ihrer Tochter sagen. Stattdessen boten sie ihr ein anderes Mädchen an. „Das war ein unglaublicher, eiskalter Kinderhandel“, empört sich Cervera heute.

Immer wieder gegen Mauern rennen

Auch Sonia Espinosa kritisiert das Vorgehen des Ordens: „Hier in Valencia hat die Kirche sehr große Macht und wir denken, dass auch Teile der Justiz interessiert daran sind, dass wir mit unseren Forderungen nicht weiterkommen. Das Gesetz ist auf unserer Seite. Das Recht, deinen Ursprung zu kennen, wiegt schwerer als das Recht der Mutter, ihre Identität zu verschweigen. Warum stoßen wir dann trotzdem auf einen solchen Widerstand?“

Enrique Vila Torres, Anwalt in Valencia und Vorsitzender eines großen Opferverbandes kämpft seit vielen Jahren für die von den illegalen Adoptionen Betroffenen. Er hat auf juristischem Weg viel erreicht. So hat er wesentlich zu dem Gesetz beigetragen, dass den Betroffenen das Recht gibt, ihre leiblichen Eltern zu kennen. Auch er kritisiert die Macht der katholischen Kirche, die noch heute „ihre eigenen Gesetze hat und wie ein Staat im Staat operiert“.

Im Gegensatz zu Susi Cervera wusste Sonia Espinosa von Anfang an, dass sie von ihren Eltern adoptiert worden war. Sie ist mit diesem Wissen aufgewachsen und ihren Eltern für diese Offenheit bis heute dankbar. „Ich weiß von anderen, die erst als Erwachsene, etwa nach dem Tod eines Elternteils, Papiere durchgeschaut haben und die Wahrheit völlig unvorbereitet erfahren haben. Das ist ein Schockmoment.“ Trotz aller Offenheit war es auch für Sonia Espinosa nicht immer leicht, mit der Tatsache umzugehen, dass sie ein Adoptionskind war.

Wer bin ich?

„Besonders in der Pubertät, wenn du deine Identität suchst, fühlte ich mich oft außerhalb meiner Familie. Es gab Familienessen, da habe ich alle beobachtet und gedacht, dass sie alle etwas gemeinsam haben. Meine Mutter hatte helle Augen, meine Cousins blaue Augen. Ich sah anders aus und dachte, dass ich mit dieser Familie nichts teile.“ Vor allem aber quälte sie der Gedanke, dass ihr Leben mit einer Ablehnung begonnen und ihre Mutter sie verlassen hat.

Später, als sie vom Handel mit den Neugeborenen erfuhr, änderte sich das. Sie begriff, dass sie vielleicht sehr wohl gewollt und geliebt worden war und ihrer Mutter gegen deren Willen entrissen wurde. Susi Cervera und Sonia Espinosa reden beide liebevoll von ihren Adoptiveltern, die von diesen Machenschaften im Hintergrund nichts gewusst hatten. Den Ehepaaren, die damals Kinder aufnahmen, sagte man entweder, dass die leibliche Mutter bei der Geburt gestorben sei oder dass sie in Armut lebte und ihr Kind weggab, weil sie es nicht ernähren konnte.

Susi Cervera hat mit der Suche nach ihrer leiblichen Mutter erst begonnen, als ihre Adoptivmutter gestorben war – aus Respekt, wie sie sagt. Sonia Espinosa hat lange überlegt, ob sie wirklich wissen will, wer ihre leibliche Mutter ist. Sie wollte sicher sein, dass sie auf alles vorbereitet ist, was sie finden könnte. Was, wenn ihre Mutter eine Prostituierte war? Oder sie selbst das Ergebnis einer Vergewaltigung? „Aber es fehlte dieses eine Puzzleteil in meinem Leben. Eine Antwort auf die Frage, wer ich bin und woher ich komme.“

Als sie sich vor etwa 15 Jahren entschied, die Suche aufzunehmen, hat sie das mit ihrer Adoptivmutter besprochen. „Wenn sie es nicht gewollt hätte, hätte ich nichts unternommen.“ Susi Cervera gehört zu den Glücklichen, die ihre Ursprungsfamilie gefunden und eine große Leerstelle in ihrem Leben gefüllt hat. Sonia Espinosa hingegen sucht weiter, wie so viele andere. Sie weiß, dass es schwer sein wird, ihre Mutter zu finden, solange die Nonnen ihre Archive unter Verschluss halten. Aber die Hoffnung aufgeben will sie nicht. Es gibt immer wieder glückliche Zufälle – wie Susi Cerveras Beispiel zeigt.

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