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Von Litauens kollektivem Trauma

Wenn alte Wunden wieder aufreißen

 

Über Litauen weht buchstäblich die blau-gelbe Flagge – kaum ein anderes Land steht so geschlossen hinter den Ukrainer*innen. Doch wie beeinflusst der Ukraine-Krieg das nationale Bewusstsein der Litauer*innen? Eine Begegnung mit der Creative Producerin Indrė Bručkutė.

Zusammenfassung

Der Ukraine-Krieg weckt in Litauen kollektive Erinnerungen an vergangenes Leid unter sowjetischer Herrschaft. Die Creative Producerin Indrė Bručkutė reflektiert ihre Kindheit, die von Geschichten über Deportationen und Kriegsängste geprägt war. Heute engagiert sie sich mit anderen Litauer*innen für die Ukraine, ein Land, das viele als Frontlinie gegen einen gemeinsamen Feind, Russland, betrachten. Litauen rüstet sich für den Ernstfall, und Bručkutė sucht ihre Rolle in der Landesverteidigung, möglicherweise abseits der Waffen.

Von Sabrina Proske, Vilnius 

Indrė Bručkutė ist neun Jahre alt, als sie mit Freundinnen im Kinderzimmer sitzt und über Krieg spricht: Was würden sie tun, wenn in ihrem Heimatland Krieg ausbräche?  „Ich würde ein Gewehr nehmen und schießen“, erinnert sie sich 20 Jahre später. Heute ist Bručkutė erwachsen, arbeitet als Creative Producerin und würde aus heutiger Sicht nicht mehr schießen. „Ich wusste als Kind doch gar nicht, wie ich ein Gewehr halten soll“, erzählt sie kopfschüttelnd. 

Dass sich Bručkutė überhaupt als Kind solche Fragen stellte, hängt mit einem dunklen Kapitel der Geschichte Litauens zusammen und dem Trauma, dass seitdem wie ein Damoklesschwert über dem Land und den Generationen schwebt. Es ist das Trauma hunderttausender Litauer*innen, die 1941 von sowjetischen Soldaten nach Sibirien deportiert worden sind. Die meisten von ihnen kehrten nie zurück. Der Krieg in der Ukraine wecke nun das kollektive Trauma im Baltikum, sagt die 29-Jährige.   

Gemeinsamer Feind Russland

Bručkutė blickt aus dem Küchenfenster ihrer Wohnung im alten Stadtkern von Vilnius. Vor dem Fenster weht die blau-gelbe Fahne, wie vielerorts in Litauen. Das Land im Baltikum gehört zu den größten Pro-Kopf-Gebern militärischer und finanzieller Hilfe für die Ukraine. Seit Beginn des Krieges im Februar 2022 haben Hunderte von litauischen Freiwilligen Medikamente, Mullbinden oder Schmerzmittel in ukrainische Logistikzentren gebracht. Offizielle Zahlen gibt es nicht, da die meisten Freiwilligen ihr Engagement privat organisieren. Die litauische Nichtregierungsorganisation „blue-yellow“ sammelt bereits seit 2014 Spenden für Drohnen, Schutzwesten, Helme und Ausrüstung zur Entminung. 

Einige Litauer*innen ziehen sogar als Soldat*innen an die ukrainische oder belarussische Front. Besonders in Zeiten, als das Ausland zögerte, Waffen an die Ukraine zu schicken, war die Unterstützung der Litauer*innen enorm. Denn das Gefühl der Mobilisierung ist in Litauen besonders ausgeprägt. Viele haben den Eindruck der Krieg in der knapp 1.300 km entfernten Ukraine sei auch ihr eigener. „Das, was gerade in der Ukraine passiert, führt uns vor Augen, zu was Russland in der Lage ist. Es zeigt ein Szenario, vor dem wir Menschen in Litauen Angst haben“, sagt Bručkutė. Doch wie kam es dazu?

Blick in die Geschichte 

Vor 80 Jahren, am 14.Juni 1941 erteilte Stalin den Befehl, große Teile der Bevölkerung in den baltischen Staaten zu verhaften und in sowjetische Arbeitslager zu deportieren. In den Jahren 1940 bis 1953 verlor Litauen 33 Prozent seiner Bevölkerung. Das Litauische Museum für die Opfer des Genozids und Widerstands spricht von insgesamt 1,2 Millionen Menschen, die deportiert wurden, zum Tode verurteilt, inhaftiert, aus politischen Gründen ermordet oder zur Flucht gezwungen.

Ein Jahr zuvor war die Rote Armee mit Rückendeckung durch den Nichtangriffspakt „Hitler-Stalin-Pakt“ in die unabhängigen baltischen Republiken einmarschiert und hatte die Regierungen entmachtet. Alle, die der anschließenden Sowjetisierung im Weg standen, wurden verhaftet oder erschossen. Bei vielen Menschen sind die Erinnerungen daran noch sehr real.

Litauen zwischen Frieden und Krieg

Bručkutė hat die Schrecken der russischen Herrschaft nicht selbst erlebt, aber kennt sie aus Erzählungen ihrer Mutter und Großmutter. Die junge Frau gehört zur „Generation der Unabhängigkeit“. Als sie geboren wurde, erlangte Litauen gerade als erstes Land des Baltikums seine Unabhängigkeit von der UdSSR zurück. Das war 1990. Bručkutė wuchs in Freiheit auf. „Unsere Generation kann sich eine Welt ohne Freiheit nicht vorstellen. Wir leben und atmen dieselben Ideale wie ihr“, sagt sie. Ihre Vorstellung von Krieg ist von romantisierten Heldensagen und heroischen Schlachtzügen geprägt.

Dass der Ukraine-Krieg nun an manchen Tagen auch in Litauen so greifbar wirkt und die Demokratie und Meinungsfreiheit in ihrem Land in Frage gestellt werden könnte, verunsichert sie. Das Land befinde sich in einem seltsamen Stillstand zwischen Frieden und Krieg. Niemand wisse genau, wie lang dieser Zustand noch anhalten werde. Ob es zu einem Krieg und einer erneuten Besetzung durch die Russen kommen wird, kann sie nicht beantworten. Auf die Frage, wie sie im Falle einer erneuten Besetzung durch die Russen reagieren würde, folgt langes Schweigen. Dann sagt sie: „Die russische Invasion war ein Schock für uns.“

Russlands Narrativ: Vom Täter zum Opfer 

Die Litauerin Danutė Gailienė, Professorin für klinische Psychologie, beschreibt in ihrem Buch „Das Leben in Litauen aus der Sicht der Traumapsychologie“, dass die Ursache für das kollektive Trauma in Litauen der sogenannte psychosoziale Stress ist. Während Deutschland seine Verbrechen im Zweiten Weltkrieg zugegeben hat, weigert sich Russland bis heute, die Verantwortung für den Terror des kommunistischen Regimes zu übernehmen. Gailienė betont, dass jedoch der Täter sein Fehlverhalten zugeben oder wiedergutmachen muss, damit das Opfer vollständig heilen kann. 

„Als Litauen unabhängig wurde, bedeutete das für uns Glück“, so Gailienė. Doch gleichzeitig begann Russland unter Putin, schrittweise ein neues Narrativ der Traumatisierung zu erschaffen. Mit seiner Aussage, der Zusammenbruch der Sowjetunion sei die größte Katastrophe des 20. Jahrhunderts gewesen, brachte er die russische Bevölkerung dazu, sich selbst als Opfer der Ereignisse zu sehen. Dadurch wurde den Litauer*innen das Leid, dass sie damals erfuhren, abgesprochen.

Litauen rüstet sich für den Ernstfall

Litauens Verteidigungsminister Laurynas Kasčiūnas vergleicht Litauen mit einem kleinen Igel, der nun seine Stacheln ausfahren und unangenehm werden müsse. Nach Ansicht des Ministers greife Russland die starken Staaten nämlich nicht an. Um zu diesen zu zählen, verstärkt Litauen seit Kriegsausbuch unter anderem seinen Katastrophenschutz. „Das trägt alles dazu bei, dass wir uns sicher fühlen.“ erklärt Bručkutė. „Wer mit einem so unberechenbaren Nachbarland aufwächst, der lernt mit Unsicherheit zu leben“, erklärt sie. 

Sie erinnert sich, wie Freund*innen aus anderen europäischen Ländern, die nach Litauen gezogen waren, reagierten, als Putin die Ukraine angriff: „Sie riefen panisch ihre Eltern an. Wir Litauer hingegen blieben ruhig, denn was da geschah, war schon immer im Bereich des Möglichen.“ Was Bručkutės Rolle im Falle eines Krieges sein soll, versucht sie noch herauszufinden.

Nun sitzt sie an ihrem Laptop und scrollt durch die Angebote des litauischen Ministeriums für nationale Verteidigung. In sogenannten Mobilisierungsschulen kann sich jede*r Litauer*in in Online-Kurse einschreiben und lernen, was im Kriegsfall zu tun ist. Darüber hinaus bietet das Ministerium eine drei- bis zehntägige Ausbildung zur Landesverteidigung an. „Eine erfolgreiche Landesverteidigung erfordert, dass alle – Soldaten wie Zivilisten – für die Freiheit kämpfen und ihr Land nicht nur mit Waffen, sondern auch mit sinnvollen Taten verteidigen“, liest sie vor.

Dann startet ein animiertes Erklärvideo zur nationalen Verteidigung. „Wenn du militärische Vorerfahrung hast, dann kommst du im Kriegsfall zum Militär“, heißt es darin. Ein fitter Rentner würde wohl zu einer Hilfsorganisation eingezogen, wird weiter erklärt. Eine Krankenschwester müsste in ihrem Beruf weiterarbeiten, und eine Bäckerin würde ihren Teil zur Landesverteidigung beitragen, indem sie weiter Brot backe und damit die Versorgung im Land aufrechterhalte. 

Einige von Bručkutės Freund*innen haben sich für den bewaffneten Widerstand in der Militärkommandantur gemeldet. In Litauen gäbe es einen Trend, im Ernstfall das Land mit der eigenen Waffe verteidigen zu wollen. „Ich wäre aber ziemlich schlecht mit einer Pistole“, sagt Bručkutė dann. „Ich bin Künstlerin. Ich glaube, meine Bestimmung liegt woanders.“ Seit dem Krieg in der Ukraine hätten sich ihre Prioritäten geändert. Sie möchte sich mehr engagieren und Wege finden, ihre Fähigkeiten und Leidenschaften mit sinnvoller Arbeit zu verbinden. Sie träumt davon, in Politikwissenschaft promovieren.

Vilnius veröffentlicht Verteidigungsplan

Dann scrollt Bručkutė weiter bis zu einem Kurs, der den Namen „Militärkommandantur“ trägt. Darin soll innerhalb einer Woche jede*r Litauer*in ein allgemeines Wissen und Techniken zur Landesverteidigung übermittelt werden. Der Marketingtext ist vage gehalten, es fallen Wörter wie „Ausrüstung“ und „Waffen“. Bručkutė runzelt die Stirn und überlegt. „Es geht da nicht um eine Einschreibung beim Militär, sondern um eine generelle Ausbildung, die einen auch zur Verteidigung des eigenen Viertels ermächtigt“, erklärt sie auf Nachfrage. Ihre Mutter habe sich dort auch angemeldet. 

Im August 2024 stellte das Vilniuser Rathaus seine Pläne zur Verteidigung der litauischen Hauptstadt vor. Bürgermeister Valdas Benkunskas betonte dafür die Bedeutung der zivilen Militärkommandantur. Die litauische Regierung rechnet mit 2.000 bis 5.000 Personen, die über die Onlineplattform rekrutiert und ausgebildet werden sollen. Ob Bručkutės eine davon sein wird, darauf möchte sie sich derzeit noch nicht festlegen. Im Moment ist noch zu viel Bewegung in ihrem Leben.

Eine dichte Wolkendecke legt sich über die Altstadt. Ihr Blick wandert nach draußen. Nur wenige Meter von ihrer Wohnung entfernt steht die Vilniuser Stadtmauer. Diese Wehrmauer aus dem 16. Jahrhundert umfasst zehn Tore und erstreckt sich fast anderthalb Kilometer um den Stadtkern. Es ist jene Mauer, für die Bürgermeister Valdas Benkunskas soeben neue Schutzwälle aus Beton angekündigt hat. Dort soll im Kriegsfall die zivile Militärkommandantur die Stadt bei einem Angriff schützen.  

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