ADHS und Weiblichkeit
ADHS sybolisiert vieles, aber eines sicher nicht: Weiblichkeit und Eleganz.
Die Gesellschaft und unsere Sozialisierung ist sich einig darin, wie Frauen und weiblich gelesene Personen zu sein haben: Sanft und ruhig mit einer gewissen Grazie. Bescheiden, sozial und diplomatisch, freundlich und besonnen. Sauberkeit und Ordnung, ein ordentliches Federmäppchen und akkurat manikürte Fingernägel. Aber es gilt sicher nicht als weiblich, pausenlos gegen Türen zu rennen, Dinge kaputt zu machen, durch Zimmer zu poltern, wütend herumzuschreien und Fettflecken auf dem T-Shirt zu haben. Ich hatte durch meine ADHS nicht nur das Gefühl, als Mensch zu versagen - sondern vor allem als Frau.
ADHS und Weiblichkeit
Eine Kolumne von Charlotte Suhr (26. März 2023)
Sie fehlt mir schon mein Leben lang: Diese gewisse Grazie.
Ein Glanz sein, nannte es dir Protagonistin in einem meiner liebsten Romane einmal. Ein Glanz ist etwas Sanftes, Zerbrechliche. Ein Wesen, das in einen Raum hinein schwebt und eine natürliche Eleganz ausstrahlt. Fließende Bewegungen und diese Leichtigkeit, über die nicht nachgedacht werden muss. Die Tasse mit genau dem richtigen Druck auf dem Tisch absetzen, die intakten manikürten Fingernägel klackern auf der Tastatur und dieser leicht federnde Gang.
Ich habe sie mir immer gewünscht, weibliche Eleganz und die damit verbundene Attraktivität. Wollte ein zartes Etwas sein, auf das man achtgeben musste. Eine Person, der die Hälfte des Tellers ausreicht und die immer ein süßes Lächeln auf den Lippen trägt.
Ich weiß, dass ich in Klischees denke und heftig von einem Male Gaze beeinflusst bin, der Frauen und weiblich gelesene Personen mehr als wohlduftende Blumen denn als echte Menschen dargestellt haben möchte. Mir ist bewusst, dass ich einem Ideal verfallen bin, welches weder mir noch anderen Frauen einen Gefallen tut. Nennen wir es That Girl oder Clean Girl, die Yoga Instructorin oder Carrie Bradshow, die Influencerin mit der glasklaren Haut und dem süßen Wuscheldutt, Arwen, Galadriel oder eine andere Elben-Schönheit - sie faszinieren mich und mein Wissen über das Patriarchat und weibliche Ideale, die uns unterdrücken, haben keinen Wert, weil es nichts daran ändert, was sich von klein an in mein Hirn hineingebrannt hat:
Du bist nicht elegant, aber du solltest es sein.
Ja, ich wollte gerne zu ihnen gehören. Zu den süßen Mädchen mit den ordentlichen Feder-Mäppchen, die reiten und Ballett tanzen und immer gut riechen. Ich wollte eine von denen sein, deren Französischer Zopf von einem Zopfgummi mit roten Perlen zusammengehalten wird.
Manchmal fühle ich mich wie Fleabag, die sich in einem Moment der Schwäche verzweifelt fragt, ob sie nur Feministin sei, weil sie so kleine Brüste habe. Ich bin keine Dame. Ich bin die, die so laut und hässlich lacht, dass sie regelmäßig von genervten Lehrer*innen zurechtgewiesen wurde.
Ich bin keine süße Maus. Ich bin die mit der schlechten Laune und dem Gesichtsausdruck, von dem andere mir regelmäßig sagten, es würden ihnen Angst machen. Du und dein Todesblick, kommentierten meine Klassenkameradinnen ihn, obwohl ich nur gedankenverloren war, nur nachdachte, nur schaute. Wie kann man Menschen mit einem Blick töten, wenn man lediglich darüber nachdenkt, was man später essen möchte?
Ich war die mit der ewig schlechten Laune. Die niemand zufrieden stellen konnte, die Meckertante, die Klugscheißerin, die Gehässige. Ich schmollte und war eine beleidigte Leberwurst, ignorierte meine Freundinnen, wenn es mir schlecht ging, sprach mit niemandem, schwieg wütend, betroffen, traurig. Ich war kein Sonnenschein. Ich war kein Mädchen, das gute Laune verbreitete, ich war nicht kümmernd, nicht warm, nicht einladend. Ich war die, die nach Hause wollte und jedes Spiel doof fand. Die schlechte Verliererin, die das Spielbrett umschmiss und wütend aus dem Raum rannte. Deren Stimmung von einer Sekunde zur nächsten kippte und bei der man oft nicht wusste, welche Laune sie in den nächsten Minuten wohl haben würde.
Die, die herumhampelte und Grimassen schnitt und andere zum Lachen bringen wollte.
Ich schwebe nicht in Räume, ich stolpere in sie. Meine Fingernägel sind nicht sauber und manikürt, sondern mit abgesplittertem Nagellack, weil ich keine Lust habe, mich um sie zu kümmern. Abgeknabberte Nägel und Nagelhaut, blutige Fetzen, die von meinem Daumen hängen. Vor Nervosität knibbele ich in einem Raum voller Menschen an meinem Nagelbett, während andere sich entspannt unterhalten und niemand auf die Idee kommt, sich selbst zu verstümmeln.
Ich war nie zart. Ich war grobschlächtig. Irgendwie immer stark, kräftig. Ich raufte mir meinen Freundinnen, ich hatte eine Sportlichkeit, die keine Eleganz aufwies, sondern rohe Kraft. Ich setzte meine Willen durch, indem ich so lange auf Dinge einhämmerte, bis sie passten - physisch und mental.
Ich trinke meine Cola in einem Zug aus und esse schneller als alle anderen. Ich habe keine Zurückhaltung, keine Bescheidenheit. Mein Hunger ist immer größer als der von anderen Mädchen. Ich aß das Doppelte von dem meiner Freundinnen und fühlte mich trotzdem nie satt.
Im Hort war ich immer diejenige, die alles aß, während sich die anderen Mädchen von der Konsistenz, dem Fett, den Inhaltsstoffen ekelten. Ich liebte Fleisch und Bauernfrühstück, während ich auf die anderen Mädchen schielte, die sich vegetarisch ernährten und kaum Hunger hatten. Bescheiden, zufrieden, genügsam, süß.
Meine Hände, mein Messer, meine Ärmel und mein T-Shirt waren voller Nutella und meine Lehrerin schaute mich an, als säße sie einem ekligen Ungeziefer gegenüber. Und die Scham überrollte mich. Ich trug fleckige und beschmadderte Kleidung, Löcher in den Hosen.
Im Urlaub schimpfte mein Vater, dass ich meine Kleidung schmutzig machte. Ich bekam eine Hose angezogen, mit der spielen und dreckig werden erlaubt war und wühlte mich enthusiastisch in einen Sandhaufen. Ich nutzte die Erlaubnis mit jeder Faser aus und rollte durch den Schmutz, als gäbe es kein Morgen. Ich sah die Scham im Gesicht meines Vaters und wusste, ich hatte etwas falsch gemacht. „Du hast doch gesagt, ich darf mich schmutzig machen“, fragte ich verunsichert. „Ja, aber doch nicht so!“, schimpfte er und ich übernahm seine Scham und wusste, ich hatte alles falsch verstanden, falsch gemacht. Ich war falsch.
Mich begleitet schon mein Leben lang das Gefühl, ich sei nicht auf die richtige Art und Weise weiblich. Nicht elegant und begehrenswert weiblich.
Obszön. Roh und ungefiltert. Ich fühlte mich immer falsch und ein großer Teil dessen war die Überzeugung, dass ich in meinem Geschlecht versagte. Ich war zu laut, zu viel, zu ausladend, zu moody, zu männlich.
Mir ist erst mit meiner ADHS-Diagnose klargeworden, dass viele meiner Eigenschaften, die ich als unansehnlich, unsexy, unweiblich, hässlich, peinlich, maskulin wahrnahm, viel mit meiner Neurodivergenz zu tun haben. ADHS ist nicht sexy, sondern so ziemlich das Gegenteil von dem, was die Gesellschaft als weibliches Ideal ansieht.
Unfälle und blaue Flecken, das Stolpern über die eigenen Füße und Stimming, das nervöse Herumspielen an Gegenständen, den eigenen Händen, das wilde und aggressive Knabbern an der Wangeninnenseite und dem Zahnfleisch. Die Stimmungsschwankungen und die emotionale Instabilität, das Herumschreien und die endlose Wut - das Gegenteil von einem weiblichen Ideal.
Schmutzige Kleidung und Fahrigkeit, die Polterei durch Zimmer und das Aufreißen von Türen mit viel zu viel Schwung, die Erledigung von Sachen mit Hektik, Ungeduld und Genervtheit. Eingerissene Nägel und unordentliche Wohnungen, vollgekrümelte Handtaschen mit alten eingewickelten Kaugummis, vergessen zu spülen, vergessen das Gesicht zu waschen und den Schlaf aus den Augen zu entfernen, 400 Tippfehler, verschmierte Mascara und kaputte Tassen. Den Kaffee über den Laptop geschüttet und mit dem BH-Träger an der Tür hängen geblieben. Beim Flirten gegen die Säule gerannt und beim Fahrrad Fahren rücksichtslos allen die Vorfahrt nehmen. Nicht zugehört und vergessen, zum Geburtstag zu gratulieren. Keine Lust auf Plaudereien bei der Arbeit, keinen Nerv zu grüßen, zu lächeln, anderen ein gutes Gefühl zu geben.
Ein großer Teil meines Maskings bestand seit jeher darin, nicht nur so zu tun, als wäre ich neurotypisch, sondern auch eine Weiblichkeit zu imitieren und zu schauspielern, die für mich unnatürlich, sperrig und viel zu eng war. Mich selbst zu limitieren, die Lausträrke herunterzufahren, weniger Schwung in meine Bewegungen zu stecken, eleganter, kleiner, weniger, sanfter zu werden. Die Bewegungen meiner Freundinnen und Klassenkameradinnen zu kopieren und nach einer Eleganz zu streben, die mir so wenig passte wie ein zu enges Kleid. Ich wurde zwanghaft ordentlich, leiser, versteckte die Schmuddeleien, mein Chaos. Mehr oder weniger erfolgreich.
Am Ende ist das Problem, dass wir überhaupt diese weiblichen Ideale haben. Männer mit ADHS haben schließlich dieselben Probleme, ihre Kleidung sauber zu halten, doch bei ihnen ist dies kein Zeichen, dass sie unmännlich sind. Im Gegenteil. Von Männern wird keine Eleganz, keine Schüchternheit und Bescheidenheit, keine Stille und penible Sauberkeit erwartet. Sie gelten nicht als unmännlich, wenn sie wütend sind und herumschreien, wenn sie ernst gucken oder nicht zugänglich sind.
Vielleicht ist das auch ein Grund, warum es so lange dauerte, bis wir erkannt haben, dass auch Frauen und weiblich gelesene Personen ADHS haben können. Weil alle Eigenschaften, die wir mit ADHS verbinden, inhärent männlich sind. Laut, chaotisch, wild und ungestüm: Das kann und darf es doch gar nicht bei Frauen geben.