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Timelines, die Produktion von TV-Dokumentationen, Gilles Deleuze - und die "Umbrella Academy"

"Umbrella Academy", so lautet der Titel einer zumindest von Staffel 1-3 fantastischen - im Wortsinne - Netflix-Serie. Bezaubernde Figuren - so Klaus, stockschwul, der mit den Toten kommunizieren kann und endlos Drogen beinahe osmotisch aufnimmt, weil er diese Begegnungen mit all den Obskuren, Unheimlichen und Furchtbaren kaum erträgt. Viktor, der als Vanya aufwächst und nach der Transition des Darstellers Eliott Page wie selbstverständlich als Mann in der Serie agiert. Die Geschlechtsanpassung wird thematisiert, jedoch beinahe beiläufig. Oder Nummer 5, der durch die Zeit springen kann, in die Zukunft gerät, in der Gegenwart seiner Geschwister wieder auftaucht und aus der Not heraus bei einer seiner Zeitreisen in den Körper eines Heranwachsenden schlüpfen musste. Als 58jähriger.

"Geschwister" trifft es nicht ganz. Die Serie baut auf einem fiktiven Ereignis im Jahr 1989 auf. Auf wundersame Weise, so die Story, seien 43 Kindern geboren wprden, ohne dass die Mütter schwanger waren. Ein Milliardär namens Sir Reginald Hargreeves ahnt von den besonderen Fähigkeiten dieser Kinder und kauft sieben Familien kurzerhand den Nachwuchs ab. Bei ihm, aufgezogen von einem sprechenden und mit menschlicher Intelligenz gesegneten Schimpansen, bilden sie eine Gruppe von Brüdern und Schwestern und lernen, mit ihren besonderen Fähigkeiten umzugehen. Luther verfügt über übermenschliche Kräfte. Diego beherrscht virtuos das Werfen von Messern und anderen metallischen Gegenständen. Allison kann Menschen mit hypnotischen Kräften kontrollieren. Viktor verwandelt Geräusche in immens explosive Kräfte - und Ben, bei einem Einsatz früh verstorben und nur für Klaus als Geist sichtbar, fährt tödliche Tentakel für den Kampf aus seinem Körper aus.

Nummer 5 sah bei einem Ausflug in die Zukunft die Folgen einer Apocalypse und lebte dann dort Jahrzehnte. Er kehrt in die Gegenwart der anderen zurück, um diese Apocalypse zu mit ihnen zusammen zu verhindern.

Im Verlauf der insgesamt 4 Staffeln wechseln die Hargreeves ständig die Zeitlinien. Dass diese verschiedenen Zeitlinien überhaupt existieren ist eine der Prämissen der Serie. In Quantenphysik, Science Fiction und Esoterik gibt es unterschiedliche Zugänge zu dieser Grundidee der Paralleluniversen. Auch fiktionale Stoffe wie "Butterfly Effect (Si apre in una nuova finestra)" spielen diese Idee durch, dass als Effekte der Handlung eines Protagonisten sich unterschiedliche Folgen ergeben können, je nachdem, wie dieser handelt. Andere Modelle oder auch Fantasien gehen davon aus, dass diese parallelen Zeitlinien zugleich existieren und man so zwischen ihnen hin und her springen könne. Als wäre es möglich, durch welche Technik auch immer von Zeitlinie 1, in der Donald Trump Präsident ist, in eine andere zu wechseln, in der Hillary Clinton gewann.

Diese Idee greift mit fulminanter Vorstellungskraft die "Umbrella Academy" auf. So spielt die zweite Staffel in den 60ern. Die Geschwister landen per Timeline-Jumping in unterschiedlichen Jahren dieser Dekade. Allison spürt schnell, dass sie als Schwarze wenig Chancen hat angesichts der Segregation und beginnt, sich in der Bürgerrechtsbewegung zu engagieren. Klaus mutiert zum Guru im Summer of Love, nachdem zuvor eine intensive Liebesbeziehung  mit einem anderen Soldaten in Vietnam tragisch endete.

So surft die Serie durch vergangene Gegenkulturen. Stoffe, die wir in Teams auch in Musikdokumentationen behandelt haben. So in "Soul Power" (ZDF/ARTE), einer Geschichte der Soul-Music, in der auch die Bürgerrechtsbewegung eine Rolle spielt, zugleich aber gezeigt werden kann, dass eigenständige ökonomische Strukturen wie das Motown-Label nicht minder wirkten. Oder "Peace'n'Pop" (ZDF/ARTE), in der ich als Autor in zwei Teilen die Aufgabe hatte, die Zusammenhänge zwischen der Friedensbewegung der 60er Jahre und der musikalischen Form des Jazz zu rekonstruieren.

Rekonstruieren trifft es. Man sucht historische Stoffe und Quellen auf, vertieft sich in Archive, führt Interviews mit Zeitzeugen und Expert*innen, um diese Realgeschichte auf Musik zu beziehen, Songs und Stile in diese einzubetten und in eine lineare Struktur zu überführen - in der Zeit, als Zeit und Zeitqualitäten modellierend.

  Auf einer Timeline.

  Dieses Strukturprinzip prägt annähernd alles lineare, mittlerweile zumeist digital sich vollziehende Produzieren von Musik und audiovisuellen Medien. Basis ist immer eine Timeline mit mehreren Ebenen. In der Musikproduktion arbeitet man mit verschiedenen Tonspuren, die manchmal - wie in der Software "Maschine 2" - vorgefertige Pattern arrangieren. In der Videoproduktionen sind es mehrere Ebenen - Ton-, Bild- und Effektspuren liegen übereinander, und was dort getrennt bearbeitet werden kann, erzeugt letztlich das Gesamt-Bild, das final im Fernsehen oder auf dem Computer angeschaut werden kann. Auch Software zur Produktion von Radiosendungen arbeitet ebenso, nur ohne Bild. In diesem Video habe ich ein wenig mit dem Prinzip gespielt (Si apre in una nuova finestra). Wie Social Media-Timelines da hineinspielen, die sind dort ja auch zu sehen, dazu später mehr.

 Der Unterschied zur Textproduktion ist deutlich. Auch Texte haben einen Anfang, eine Mitte und ein Ende. Sie zeigen jedoch in vielen Fällen - nicht unbedingt beim geplotteten 3-Akt-Schema mit einer Hauptfigur, aber es besteht zumindest die Möglichkeit - wuchernde, rhizomatische Strukturen, der Logiken einer linearen Erzählweise so nicht folgen können. Ja, es gibt künstlerische Filme, in deren Fall wie in David Lynchs "Lost Highway" vermutlich ein linear geschriebenes Drehbuch einfach in der Mitte durchgeschnitten wurde und dann neu arrangiert - oder die nur der Eigendynamik des akustischen und visuellen Materials folgen. Es gibt in Zeiten digitaler Techniken die Möglichkeit, durch Links und ähnliche Tools in andere Filme zu wechseln. Der Regelfall ist das nicht.

Tools wie das folgende finden sich als "Zeitleisten" auch in Geschichtsbüchern, so komplex sie sonst auch ansetzen mögen. Solche "Chronologien" und unterschiedliche Verknüpfungen von Ereignissen je nach Kausaliät, schlichter Addition, Kontrast, Dialektik etc. prägen unsere Weltdeutungen. Oft entbrennen politische Debatten, welche Verknüpfungen die richtigen seien und wo das alles anfinge - vor 3000 Jahren? 1912, 1948, 1967 oder 2023? Passiert ist etwas dann, wenn sich das Danach von dem Davor unterscheidet.

Dokumentationen arrangieren das Material auf ihren Timelines anhand solcher Überlegungen. Sie agieren dabei nicht notwendig chronologisch, arbeiten mit Rückblenden, Einschüben, wechseln zwischen dem Besonderen, Musiker*innenbiographien, Ereignissen, und dem Allgemeinen - "nunmehr hatte R&B gesiegt und ist zur dominanten, globalen Musik avanciert". Die 80er Jahre-Folgen von "Pop 2000 -  50 Jahre Popmusik und Gegenkultur in Deutschland", für die ich als Autor verantwortlich war, folgen der Leitthese "In Westdeutschland schlug die Politisierung der Jugendkultur in Ästhetisierung um, im Osten wurde das Ästhetische politisch". Über 3 mal 43 Minuten haben wir das entfaltet.

Zentrale These meiner Dissertation "Docutimelines (Si apre in una nuova finestra)" (kann kostenfrei als eBook herunter geladen werden) ist, dass die Arrangements in den Timelines der Film- und Doku-Produktion das Ergebnis kommunikativer Prozesse seien. Solcher, die sich an allen Habermasianischen Geltungsansprüchen orientieren auch dann, wenn sie Habermas gar nicht kennen  - denen auf propositionale Wahrheit, normative Richtigkeit und, hier musste ich Habermas mit Martin Seel erweitern, auch ästhetischen Erfahrung. Jenen sowohl derer im Film als auch derer im Schnitt als auch, antizipiert, zukünftigen Rezipienten. Sujet ist im Falle von Musik zudem oft Ethik in dem Sinne, dass Fragen des guten Lebens im Bezug auf durch Songs und Raves vermittelte Seinsqualitäten, "fühl dich frei", "lebe Liebe", "weine nicht", beantwortet werden.

Diese kommunikativen Prozesse können unterschiedlichen Parametern folgen, je nachdem, ob man sie an dem Stoff und dessen möglichst angemessener Umsetzung, Annahmen darüber, was Zuschauer*innen sehen wollen oder auch den institutionellen Ordnungen der beauftragenden Sender und in ihnen wirksamen Hierarchien orientiert.

Die Stoffe selbst entnimmt man diesem gigantischen Container "Zeit". Gilles Deleuze formuliert in seinem zweiten Kino-Buch "Das Zeit-Bild" anknüpfend an Henri Bergson gewaltige - wahlweise - Metaphern, Ontologien oder auch Metaphysiken im Bezug auf Zeit - je nachdem, wie man ihn lesen will.

Bei ihm erscheint Zeit selbst als das Virtuelle, das als gespeicherte Vergangenheit, all die Erinnerungen, aber - so würde ich es erweitern - auch all die in Archiven gelagerten Bilder und Aufnahmen, Dokumente und Schriften zur Gegenwart, die immer schon vorbei ist, koexistiert. Zeit ist so das, worin wir situiert sind und Elemente aus diesem gewaltigen Speicher, ich nenne das hier pragmatisch so, aktualisieren - indem eine Zeitzeugin wie Martha Reeves erläutert, wie das war, als Sängerin für Motown im Detroit der 60er zu arbeiten. Indem Auftritte von Martha Reeves & the Vandellas damit verschnitten werden, indem die Menschen, meist Editor*in und Regisseur*in/Autor*in, im Schnitt zusammensitzen und diskutieren, was auf die Computertimeline zu schaufeln sei. Bei Zuschauenden verknüpft sich das ggf. mit je eigenen Erinnerungen - wie das war, zu "Heatwave" in einer Disco in Osnabrück zu tanzen, zum Beispiel.

Deleuze schreibt von "Schichten und Regionen" der Zeit, die in diesem Sinne meines Erachtens als Großmetapher verstanden werden sollten. Bei jeder wie auch immer logisch verknüpften Bild- und Tonfolge auf der Timeline des Computers entsteht so im Falle historischer Stoffe eine - mit guten Gründen so gebaute - gedachte Zeitlinie in der historischen Zeit. Biographische, zeit- und musikgeschichtliche Entwicklungen rekonstruieren die Teams dabei auf der Computertimeline.

Das geschieht in der Regel um bereist existierende Rekonstruktionen herum bzw. unter Bezugnahme auf sie. Kanonbildungen, etablierte Musikgeschichtsschreibungen: "aus R&B entstand Rock'n'Roll entstand Beat entstand Art-Rock entstand Punk, bis bunt geschminkte Synthie-Popper in den 80er den Rock zerstörten" zum Beispiel. Aber zum Glück kam dann Grunge - so eine lange Zeit populäre Zeitlinie im Musikjournalismus.

Diese Erzählung brachten viele mittlerweile zum Einsturz, wir auch in unseren Musikdokumentationen für ARTE. Weil wir Soul und Disco und House viel wichtiger fanden und tatsächlich auch nachhaltiger wirksam; Musiken oft von Marginalisierten, BPoC und Queers. Diese Zeitlinie fand mittlerweile weite Verbreitung; wir können uns zugutehalten, darauf recht früh hingewiesen zu haben.

 Zurück zur "Umbrella Academy". Diese Zeitlinien sind dort außerordentlich präsent. Bis zum bitteren Ende der Staffel 4. Ich stehe immer noch unter Schock und fühle mich verraten.

 Achtung, Spoiler!!!

 Pointe dieser bis dahin so wundervollen Serie voller queerer Freaks ist: jede Staffel endet damit, dass die Geschwister eine Apokalypse verhinderten und daraufhin versprengt auf anderen Zeitlinien landeten. Eine ganze Folge der vierten Staffel besteht darin, diese Zeitlinien als ein kompliziertes U-Bahn-System zu konzipieren, dessen jeweilige Ausgänge in eine andere Linie führen. Zwei der Protagonisten verirren sich darin.

Um bei der finalen Pointe zu landen: Dieses Aufsprengen in die verschiedenen Schichten und Regionen der Zeit sei, Trommelwirbel, überhaupt erst durch die Anomalie der ohne jede Schwangerschaft zur Welt gekommenen Hargreeves entstanden, um immer wieder neu zum apokalyptischen Ende hin zu kollabieren. Je mehr sie versuchten, die Welt zu retten, desto mehr zersplitterten sich diese Zeitlinien.

Sogar eine Gegengewegung gegen die Hargreeves, Menschen, die alle aussehen wie Trump-Wähler*innen, formiert sich - weil diese teilweise Erinnerungen aus anderen Zeitlinien als die, in der sie gerade leben, in sich regen spürten und diesen Irrsinn nicht mehr erfahren wollten. So warten sie auf die große "Reinigung": sie tragen zur Entstehung eines gewaltigen Monsters bei, das die Welt verschlingen solle.

Das Schlimme ist: die Erzählung der Showrunner pflichtet ihnen bei. Viktor, frisch transitiert, der schwule Klaus, die Bürgerrechtlerin Allison, sie alle begreifen nun, dass sie selbst der Grund der großen Verwirrung und Zersetzung seien. Sie lassen sich vom großen Monster einverleiben - eine Art Selbstmord.

Plötzlich ist die Welt wieder idyllisch. Es gibt wieder nur eine einzige Zeitlinie. Glückliche Familien sitzen zum Picknick auf einer grünen Wiese. Schluss.

Diese Pointe ist haarsträubend reaktionär. Man muss die queeren Freaks nur ausradieren, dann ist alles wieder gut.

Das nun leitet zu Social Media über. Auch hier regieren Timelines - bei Facebook, Twitter, Instagram. Algorithmen steuern, was wer zu sehen bekommt und was nicht. In den letzten Jahren und zunehmend seit der Machtübernahme von Elon Musk bei X kippen diese eh mit der Tendenz zur Normalisierung ausgestatteten Kriteriensysteme hin zur Intensivierung der Attacken auf Marginalisierte. Es begann vermutlich mit dem "Gamer Gate (Si apre in una nuova finestra)", als Fans von Computerspielen eine Feministin attackierten. Explosionsartig hat sich dieser Hass nun vermehrt, da er von Algorithmen noch verstärkt wird - weil das, was kontrovers ist und zugleich vielfach geteilt und "geliket" wird, präferieren die Programme. Nunmehr sind genau die Gruppen Ziel von allerlei Attacken (wie sich das anfühlt, dazu hier ein Video (Si apre in una nuova finestra)), die auch in "Umbrella Academy" symbolisch ausradiert werden. Damit die "Normalen" auf der grünen Wiese ihre Sandwiches ungestört verspeisen können. Ob Wirkung oder Ziel: es läuft darauf hinaus, die Erfolge von Emanzipationsbewegungen der 60er Jahre auszulöschen.

 Ganz so, wie "Umbrella Academy" endet. Im Sterben sieht Klaus noch einmal als Erinnerung sich im Vietnamkrieg, als er die intensive Liebesbeziehung mit einem anderen Soldaten lebte - dann stirbt auch diese Erinnerung mit ihm ...

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Argomento Medien

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