Allegro, ma non tanto - Kapitel 19
Hallo ihr Lieben,
schon wieder Freitag, schon wieder fast Wochenende, was sagt man dazu.
Das es ein neues Kapitel gibt, zum Beispiel. Kapitel Nummer 19 und wir nähern uns den 30000 Wörtern, oder wie man im Fachjargon sagt: halbe Buch.
Wer Kapitel verpasst hat, oder gerade erst anfängt, findet die älteren Kapitel hier (Opens in a new window).
Zugriff auf die Audioversion als Podcastfeed (den man dann zB auch direkt auf Spotify hören kann) gibt es hier:
Ganz liebe Grüße und ein schönes Wochenende,
bis nächste Woche
Lukas <3
Ich stehe vor einem mittelgroßen Supermarkt in der Nähe der Innenstadt und warte auf dich. Es ist einer von diesen Edekas mit dem Nachnamen eines Franchisenehmers auf dem großen Schild über dem Eingang. Du hattest die Idee, noch ein paar Sachen für ein ausgiebiges Katerfrühstück und eventuell eine Flasche Wein für später zu holen. Da wir nicht sonderlich oft in dieser Gegend und heute relativ schick angezogen sind, bietet sich die Gelegenheit an, nur wenige der Sachen auch tatsächlich zu bezahlen. Gerade in unserer aktuellen Situation sehr praktisch.
Wenn es nach mir gegangen wäre, hätten wir Kerstin einfach wieder im Robinson’s treffen können, aber sie hat stattdessen eine vor Kurzem neu eröffnete Bar hier um die Ecke vorgeschlagen. Die Aufmachung der Webseite lässt vermuten, dass die Bar in erster Linie existiert, um auszuloten, wie viel man für ein kleines Glas Sekt gerade noch verlangen kann, bevor einem nachts jemand die Fensterscheibe einwirft. Falls Kerstin uns nicht einladen sollte, wird es interessant.
Ich lehne mich an einen Poller und checke auf dem Handy unseren Kontostand. Es ist schon beeindruckend, wie schnell Geld von so einem Konto verschwindet, wenn wirklich gar nichts dazukommt. Anfang des Monats am deutlichsten, wenn etwa Miete und Krankenkassenbeiträge anstehen, aber auch sonst. Ein mit Karte bezahlter Einkauf hier, eine Handyrechnung da, das Geld versickert förmlich. Nach deinem Unfall haben wir beide quasi sofort aufgehört, Bargeld von den Verkäufen auf unser gemeinsames Konto einzuzahlen. Nicht, dass es seitdem sonderlich viele gewesen wären. Wenn man es ein bisschen zu gut kennt, an einem Geldautomaten zu stehen und zu hoffen, dass seit dem letzten Blick aufs Konto nichts dazwischengekommen ist, hat man sein Geld lieber bei sich, wenn es knapp wird.
Instinktiv will ich auch mein eigenes Konto checken, aber es existiert nicht mehr. Vor ein paar Monaten kam ein entsprechender Brief. Die Bank hat den Vertrag gekündigt, weil zu lange weder Geld ein- noch ausgezahlt wurde, und der Dispo ausgereizt war. Auf meinen genervten Anruf wurde gelassen reagiert, es stünde alles in den Vertragsunterlagen, schönen Dank auch. Man fragt sich wirklich, ob die Leute nichts Besseres zu tun haben, als irgendwelchen Leuten mit -100 Euro auf dem Konto auf die Nerven zu gehen. Aber was soll’s, ein gemeinsames Konto tut es ja auch.
Du kommst mit einem breiten Grinsen aus dem Supermarkt, die Aktion war allem Anschein nach also erfolgreich. Ich nehme deinen Rucksack und packe ihn in meinen Fahrradkorb, dann schieben wir die Fahrräder in Richtung Bar. Da wir nicht genau wussten, wie lange die Fahrt und der Supermarktbesuch dauern würden, sind wir eine halbe Stunde zu früh an der Bar. Wir schließen unsere Fahrräder gegenüber an einen kränklichen Baum, der dem Aussehen nach zu urteilen, noch nicht lange hier steht und auch nicht mehr lange hier stehen wird. Die ganze Straße hat den typischen Look von gerade abgeschlossenen Bauarbeiten. Die Platten des neuen Bürgersteigs sind von den Arbeiten noch dreckig. Alles sieht hier zwar neu, aber trotzdem schon trostlos aus. Vor der Bar stehen zwei kleine Tische, die zusammengeschoben wurden und von einer Gruppe Menschen verschiedenen Alters belegt sind. Vermutlich sind sie direkt aus einem der umliegenden Büros hier hergekommen, jedenfalls sieht die gesamte Szene aus wie ein Prospekt einer aufstrebenden jungen Firma. Die Bar selbst kommt wie jede neu eröffnete hippe Bar daher. Große Glasfenster, hässliche Lampen, unverputzte Wände, der Tresen ist aus Edelstahl. Nur die leeren Weinflaschen als Kerzenständer wirken etwas aus der Zeit gefallen.
Im Inneren der Bar sind so früh am Abend noch fast alle Tische frei.
"Sollen wir drinnen warten?", fragst du.
"Können wir machen", sage ich, "oder wir gehen noch 'ne Runde."
"Dann lieber das", sagst du.
"Okay", sage ich.
Du holst zwei kleine Flaschen Sekt aus dem Rucksack und gibst sie mir.
"Halt mal!", sagst du, dann verschwindest du mit dem Rucksack in der Bar. Du redest kurz mit der Bedienung und nach einer kurzen Erklärung deinerseits nimmt sie dir den Rucksack ab und verstaut ihn irgendwo in einem Hinterzimmer. Ihr redet noch kurz, lacht, dann bist du schon wieder draußen. Als jemand, der tendenziell nur so viel wie nötig mit Fremden spricht, bin ich immer noch manchmal erstaunt darüber, mit welcher Leichtigkeit es anderen Menschen von der Hand geht. Dass wir den Rucksack nicht mit uns rumtragen müssen, ist natürlich auch nicht schlecht. Ich gebe dir eine der kleinen Sektflaschen zurück, du hakst dich bei mir ein und wir spazieren eine Weile durch das angrenzende Wohnviertel.
Es fühlt sich nach der letzten Zeit angenehm normal an, einfach mal einen Abend auszugehen, wie es vermutlich Millionen andere Menschen auch tun. Obwohl ich es nicht unbedingt vermisst habe, freue ich mich sogar darauf, mal wieder so zu tun, als würde man dazugehören. Als wäre man einfach nur ein weiteres Pärchen um die dreißig, das nach acht Stunden sinnbefreiter Büroarbeit noch auf ein paar Drinks geht. Auch oder gerade weil es nur dazu führen wird, dass man sich danach wieder sicherer ist, genau darauf keine Lust zu haben. Finanziell wäre es momentan auf jeden Fall der aussichtsreichere, gefestigtere Lebensentwurf. Gefestigt, so wirken auch die Leute, denen wir auf unserem Spaziergang begegnen. Die meisten sind mit ihren Hunden draußen, tragen Einkäufe oder Aktentaschen durch die Gegend. Wirklich glücklich wirkt niemand, wirklich unglücklich auch nicht. Wenn man einen Stempel auf das gesamte Viertel drücken müsste, stünde auf diesem Stempel "gut genug".
Als wir, immer noch zehn Minuten zu früh, zur Bar zurückkommen, ist Kerstin schon da. Sie sitzt allein an einem der Tische direkt am Fenster und sieht neben der großen Glasscheibe etwas verloren aus. Sie schaut sich die in einem Holzscheit steckende Getränkekarte an, dann sieht sie uns und winkt. Ihr Gesicht hellt auf und zur Begrüßung umarmt sie uns. Mir fällt auf, wie sehr sie sich zu freuen scheint, uns zu sehen. Andererseits hätte sie sonst auch nicht zugesagt, da sie im Gegensatz zu uns vermutlich kein größeres Ziel mit dem Treffen verfolgt. Du setzt dich neben Kerstin, ich setze mich gegenüber von euch beiden. Du bestellst ein Bier, ich eine Weißweinschorle, und Kerstin einen Gin Tonic und je eine Portion Brot und Oliven.
Das Gespräch will nicht richtig in Gang kommen. An dem Abend im Robinson’s nach dem Naumann-Auftritt, war sie von Anfang an relativ betrunken gewesen und die Tatsache, dass wir uns gar nicht kennen, wurde vom Alkohol übertüncht. Umso deutlicher ist es jetzt. Es gibt nicht mal etwas Bestimmtes, wonach man die andere Person fragen könnte. Von deinem Unfall hat Kerstin erfahren, und direkt mit der Begrüßung schon ihr Mitgefühl ausgedrückt. Für die Stimmung nicht unbedingt zuträglich, gerade heute Abend wärst du vermutlich gut ohne Erinnerung daran ausgekommen. Gleichzeitig fällt deshalb die Frage, wie es mit unseren Auftritten läuft, flach. Und mehr weiß Kerstin noch nicht über uns. Also werfen wir uns unbeholfen ein paar Gesprächseröffnungen hin und her, die nicht so richtig haften bleiben wollen.
Bevor es zu unangenehm wird, kommt glücklicherweise unsere Bestellung. Die Oliven und das Brot sind hervorragend, ein Blick auf die Karte bestätigt mir, dass alles andere eine Frechheit gewesen wäre. Durch die Snacks haben wir in den Gesprächspausen jetzt etwas zu tun und die Anspannung lockert sich etwas. Mit einer Olive im Mund schweigt man sich nicht an, sondern man isst eben gerade eine Olive. Spätestens als sich ein paar Tische weiter zwei Männer einfinden, die sofort anfangen, sich extrem laut zu unterhalten, haben wir den etwas holperigen Start überstanden. Die Männer reden über eine Serie, es wird aus dem Gespräch nicht ersichtlich, ob einer, beide oder keiner der beiden sie überhaupt gesehen hat. Wir schauen uns an und verdrehen die Augen. Die schamlose Unfähigkeit einer bestimmen Sorte Menschen, einen Raum zu spüren, hat in dem Fall ausnahmsweise mal einen positiven Aspekt. Es nervt trotzdem.
Kerstin trinkt ihren Gin Tonic schnell und bestellt einen Zweiten. Wenn wir befreundet wären, würden wir uns vielleicht Sorgen um ihre Verfassung machen. Ich versuche, das bisschen Mitleid, das aufzukommen versucht, gar nicht erst zuzulassen. Was geht es uns an, wenn eine verzogene zukünftige Erbin traurig ist? Für unsere Zwecke ist es, wenn überhaupt, förderlich. Kerstin will rauchen und bietet uns auch eine an. Die Gruppe von draußen hat mittlerweile gezahlt und ist verschwunden, wir ziehen also kurzerhand komplett an einen der Außentische. Mitte des zweiten Gin Tonic ist Kerstin wieder ganz die Alte und ich überlasse es dir, an den richtigen Stellen nachzuhaken, die richtigen Fragen zu stellen, um langsam aber sicher, Stück für Stück, das Gespräch in Richtung Familie Naumann zu lenken. Ich nehme mir noch eine Zigarette aus der Schachtel und lehne mich zurück. Du bist fast schon unverschämt gut darin. Man merkt es, obwohl Kerstin wirklich nicht schwer zu knacken ist.
Einmal in Schwung gekommen, redet sie viel und gerne. Ohne, dass wir uns abgesprochen hätten, teilen wir uns die Arbeit auf. Du lenkst das Gespräch und sorgst für die Informationen, ich höre zu. Als würde ich am Fließband stehen, schaue ich mir jeden noch so beiläufig fallen gelassenen Informationsschnipsel an und entscheide, ob er sich zu merken lohnt. Vieles ist unbrauchbar, Klatsch und Tratsch über hunderte Menschen, von denen ich noch nie gehört habe, von denen Kerstin aber so spricht, als wären sie universell bekannt. Vieles davon könnte mir egaler nicht sein, aber wirkt, als wäre es ihr im Vertrauen erzählt worden. Ein gutes Zeichen. Ich mache mir zur Sicherheit eine mentale Notiz, Kerstin nie etwas anzuvertrauen, nicht, dass ich das vorgehabt hätte. Aber zwischen den endlosen nutzlosen Geschichten, blitzen immer mal wieder kleine, potenziell hilfreiche Informationen auf. Ein brodelnder Streit zwischen Schwester und Mutter, der Preis der Rassehündin mit Papieren, eine Affäre des Vaters, ein gefeuertes Kindermädchen, anhaltende Konflikte mit anderen Familien, teilweise jahrzehntealt. Schwer einzuschätzen, ob uns irgendwas davon weiterhelfen wird, aber gut zu wissen. Alles sehr gut zu wissen.
Nach insgesamt vier Gin Tonic, einem Bier und zwei Schnäpsen, werden die Geschichten von Kerstin langsam zu wirr, um noch irgendwas darauf zu geben. Kerstin gähnt. Sie hat fast drei Stunden am Stück geredet. Du sagst, dass wir morgen früh rausmüssen. Ich nicke. Kerstin schaut kurz etwas enttäuscht, muss dann wieder gähnen, lacht dann und sagt: "Ja, vermutlich sollte ich auch einfach ins Bett gehen."
"Wie machen wir das mit der Rechnung?", fragst du.
"Ich lad’ euch ein", sagt Kerstin und eine mittelgroße Sorge löst sich in Luft auf.
"Wie nett", sage ich, "vielen Dank!"
"Na klar", sagt Kerstin, "es ist immer so schön mit euch. Bald wieder?"
"Bald wieder!", sagen wir quasi gleichzeitig. Dann verabschieden wir uns und gehen zu unseren Fahrrädern.
"Scheiße, der Rucksack", sagst du nach circa fünf Minuten, die wir die Stille genießend nebeneinander hergefahren sind. Also drehen wir noch mal um und fahren zurück.
Kerstin ist immer noch da, sitzt aber mittlerweile bei den beiden Männern mit am Tisch, die davon nicht gerade begeistert sind und einander hilflos anschauen. Kerstin versucht den beiden einen Witz zu erzählen, verheddert sich aber schon beim ersten Satz mehrmals, was ich als eine gerechte Strafe für die beiden empfinde. Sie bemerkt uns gar nicht, also lassen wir uns den Rucksack geben und machen uns endgültig auf den Heimweg.