Geliebter Bruder Thanatos
Wie meine Depression meine lebenslange Freundschaft mit dem Tod verändert hat, und eine Liebeserklärung an das Unausweichliche.
Es war für mich immer klar, dass ich diese Welt irgendwann auf meinen eigenen Wunsch verlasse.
Und wenn dieser Satz beim Lesen erschreckt, sind wir schon beim Kern des Problems. In westlichen Wohlstandsländern gibt es keine Sterbenskultur (Opens in a new window), also keine allgemeine Akzeptanz von etwas, das man wegen seiner Unvermeidbarkeit akzeptieren muss. Alles ist auf Festhalten ausgelegt, auf Nicht-Vergessen, auf Verhandlung.
Der Tod ist vielleicht eines der letzten Tabus in christlich geprägten, medizinisch und wirtschaftlich “fortschrittlichen” Regionen. Zum Einen liegt der Grund dafür natürlich in der jahrhundertelangen monotheistischen Prägung. Der Mensch wurde nach dem Abbild einer göttlichen Entität geschaffen und steht daher über allem. Mit der Haltung habe ich nicht nur als Atheistin ein Problem, sondern auch als Biologin. Für mich ist der Mensch ein Säugetier, ein physischer Organismus, dessen Existenz ähnlichen Regeln folgt wie die aller anderen physischen Organismen.
Unser Leben und unsere Körper sind genauso endlich wie die aller Tiere. Menschen sterben genauso “vor ihrer Zeit”, wie es so schön heißt, wie alle anderen Tiere. Und ich finde daran nicht grundsätzlich etwas Schlimmes. Menschen werden geboren, Menschen sterben, das ist der Kreislauf des Lebens und ich finde diesen Kreislauf beruhigend und wunderschön. Energieerhaltungssatz in Reinkultur.
Ich habe von der väterlichen Seite Krebs und von der mütterlichen einen anderen Krebs und Alzheimer in die Wiege gelegt bekommen, ich rauche, trinke Alkohol und habe seit meiner frühen Pubertät Depressionen. Ich gebe mich nicht der Illusion hin, mit 92 kerngesund im Schlaf zu sterben. Weder habe ich Angst, an Krebs zu erkranken, noch versuche ich verzweifelt, an meiner Gesundheit oder meinem Leben festzuhalten. Ich bin 50 Jahre alt und wenn ich in fünf Jahren eine Krebsdiagnose bekomme, ist das eben so.
In mir sträubt sich alles, wenn in meinen bevorzugten Nachrichtenmedien Artikel darüber erscheinen, wie diese oder jene Lebensweise, diese oder jene Ernährung uns x Jahre Lebenserwartung kostet. Denn jeder dieser Artikel impliziert, dass das Unausweichliche verhandelbar ist, wenn man nur seinen Lebensstil anpasst. Doch das ist nicht wahr. Nicht für mich mit meinen krebsverseuchten Genen, sondern auch nicht für jeden anderen Menschen. Der medizinische Fortschritt treibt uns immer weiter fort von einer gesunden Sterbekultur, die uns Loslassen und Heilung ermöglicht.
Mein Vater starb 2009 an Lungenkrebs und ich habe ihm seine letzte Morphiumspritze gesetzt. Alles korrekt nach ärztlicher Dosierung, keine aktive Sterbehilfe, aber hätte mein Vater mich um diese gebeten, hätte ich sie ihm vermutlich bewilligt. Der Tod meines Vaters war zu dem Zeitpunkt mein worst case scenario, mein Vater war Zeit meines Lebens meine einzige Identifikationsfigur, nicht nur in meiner Familie, sondern in der Welt, und auch wenn unsere große charakterliche Ähnlichkeit zu einer Art Hassliebe führte, war kein Mensch so bedeutsam bei meiner eigenen Identitätsfindung wie mein Vater. Die Nachricht von seinem bevorstehenden Tod traf mich wie ein Keulenschlag. Von jetzt auf gleich verwandelte sich mein Leben in einen Albtraum, kein Idee von Verlust hat mich so erschüttert wie die vom Verlust meines Vaters. Am 24. November 2009 tat er seinen letzten Atemzug, eine Träne rollte dabei aus seinem Augenwinkel und mein Selbstverständnis lag in Fetzen. Er war 62 Jahre alt. Mein Vater starb “vor seiner Zeit”.
Und obwohl das bis dahin das schlimmste Ereignis in meinem Leben war, gab es einen Teil von mir, der wusste, dass es vollkommen normal ist, dass jemand mit 62 stirbt. So verloren ich mich nach seinem Tod auch fühlte, so gab es in mir immer die absolute Gewissheit, dass sein Tod okay war. Ich habe gekämpft, musste unter Qualen einen neuen Platz in meiner nun nur noch dreiköpfigen Kernfamilie finden und dabei meine noch frische Beziehung jonglieren. Aber nie, nicht eine Sekunde, habe ich darüber nachgedacht, an die Krebsforschung zu spenden, damit anderen mein Verlust erspart wird.
Wir sterben. Alle. Ohne Ausnahme. Und die wenigsten von uns werden es gesund und im Schlaf tun. Eine ausbleibende Auseinandersetzung mit dem Tod führt nur dazu, dass wir in der Stunde Null so brachial und gnadenlos überrascht werden, wie ich, als ich nur eine Woche vor dem Tod meines Vaters von seiner Diagnose erfuhr, die er schon viel länger hatte.
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