Benoît Sokal: Ein schöner Geist
Obwohl er bereits 2021 starb, erfuhr ich erst gestern vom Tod eines der größten Geschichtenerzählers aller Zeiten - Ein Nachruf mit gebrochenem Herzen
Lieber Benoît,
Du hast im Leben Geschichten erzählt, deshalb möchte Dir auch eine Geschichte erzählen. Die Geschichte eines Mädchens, das mit Eintritt in die Pubertät alles verlor, was ihm zuvor Halt und Geborgenheit in dieser schönen und schrecklichen Welt gegeben hatte. Die Gründe dafür sollen hier keine Rolle spielen, aber das Mädchen war vollkommen verloren, einsam im Innen und im Außen, verwirrt und verletzt davon, wie ihm diese Welt begegnete. Obwohl es in dem aufwuchs, das man intakte Familie nennt, hatte es keine Bezugsperson. Da war niemand.
Das Mädchen spürte viele Jahre eine große Todessehnsucht und erschuf sich eine Ersatzfamilie in Büchern und Filmen und manchmal auch der eigenen Phantasie. Es umgab sich mit Geschichten, in denen es sich selbst fand. Geschichten, die es hielten und den Schmerz der Einsamkeit linderten. Schöne Geschichten waren das fast nie, eher düstere, in denen es um Verlust, Trauer und die Verzweiflung, am Leben zu sein, ging. Aber gerade an diesen Orten fühlte das Mädchen sich verstanden.
Eines Tages kaufte das Mädchen in einer Bahnhofsbuchhandlung ein Comicheft als Geschenk für seinen Bruder. Die Geschichte war zwar düster, aber auch blutig, genau das richtige für ihn. Wenn das Mädchen nur gewusst hätte, was es dort in Händen hielt, bereit, es fortzugeben, weil es nicht mit ihm sprach. Vielleicht hätte das Mädchen sich dann früher gefunden. Aber es war noch zu jung, die Geschichte in dem Comic sprach noch nicht zu ihm. Vielleicht konnte es die Worte auch bloß noch nicht verstehen. Der Name des Comics, Du ahnst es vielleicht schon, war “Der aufrechte Hund”, der erste Band mit Inspector Canardo.
Es dauerte noch ein paar Jahre, bis das Mädchen die Stimme Deiner Geschichten hören und verstehen konnte, aber schließlich erkannte sie den Inspector. Diese krummbeinige Ente mit dem verlotterten Trenchcoat wurde ihr Vater und Mutter, Bruder, Vertrauter, Seelenverwandter, Geliebter. Sie erkannte Inspector Canardo als bitteren Zyniker, unter dessen harter Schale sich tiefe Empfindungen und ein gutes Herz verbargen. Den seine Fälle immer wieder in die hoffnungslosesten Ecken der Gesellschaft führten und der sich nie leisten konnte, sich irgendwelchen Illusionen über diese Gesellschaft hinzugeben. Ein Einzelgänger, der immer zwischen Erbärmlichkeit und Coolness taumelte, der Schmerz weder auswich noch ihn suchte, weil das zum Leben dazugehört. Inspector Canardo, der vielleicht der Hoffnungsloseste von allen Deinen Figuren war, der seine Fälle mit routinierter Präzision löste, Lügen, Korruption, Mord aufklärte, dabei aber nie auch nur eine Sekunde glaubte, die Welt zu einem besseren Ort zu machen.
Als ich, denn natürlich bin ich das Mädchen in dieser Geschichte, begann, Canardo zu verstehen, ihn in seiner ganzen in sich gebrochenen, poetischen Strahlkraft wirklich erfasste, da gab es bereits zehn Bände und ich hatte erst einmal genug Stoff, um ganz in Deine und seine Welt einzutauchen. Danach schaute ich anfangs noch regelmäßig nach neuen Bänden, aber Du arbeitetest langsam. Ließest jeder Geschichte die Zeit, die sie brauchte. Die Abstände, in denen ich nach neuen Geschichten suchte, wurden größer, aus meiner Ungeduld wurde Gelassenheit. Die Gelassenheit, dass wann auch immer Du etwas Neues herausbringen würdest, es das Warten wert sei. Denn man konnte das in jeder Zeichnung und in jedem Wort sehen: wie lange sie gereift sind. Wie organisch sich alles zusammenfügte. Wie kugelrund die Erzählungen stets in sich waren.
Aber der langwierige Reifungsprozess war nicht der einzige Grund, weshalb ich oft mehrere Jahre auf einen neuen Canardo-Comic warten musste, nicht wahr? Du hast früh verstanden, dass Computerspiele Dir eine ganz neue Möglichkeit zum Geschichtenerzählen boten. Und Du hast diese Möglichkeit mit Hilfe der Entwicklerfirma Microids und später Deiner eigenen White Bird Productions voll ausgeschöpft.
Sowohl in Amerzone, einer realistischen Adaption des fünften Canardo-Bandes “Weiße Vögel sterben leise”, als auch in Syberia hast Du Welten erschaffen, die mich in sich hineingezogen haben, wie ich es es bei keinem anderen Entwickler je erlebt habe. Du hast in Amerzone zwar weitgehend auf den düster-politischen Hintergrund des Comics verzichtet, aber das führte keineswegs zu Einbußen. Im Gegenteil: Ich glaube, die Fokussierung der Geschichte schuf genau den Freiraum, die unglaubliche Flora und Fauna von Amerzonien erfinden zu können, über die wir so viel in dem Almanach erfahren durften. Mit Syberia hingegen schöpftest Du eine ganz neue Geschichte, mit neuen Orten, neuen Charakteren, neuen Freunden und Feinden. Obwohl die Erzählung um den greisen Automatenbauer Hans Voralberg, den seine raffgierigen Verwandten mit Hilfe der Anwältin Kate Walker entmündigen lassen wollen, um sich seine Automatenfabrik anzueignen, von Steampunk-Elementen nur so wimmelt, war es kein Steampunk-Spiel, sondern ein Spiel über Gefühle. Wir mussten Räderwerke aufziehen, komplizierte Mechanismen reparieren und uns selbst den Zugführerautomaten Oskar montieren, um Hans mit dem Zug nach Syberien folgen zu können, wo er seinem Kindheitstraum nachjagte: Der Entdeckung der letzten Mammuts der Welt. Und auf der Reise merken wir - als Kate Walker -, dass wir sprichwörtlich im falschen Zug sitzen. Unnötig zu erwähnen, dass ich alles von Dir besitze, auch die Comics und Graphic Novels, die Du abseits von Inspector Canardo erschaffen hast, auch die anderen Spiele Paradise und Sinking Island.
In Deinen klassischen Point&Click-Adventures vereinigen sich immer die Faszination für Technik und die Liebe zur Natur. Und den handelnden Figuren. Ja, ich glaube, Du hast Deine eigenen Figuren geliebt, anders ist es nicht möglich, sie so behutsam und eindringlich zu zeichnen. Dass alle Spiele handgezeichnete Hintergründe hatten, Dein Pinselstrich immer und überall spürbar war, war Ausdruck Deiner Achtung vor Deinen Figuren und ihren Erfahrungen. Und es hat mich glücklich gemacht, so glücklich.
Was Du erschaffen hast, hat mich so glücklich gemacht, dass ich Dir vor über zehn Jahren, als ich Dich bei Facebook entdeckte, schrieb, was mir Deine Arbeit bedeutet. Als Du mir kurz und knapp “Thank you” antwortetest, beschloss ich, mein Postfach nie wieder zu waschen.
Nach den beiden Teilen von Syberia und weiteren Bänden um Inspector Canardo wurde es etwas stiller. Viele Male habe ich in den letzten Jahren nachgeschaut, ob es einen neuen Comic oder den lange angekündigten dritten Teil von Syberia gäbe. Aber es dauerte. Dauerte und dauerte. Der dritte Teil kam, war aber so teuer, dass ich mir nicht leisten konnte, ihn sofort zu kaufen. Aber ich hatte so lange darauf gewartet, dass es mir nichts ausmachte, noch etwas länger zu warten, bis der Preis in meine Reichweite kam. Vor ein paar Wochen war das der Fall. Ich habe das Spiel noch nicht durchgespielt, die Steuerung ist weniger intuitiv als bei den früheren Spielen, aber Deine Liebe zu Deinen handelnden Figuren scheint ungebrochen, so viel kann ich sagen.
Gestern kommentierte ich bei Instagram unter dem Photo eines Nutzers, die Komposition sähe aus wie das Cover eines Comics von Dir. Ich wusste, dass Dein Name irgendwo einen Accent hat, aber nicht mehr, wo. Ich schaute schnell nach und die ersten Suchergebnisse erreichten mein Gehirn gar nicht.
“Benoît Sokal tot”, stand da und das durchdrang mich nicht. Es war nur ein Sekundenbruchteil der Verweigerung, der Leugnung dessen, was da in mehreren Artikelüberschriften stand. Dass Du bereits im Mai 2021 nach langer, schwerer Krankheit gestorben bist. Und dann hakte etwas aus in mir. Ich sagte laut “Nein!”, ich rief es, immer wieder, immer lauter, und die Klarheit des Wortes wurde durch Schluchzen verwischt, das aus mir herauswollte und zwei Stunden lang nicht aufhören wollte.
Du, lieber Benoît, hast mir ein Zuhause geschaffen mit Deinem schönen Geist. Einen Hafen, in dem ich mich immer verstanden fühle. Worte können den Schmerz nicht beschreiben, den ich gerade fühle. Kein Canardo mehr. Keine neuen Spielwelten mehr. Kein Zuhause mehr und kein Hafen. Ich bin wieder das Mädchen von damals, das so allein, so ohne jeden Trost war, bis es Dich fand. Wie soll dieses Mädchen, wie sollen all die Menschen, denen es so geht wie mir, in einer Welt ohne Dich leben, wie? Wie konntest Du mich anleinlassen?
Und obwohl ich Wut auf Dich spüre, obwohl ich Dir ganz klischeehaft mit meinen Fäusten gegen die Brust trommeln will, weil Du mich alleingelassen hast, hoffe ich doch, dass Dein letzter Weg nicht so quälend war, wie sich “lange, schwere Krankheit” anhört. Ich wünsche Dir, dass Du jetzt frei bist von allen Sorgen und allem Schmerz.
Mein Herz ist gebrochen. Und Du nimmst ein Stück von mir mit Dir, mein Freund. Thank you.
(Bilder in Teaser und Text stammen aus dem dritten Band der Canardo-Reihe: “Ein schöner Tod”, Edition ComicArt Carlsen Verlag.)
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