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Selbst im Tod noch leben müssen

Unsere Sterbekultur ist eine Kultur des Festhaltens an Gefühlen und Erinnerungen. Sie akzeptiert nicht, dass jemand weg ist. Warum nicht mal loslassen?

Da ich in den letzten Monaten vor den Augen aller, die mir folgen, durch zwei sehr harte depressive Episoden gegangen bin, mag es den Einen oder die Andere besorgen, dass mein erster Text nach dieser schwierigen Zeit sich mit dem Tod befasst. Deshalb hier eine Entwarnung: Es geht mir deutlich besser (dass ich wieder schreibe, mag als Beweis herhalten), dieser Artikel ist keine düstere Vorausschau (oder gar Ankündigung) meines eigenen Todes, die Dinge sind so gut, wie sie es im Moment sein können. Es handelt sich nur um allgemeine Gedanken zur Sterbekultur, die ich mir in guten ebenso wie ich schlechten Zeiten immer mal wieder mache.

Diese Woche stolperte ich über einen Text im SZ Magazin (Opens in a new window), in dem eine Frau, eine trauernde Tochter, ihre Gedanken und Gefühle über den Tod ihres Vaters mit der Welt teilte. Der Text berührte mich, denn vieles an ihm erinnerte mich an den Tod meines eigenen Vaters: das Alter unserer Väter bei ihrem Tod, unser Alter als Töchter, die Todesursache Krebs und auch das Gefühl, bedeutungsvolle Momente mit dem Sterbenden für immer festhalten zu wollen.

Als mein Vater im November 2009 nach kurzer, schwerer Krankheit, wie man so schön sagt, seinem Lungenkrebs erlag, versuchte ich, meine Eindrücke in der letzten Woche vor seinem Tod irgendwie zu konservieren. Die Geräusche, Gerüche, die gesprochenen und die ungesprochenen Worte, die Gefühle. Gut zwei Jahre nach seinem Tod begann ich, Texte zu schreiben (Opens in a new window), die die letzten sieben Tage mit meinem Vater gewissermaßen runterzählten und mit dem Moment enden sollten, in dem sein Herz endlich aufhörte zu schlagen. Über mehrere Monate hielt ich die kostbaren und schrecklichen Momente fest, bis etwas Sonderbares passierte: Ich hatte keine Lust mehr, über meinen Vater zu schreiben.

Ich war nicht mehr traurig darüber, dass er nicht mehr lebte. Ich hatte keinen Schmerz mehr in mir. Ich war über seinen Tod hinweggekommen. Als meine Mutter, die zwischenzeitlich auch an Krebs erkrankt war, meinem Bruder und meinem Bruder und mir mitteilte, dass sie eigentlich nicht mehr wie ursprünglich geplant neben meinem Vater begraben werden wollte, war das für ihn ein Thema, für mich nicht.

Weiterleben, nicht vergessen

Erst nach und nach wurde mir klar, dass die unausgesprochene Prämisse westlicher Sterbekultur ironischerweise das Weiterleben der verstorbenen Person ist. Alles an Trauer ist darauf ausgerichtet, eine Leiche festzuhalten. Etwas soll lebendig bleiben, wir hängen Bilder der Verstorbenen auf, besuchen regelmäßig ihre Gräber, widmen ihnen Bücher, Dankesreden oder den Namen unseres Erstgeborenen. Wir führen unser Leben im Schatten eines Phantoms. Und dieses Phantom, ein Erinnerungsphantom, verhindert das Vergessen.

Eine tote Person wirklich loszulassen, im Frieden mit ihrer Nichtexistenz zu sein - das gestatten wir nur, wenn die tote Person ein Arschloch war. Wenn es Streit gab, Misshandlung oder andere Ungerechtigkeiten. Dann ist es in Ordnung, die innere Erinnerungsbrücke komplett abzubrechen. Wenn das Verhältnis gut oder auch nur normal durchwachsen war, sind Vergessen und Loslassen nicht vorgesehen.

Es liegt darin auch eine eigenartige Verleugnung der Realität. Natürlich wissen die meisten Menschen, dass eine Person nach ihrem Tod nicht mehr physisch da ist, aber die ultimative Akzeptanz, das Loslassen, vermeiden sie. Und verweigern sich damit dem Annehmen des Todes. Einer der abgedroschensten Sprüche über Trauer lautet "Es hört nie auf wehzutun, man lernt nur, mit dem Schmerz umzugehen", und ich glaube, dieses Nichtverheilen ist das Resultat einer Trauerkultur, die uns nicht heilen lässt. Die von uns erwartet, dass wir für immer eine emotionale Verbindung zu einer verstorbenen Person behalten.

Warum "hört es nie auf wehzutun"? Warum können wir nur "lernen, mit dem Schmerz umzugehen"? Warum kann, darf, soll der Schmerz nicht aufhören?

Was ist Trauer?

Trauer ist zunächst ein nicht an Kultur gebundenes Gefühl. Verhalten, das man als Trauer deuten kann, findet sich bei vielen, vor allem intelligenten Arten, die soziale Bindungen eingehen. Totenwachen kennt man von Gorillas (Opens in a new window) und Elefanten, die ein verstorbenes Gruppenmitglied über längere Zeit immer wieder besuchen und bewachen. Verstorbene Jungtiere werden, zum Beispiel bei vielen Walen und Primaten, von ihren Müttern noch eine Weile herumgetragen, bevor sie schließlich zurückgelassen werden. Und Haustiere reagieren oft depressiv, wenn ein Familienmitglied, mag es menschlich oder tierisch sein, stirbt. Meine eigene Katze schreckte nach dem Tod meines Katers monatelang auffallend häufig aus Albträumen auf, verlor Gewicht und forderte extrem viel Aufmerksamkeit von mir ein. Wo also Lebewesen Gefühle zu einem anderen Individuum empfinden können, da ist auch emotionaler Stress, wenn dieses Individuum stirbt.

Bei uns Menschen ist Trauer aufgrund unserer Intelligenz komplexer.

Wenn wir sagen, wir weinen um die Toten, wir betrauern ihr Schicksal, dann klingt das selbstloser als Trauer ist. Denn menschliche Trauer ist ein sehr ich-bezogenes Gefühl, unsere eigenen Bedürfnisse und ihre (zukünftige) Nichterfüllung sind das Wesen von Trauer.

Dabei geht es vor allem um Verlust. Vordergründig natürlich um den Verlust einer Verbindung, die uns viel bedeutet hat und auf die wir nun verzichten müssen. Alles, was wir an einem Kontakt geschätzt haben, fällt nun weg, unser emotionales Bedürfnis, das dieser Kontakt erfüllt hat, wird von nun an unerfüllt bleiben. Wir empfinden Leere.

Doch dahinter steht ein Verlust, der viel schrecklicher ist als alles andere: der Verlust von Kontrolle. Aus meiner Erfahrung heraus würde ich so weit gehen zu sagen, dass nichts Menschen so sehr an den Rand zivilisatorischer Errungenschaften bringt wie Kontrollverlust und Ohnmachtsgefühle. So grauenvoll ist dieses Gefühl, dass Menschen sogar töten, um ihm zu entgehen.

Der Tod einer nahestehenden Person katapultiert uns hinein in eine säuglingsähnliche Ohnmacht. Egal, wie sehr wir strampeln und schreien: Nichts kann das schreckliche Ereignis und den Verlustschmerz beseitigen. In diesem Punkt ähnelt Trauer dem Liebeskummer. Wenn eine andere Person unsere Gefühle nicht (mehr) erwidert, dann ist uns jede Kontrolle genommen, die Situation zu beeinflussen. Das ist für die meisten Menschen nur sehr schwer auszuhalten. Und so kämpfen sie innerlich gegen den Kontrollverlust, sie leisten emotionale Gegenwehr, um nicht akzeptieren zu müssen, dass sie hilflos sind.

Unsere Trauerkultur mit ihrem Festhalten an Erinnerungen ist (auch) Ausdruck dieser inneren Gegenwehr.

Kulturelle Altlasten

Was unsere menschliche Trauer so vielschichtig macht, ist neben unserem komplexeren Gehirn auch der Umstand, dass wir in einer selbstgeschaffenen Kultur leben, die auf uns zurückwirkt.

Da ist zum Einen das Leben in der patriarchalen Kernfamilie.
Solange die Menschen noch nomadisch lebten, gab es weder Privathaushalt noch Kernfamilie. Alle waren Teil eines Kollektivs, in dem alle einander gleichermaßen brauchen. Schutz, Erziehung und Ausbildung der Kinder war die Aufgabe aller, wodurch ein Netzwerk aus verlässlichen Bezugspersonen entstand.

Mit der Entstehung des Privathaushaltes schrumpfte die Welt der Kinder und mit ihr auch die Anzahl der Bezugspersonen extrem zusammen. Statt auf die gesamte Gruppe fokussierten sich menschliche Gefühle nur noch auf die im gleichen Haushalt lebenden Blutsverwandten. Der Einfluss der Eltern auf die Kinder dürfte dadurch ebenso zugenommen haben wie die Stärke und Tiefe der emotionalen Bindung.

Wenn aber die emotionale Welt der Menschen statt einer größeren, durch ein Wir-Gefühl zusammengehaltenen Gruppe nur noch wenig Menschen umfasst, wird der Verlust eines dieser Menschen als viel traumatischer und bedrohlicher wahrgenommen. Damit entsteht überhaupt erst die Grundlage einer Trauerkultur, die das Wegsein eines Menschen nicht akzeptieren kann (und will). Dass mit der Kernfamilie auch eine generationenübergreifende Verbindung und Verpflichtung einhergeht, wir also auch als Erwachsene noch Kontakt zu unseren Eltern haben, kommt verstärkend hinzu.

Auf die patriarchale Kernfamilie sattelt direkt die Religion auf. Vor allem die Monotheismen zeichnen sich durch sehr ausgeprägte Jenseitsvorstellungen aus und suggerieren damit, dass eine verstorbene Person in Wirklichkeit gar nicht ganz weg ist. Das nordische Walhalla ist eine Art Ruhmeshalle für im Kampf gefallene Männer, das Nirwana in Buddhismus und Hinduismus ist gleichermaßen das Ende allen physischen Seins wie auch ein temporärer Zwischenstopp zwischen zwei Inkarnationen.

Im Gegensatz dazu wirken monotheistische Jenseitsvorstellungen sehr konkret Man kann sich einen Ort vorstellen, an dem es der verstorbenen Person gut geht. Das Jenseits rückt den Menschen in die Nähe der männlichen Entität, die wir Gott nennen. Wenn ein Mensch stirbt, "kommt er in den Himmel", "er sieht von oben alles", "ist er immer bei uns". An die Stelle eines absoluten Vergehens, wie in den asiatischen Religionen, tritt ein lebender Toter, ein Toter, der trotzdem irgendwie weiter existiert, weiter fühlt, uns weiter beobachtet.

Wie soll man denn die Nichtexistenz eines nahestehenden Menschen akzeptieren und alle Gefühle zu ihm überwinden, wenn er auf diese Weise auch nach seinem Tod ständig um uns herumscharwenzelt? Unser Geist akzeptiert den Tod, aber unser Gefühl bleibt lebendig. Es muss ja geradezu lebendig bleiben, wenn man davon ausgeht, dass "etwas" noch in unserer Nähe ist - alles andere wäre ja wie Verrat an der verstorbenen Person.

Darüber hinaus ist der Mensch gottgleich, er wurde von Gott nach seinem Abbild geschaffen. Jeder Mensch, vor allem jeder Mann, trägt demnach etwas Göttliches in sich. Aufzuhören, an den verstorbenen Menschen zu denken, ihn zu lieben, sein Andenken lebendig zu halten, kommt daher einer Abkehr von Gott gleich. Absolut undenkbar in Kulturen, in denen der monotheistische Einfluss jahrhundertelang so groß war wie in der Levante und Europa.

Auch wenn der Einfluss der Religion heute ein anderer ist, haben sich wesentliche Teile unserer Kultur an religiösen Werten, Dogmen und Regeln entlang entwickelt. Diese spiegeln sich bis heute nicht nur in unserem Umgang mit dem Tod, sondern unter anderem auch in der Sexualmoral und der Eheinstitution.

Den Rest der Wegstrecke übernimmt dann eine Welt, die Funktionieren über Fühlen stellt. Vor allem seit der Industrialisierung steht das Funktionieren in einer (kapitalistischen) Arbeitswelt im Vordergrund. Während unsere Empfindungen immer vielschichtiger (und damit störungsanfälliger) wurden, nahm der Druck zu funktionieren zu. Wir hatten kaum Gelegenheit, uns mit diesen Gefühlen auseinanderzusetzen.

Als Soldaten im Ersten Weltkrieg mit dem Kriegszittern ('shellshock') eine neurologische Schutzreaktion auf die schwer traumatisierenden Kriegserlebnisse zeigten, wurden sie zwar in psychiatrische Anstalten gebracht, dort aber nicht etwa tehrapiert oder geheilt, sondern zum Teil durch Konditionierung möglichst schnell wieder einsatzfähig gemacht. Die Lobotomie, das gezielte Durchtrennen von Nervenbahnen im Gehirn durch die Augenhöhle, diente bei einer Vielzahl von psychischen Störungen dazu, die vor allem für Bewusstsein und Reizreaktion verantwortlichen Gehirnareale zu zerstören und Opfer (sic!) so wieder funktionsfähig zu machen. Das sind natürlich besonders extreme Beispiele, aber sie zeigen die Prioritäten eines Systems, in dem Menschen und Menschlichkeit nicht genug Raum bekommen.

Auf unseren Umgang mit dem Tod übertragen bedeutet das, dass wir gar nicht lernen, den Schmerz der ultimativen Todesakzeptanz auszuhalten. Verdrängen ist viel einfacher. Und was hülfe besser beim Verdrängen als sich die Finger in die Ohren zu stecken und laut "Lalala" zu singen? Nichts anderes ist das beinahe zwanghafte Lebendighalten eines Verstorbenen. Wir umgeben uns mit Memorabilien, weil sie uns helfen, die Illusion aufrechtzuerhalten, die verstorbene Person sei nicht ganz weg.

Dieser letzte Punkt - Funktionieren über Fühlen - ändert sich zum Glück ganz langsam. Unser Bewusstsein für psychisches Befinden wächst, psychische Erkrankungen sind heute nicht mehr ganz so stigmatisiert wie früher und Gefühlen wird mehr Raum gegeben. Natürlich ist die "Früher war alles besser"-Fraktion noch sehr lautstark. Wenn heute über die neue Wehleidigkeit und Übersensibilität junger Menschen geklagt wird, dann ist damit nicht weniger gemeint, als dass wir zurückkehren sollen zum reinen Funktionieren. Zähne zusammenbeißen, Arschbacken zusammenkneifen, sich zusammenreißen. Nicht so viel Aufmerksamkeit auf das Fühlen richten. Aber vor allem jüngere Menschen nehmen sich mehr und mehr das Recht heraus, ihre Prioritäten anders zu setzen. Und damit besteht die berechtigte Hoffnung, dass auch ihre Fähigkeit, mit negativen Gefühlen umzugehen, wächst.

Ruhe im Frieden

Mein Vater war vielleicht die wichtigste Person in meinem Leben, sein möglicher Tod über viele Jahre mein ganz persönliches worst case scenario. Viele Eigenschaften, die ich an mir mag, habe ich von ihm, und ich verdanke ihm die schönstmögliche Kindheit. Es ist mir wichtig, das zu betonen, denn ich habe ihn nach seinem Tod nicht deshalb losgelassen, weil wir uns spinnefeind waren oder er mir irgendetwas angetan hätte, das über menschliche Fehler hinausging.

Ich habe ihn losgelassen, um frei zu sein. Frei von dem Gewicht eines Toten, dessen Meinung mich nicht länger beeinflusst. Weder positiv noch negativ. Frei auch von der Macht, die er im Leben über mein Empfinden hatte. Alle Eltern und gegebenenfalls auch Geschwister haben diese Macht über uns - bis in unser Erwachsenenalter hinein. Das ist eben die Nebenwirkung der Kernfamilie. Wir streben danach, von unseren Eltern Anerkennung und Liebe zu bekommen, wir empfinden Geschwister als Konkurrenz, wir richten uns bei der Wahl von Partnerinnen und Partnern nach dem, was wir in unserer Herkunftsfamilie als Liebe kennengelernt haben. Der familiäre Einfluss auf unser Empfinden kann verschiedene Gesichter haben, sowohl bereichernde als auch solche, die uns quälen, aber da ist er immer.

Meinen Vater loszulassen, war keine aktive oder bewusste Entscheidung, es passierte einfach. Vielleicht, weil ich schon immer einen etwas anderen Blick auf den Tod hatte als die anderen Kinder. Als ich merkte, dass ich die Artikelserie über die letzten sieben Tage meines Vaters nicht mehr weiterschreiben wollte, weil ich einfach nicht mehr genug emotionalen Bezug zu seinem Tod hatte, da habe ich ... was empfunden? Scham? Ein schlechtes Gewissen? Ja, ich glaube, irgend so etwas war es. Dass wir aufhören zu lieben und zu leiden, ist nicht vorgesehen.

Es hört nie auf wehzutun, man lernt nur, mit dem Schmerz umzugehen, nicht wahr?

Falsch. Man kann die Toten tot sein lassen, man kann ihre Nichtexistenz akzeptieren, man kann aufhören, Schmerz zu empfinden. Wenn man die ganzen kulturellen Altlasten überwindet und sich selbst das Nichtfühlen erlaubt, dann fühlt sich das ziemlich gut an. Und vor allem ziemlich frei.

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Topic Psychische Gesundheit

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