Doomscrolling: Das Vielfache von Entsetzen
Bei schlimmen globalen Ereignissen suchen wir Informationen und den Trost der Gruppe. Soziale Medien scheinen beides zu bieten und saugen uns so ins Doomscrolling, das uns nur schadet.
(Diesen Text habe ich 2016 nach dem Amoklauf von München geschrieben und nach dem islamistischen Hamas-Angriff auf Israel und den entsetzlichen Bildern, die er mit sich brachte, überarbeitet.)
Seit 2016 haben sich die sozialen Medien sehr verändert, doch eines ist gleich geblieben: bei globalen Katastrophen sind sie der schnellste Kanal für themenzugehörige Inhalte. Wo sonst bekäme man das Video eines Amoklaufs noch während er im Gange ist, auf dem man mit eigenen Augen sehen kann, was, wo und wie passiert? Wo sonst als in der eigenen Timeline findet man auf die Schnelle so viele Menschen, denen man genug Integrität und Charakterstärke zutraut, um in dieser Situation zu wissen, was das Richtige ist? Und bevor man es sich versieht, sitzt man vor dem Rechner, klickt mit klopfendem Herzen fast jeden Link an und hofft, dort entweder Trost oder Informationen zu finden.
Klicken gegen die Ungewissheit
Erschütterung macht uns sehr empfänglich für Geraune. Man weiß, man sollte nichts auf solche Meldungen geben, sollte auf gesicherte Informationen warten und nicht bei jedem schrecklichen Gerücht zusammenzucken. Doch unsere Erschütterung denkt nicht mit dem Kopf, sondern nur mit dem Bauch: “Aber was, wenn ausländischen Medien andere Quellen haben? Augenzeugen vielleicht, die die toten Körper sehen und zählen? Was, wenn die Polizei nur nichts sagen will, weil ‘ein Teil der Antworten die Bürger verunsichern würde’?” Keine intellektuelle Verrenkung ist unserer Erschütterung zu blöd, um ihr Klickverhalten zu rechtfertigen.
Doch Doomscrolling, also das endlose Klicken durch Tweets, Bilder, Videos, Artikel nach einer Katastrophe, ist kein rationales Handeln. Es ist eine Art irrationaler Zwang, um Ängste zu beruhigen, der am Ende eher das Gegenteil bewirkt. Wir haben Angst, sind uns aber nicht sicher, ob wirklich Grund besteht, Angst zu haben, und das ist schlimmer als die Angst selbst. Wir fürchten Meldungen, doch gleichzeitig sehnen wir sie auch herbei, weil sie eine Ungewissheit zu einer Gewissheit macht.
Also klicken wir und lesen und klicken, wir schauen Videos und zwischendurch tauschen wir ein paar wortarme Direktnachrichten (“In Gedanken bei Euch”, “Wie schrecklich!”, “Passt auf Euch auf”), die Hand an der Maus ist klebrig vom Aufregungsschweiß. Die meisten Medien kennen das kleine, schwache, verängstigte Ding in uns, das sich so sehr nach Gewissheit sehnt, gut, und diejenigen unter ihnen, die keinen Anstand haben, müssen es nur abernten (Opens in a new window).
Es fühlt sich an wie eine Sucht, ein Sog, wir wissen, dass es nicht richtig ist, und tun es trotzdem. Irgendjemanden muss es doch geben, der informierter und souveräner ist als wir, der uns eine stabile Erklärung und ein paar beruhigende Worte mitgeben kann. Ein naiver Wunsch, wenn selbst Medienprofis wie der Journalist Richard Gutjahr, der sich gestern zufällig am Ort des Amoklaufs aufhielt, Fotos des noch laufenden Polizeieinsatzes twittern. Gutjahr entschuldigte sich zwar noch in der Nacht und löschte die Bilder, doch sein unüberlegter Schnellschuss offenbarte auch seinen emotionalen Ausnahmezustand. Bei Twitter, wo viele Menschen “privat” sind, also nicht in ihrer beruflichen Funktion twittern, verschwimmen die Grenzen zwischen einer Institution und dem Einzelmenschen, der sich genauso anstecken lässt wie alle.
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