Wie autoritäre Tendenzen in Deutschland der AfD in die Hände spielen

Guten Morgen,
ja, die Überschrift des heutigen Newsletters gibt Anlass zur Sorge. Und kein Mensch hat mehr Lust, sich Sorgen zu machen. Das machen wir ja schon den ganzen Tag um die ganze Weltlage.
Und wir haben auch keine Freude an Schwarzmalerei.
Aber es gibt Tendenzen in Deutschland - und insbesondere im Koalitionsvertrag - die einem autoritären Staat in die Hände spielen würden. Und die wollen wir uns heute ansehen.
Wir lassen dich aber nicht allein mit dem Thema, sondern liefern dir nächste Woche 20 Lektionen vom US-Historiker Timothy Snyder, wie man autoritären Tendenzen am besten begegnet. Eine schon vorweg: kein vorauseilender Gehorsam.
Wie dieser aussehen könnte, hat ein Vorfall in dieser Woche gezeigt:
Jens Christian Wagner, Direktor der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora, beklagte, eine Journalistin des ZDF habe ihn dazu aufgefordert, keine historischen Parallelen des Nationalsozialismus zu Positionen der AfD zu ziehen. “Als Grund nannte sie die Befürchtung, ihr könne sonst im Netz 'AfD-Bashing' vorgeworfen werden.”, schrieb Wagner auf Bluesky. Das ZDF verwehrt sich gegen diese Vorwürfe und sagte, der Beitrag habe ein anderes Thema gehabt (die Befreiung des KZ Bergen-Belsen) und eine Auseinandersetzung mit der AfD hätte dort nicht hineingepasst.
Hier steht Aussage gegen Aussage - und natürlich wissen auch wir nicht, was wahr ist. Aber so könnte vorauseilender Gehorsam und Selbstzensur aussehen. Denn das, was hier so sanft als “Bashing” beschrieben wird, ist im Internet längst zu persönlichen Beleidigungen, Gewalt- bis hin zu Mordandrohungen avanciert. Die Sorge der Journalistin, sollte sie sie so gehabt haben, wäre also nicht unbegründet.
In so einer Zeit leben wir.
Bleib achtsam und alles Liebe!
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Um was geht’s?
“Wenn wir keinen Zugang zu Fakten haben, können wir einander nicht vertrauen. Ohne Vertrauen gibt es kein Recht. Ohne Recht keine Demokratie.”
Das hat der US-amerikanische Historiker Timothy Snyder vor Jahren in einer Late Night Show gesagt (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre). Er fasst dort in wenigen Sätzen ein strategisches Ziel moderner Autokrat:innen zusammen: Zerstöre die geteilte Wirklichkeit, und der demokratische Rechtsstaat löst sich auf.
Diese “Post-Truth”-Methode besteht aus drei Stufen. Die erste: “Du als Autokrat:in lügst selbst ununterbrochen”, sagt Snyder. Der ständige Strom widersprüchlicher Behauptungen übersättigt das Publikum; es fehlt die Zeit, alles zu prüfen.
Dann folgt der Angriff auf Medien und die politische Konkurrenz. In diesem zweiten Schritt “erklärst du, dass deine Gegner:innen und die Journalist:innen in Wahrheit diejenigen sind, die ständig lügen.” Sie werden so nicht nur als “Feinde des Volkes” diffamiert - gleichzeitig delegitimiert der Schritt alle Instanzen, die Fakten prüfen.
Der dritte und letzte Schritt ist dann die Konsequenz:
“Alle schauen sich um und fragen: Was ist die Wahrheit?” Es gibt dann keine mehr. So wird jede Form von Widerstand unmöglich. Snyder sagt: “Dann ist das Spiel vorbei.”
Die Post-Truth-Methode ist deshalb so wichtig, weil sie den Weg für einen Systemwechsel ebnet. Snyder sagt: “Willst du das Herz der Demokratie herausreißen, gehst du zuerst auf die Fakten los.”
Wir haben den Newsletter mit diesem Zitat Snyders begonnen, weil es auf eine sehr wichtige Lektion seines Buchs “Über Tyrannei: 20 Lektionen für den Widerstand (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)” hinweist: “Glaube an die Wahrheit. Wer Fakten aufgibt, gibt Freiheit auf.”
Welche Gründe gibt es autoritäre Tendenzen zu sehen?
1️⃣ Den ersten Grund haben wir vergangene Woche aufgeschrieben, als wir Positionen und Aussagen von AfDler:innen über die zehn Merkmale des Faschismus (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) gelegt haben, die der Faschismus-Experte Jason Stanley aufgeschrieben hat.
Im Text haben wir gezeigt, dass die AfD mindestens faschistische Züge zeigt - und das, während sie derzeit in Umfragen stärkste Kraft im Land ist. Dass die AfD bei der nächsten Bundestagswahl in die Regierung kommen will, ist kein Geheimnis.
2️⃣ Der zweite Grund ist der, dass auch in Teilen der Gesellschaft eine Hinwendung zum Autoritarismus eingesetzt hat. Bereits im vergangenen Jahr hat die Autoritarismus-Studie (die wir eingehend beleuchtet haben (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)) gezeigt:
Die gesellschaftliche Akzeptanz für die Demokratie nimmt ab, autoritäre und rechtsextreme Überzeugungen nehmen zu. In der Studie heißt es, dass sich “das Demokratieverständnis von den Eigenschaften der Freiheit, politischen Gleichheit und politischen Kontrolle stärker zu autokratischen Elementen” verschiebe.
Mehr Menschen scheinen einen “starken Führer, der Deutschland zum Wohle aller mit starker Hand regiert, eine Diktatur im nationalen Interesse oder eine einzige starke Partei, welche die Volksgemeinschaft insgesamt verkörpert, als sinnvolle Ergänzung oder Alternative zur Demokratie” zu befürtworten.
3️⃣ Damit kommen wir zum aktuellen Anlass für diesen Newsletter und dem dritten Grund: den politischen Plänen von SPD und Union.
Was die beiden demokratischen Parteien in ihren Koalitionsvertrag geschrieben haben, sieht einigen AfD-Forderungen zum Verwechseln ähnlich. Hier einige Parallelen, die so im Wahlprogramm der AfD (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) und im Koalitionsvertrag der Union/SPD (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) stehen:
AfD: “Wegfall des grundsätzlichen Nachzugsanspruches für Familienangehörige subsidiär Schutzberechtigter.”
Union/SPD: “Wir setzen den Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten befristet für zwei Jahre aus. Härtefälle bleiben hiervon unberührt.”
AfD: “Einstellung der freiwilligen Aufnahmeprogramme für Afghanistan.”
Union/SPD: “Wir werden freiwillige Bundesaufnahmeprogramme soweit wie möglich beenden (zum Beispiel Afghanistan) und keine neuen Programme auflegen.”
AfD: “Ausbau von Haft- und Gewahrsamsplätzen in Grenznähe und an den internationalen Flughäfen.”
Union/SPD: “Den verpflichtend beigestellten Rechtsbeistand vor der Durchsetzung der Abschiebung schaffen wir dabei ab. Die Bundespolizei soll die Kompetenz erhalten, für ausreisepflichtige Ausländer vorübergehende Haft oder Ausreisegewahrsam zu beantragen, um ihre Abschiebung sicherzustellen.”
AfD: “Kontrollen und damit verbundene Zurückweisungen an der Grenze müssen als selbstverständliches Recht souveräner Staaten aufgefasst werden.”
Union/SPD: “Wir werden in Abstimmung mit unseren europäischen Nachbarn Zurückweisungen an den gemeinsamen Grenzen auch bei Asylgesuchen vornehmen.”
Diese Überschneidungen sind nur ein Ausschnitt aus einem größeren Bild, das zeigt: Repressive Politik wandert vom rechten Rand in die Mitte - und zwar ausgerechnet in ein Regierungsprogramm, das sich selbst als Bollwerk der Demokratie versteht.
Welche Bereiche werden noch umgebaut?
Wenn jene Parteien, die den Staat künftig führen, Forderungen übernehmen, mit denen die AfD jahrelang alleine stand, verschieben sich nicht nur Koordinaten des Sag- und Machbaren. Damit wird auch im Inneren - unter Schlagworten wie “Zeitenwende in der Inneren Sicherheit” - ein umfassender Ausbau exekutiver Macht vorbereitet.
Unter der Erzählung von mehr Effizienz, Sicherheit und Modernisierung planen SPD/Union eine strenge “Law-and-Order”-Politik und will dafür “europa- und verfassungsrechtliche Spielräume ausschöpfen”.
Netzpolitik schreibt (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre), dass uns “in Sachen Bürgerrechte und Überwachung eine harte Zeit erwartet” und dass einige der Vorhaben nicht mit EU-Recht vereinbar seien - und das sei auch schon lange bekannt. Weil sie beispielsweise “radikal die Privatsphäre und das Recht auf Anonymität aushöhlen” (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) würden.
So steht im Koalitionsvertrag: “Wir führen eine verhältnismäßige und europa- und verfassungsrechtskonforme dreimonatige Speicherpflicht für IP-Adressen und Portnummern ein.” Außerdem ist mehr Telefonüberwachung, die Möglichkeiten zur erweiterten Funkzellenabfrage, KI‑gestützte Massendaten‑Analyse, rückblickende biometrische Gesichtserkennung, automatisierte Kennzeichenlesesystemen, ein Staatstrojaner und Videoüberwachung an “Kriminalitätsschwerpunkten” geplant.
Der Chaos Computer Club fasst diese Vorhaben im Koalitionsvertrag (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) so zusammen:
Der Koalitionsvertrag liefert “ein Diktaturbesteck, schlüsselfertig und maßgeschneidert. Die Folgeregierung leckt sich schon die repressionsfreudigen Klauen.”
Aber es geht nicht nur darum, was eine mögliche AfD-Regierung 2029 mit diesen Möglichkeiten anstellen könnte. Sondern auch, was bereits in dieser Legislatur passiert. Denn die Union hat schon vor einigen Wochen gezeigt, dass sie dazu bereit ist, sich an autoritären Machthabern zu orientieren, als sie ihre 551 Fragen in einer Kleinen Anfrage an NGOs gestellt hat (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) - darunter “Omas gegen Rechts” oder die Amadeu-Antonio-Stiftung.
Das Verfassungsblog hat damals in einem offenen Brief geschrieben (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre): “In Zeiten verstärktem Misstrauen gegenüber der Demokratie erkennen wir einen konfrontativen Unterton in der Kleinen Anfrage und deuten dies als ein alarmierendes Signal.“
Und: „Die historische Entwicklung zeigt, dass Versuche, NGOs durch administrative Maßnahmen zu schwächen, ein typisches Muster illiberaler Demokratien sind. Vergleichbare Strategien zur Diskreditierung kritischer Organisationen sind aus den USA unter Donald Trump, aus Russland unter Wladimir Putin, aus Ungarn unter Viktor Orbán oder aus Polen unter der PiS-Regierung bekannt.“
Einer der Kritiker war der Aktivist Arne Semsrott. Er hat das Vorgehen der Union verurteilt und erkennt darin eine Einschüchterungsstrategie à la AfD (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre):
“Das ist fast eins zu eins das, was ich für die AfD prognostiziert habe.” Zuerst versuche man über Kleine Anfragen die Zivilgesellschaft einzuschüchtern und als Feinde zu markieren, um dann im nächsten Schritt die Förderungen wegzunehmen oder die Gemeinnützigkeit zu entziehen - und so eine Säule der kritischen Zivilgesellschaft wegzuschießen.
Laut Semsrott sei es viel gefährlicher, wenn die “Union AfD-Politik macht, als wenn die AfD in der Opposition selbst ihre Politik macht”. Denn: “Eine Brandmauer gegenüber CDU und SPD gibt es nicht.” Deshalb fordert Semsrott, dass man sich “rekalibrieren” müsse.
Er fordert, nicht mehr gegen Akteure, sondern gegen antidemokratische Politik vorzugehen: “Wir protestieren nicht gegen formelle Bündnisse, sondern gegen menschenfeindliche Inhalte - egal von wem sie kommen.”
Denn wenn selbst Parteien der demokratischen Mitte autoritäre Instrumente ausprobieren, darf die Antwort nicht nur im Empören liegen.
👉 Deshalb stellen wir euch nächste Woche 20 Lektionen von Timothy Snyder vor - eine Art Checkliste für Widerstand im Alltag “für alle, die jetzt handeln wollen - und nicht erst, wenn es zu spät ist”. Denn überall auf der Welt würden Demokratien unter dem Ansturm eines neuen Autoritarismus wanken. So steht es in der Buchbeschreibung.
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