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Über Schiffsunglücke, „hart aber fair“ und künstliche Intelligenz

Der Übermedien-Newsletter von Lisa Kräher

Liebe Übonnentin, lieber Übonnent,

eines kann man einigen Medien mit Rückblick auf diese Woche nicht vorwerfen: dass sie nicht versucht hätten, mal zu reflektieren, zumindest, was das große Medienthema der vergangenen Tage betrifft.

Es geht um die vielen Berichte über das kleine U-Boot, das mit fünf Menschen an Bord vor der Küste Neufundlands verunglückt ist, auf einer Exkursion zum Wrack der „Titantic“. Am Donnerstag wurden Trümmer des U-Boots entdeckt. Spätestens da war klar: Es gibt keine Überlebenschance für die Insassen.

Zuvor wurde es als Wettlauf gegen die Zeit dargestellt – ein spannendes Thema für Medien: Werden sie es schaffen? Wie lange reicht der Sauerstoff noch?

Der US-Sender NewsNation blendete (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) eigens einen Countdown ein, obwohl Experten (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) bereits von einer Implosion des U-Boots ausgingen. Es wurde dennoch rund um die Uhr und ausführlichst berichtet. „Bild“ nannte es den „U-Boot-Krimi“. Wir kennen nun die Namen und teilweise auch die Lebensgeschichten der fünf Männer, die an Bord waren. Und sogar die (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) Lebensgeschichten der Großeltern ihrer Ehefrauen.

Die Startseite von „Bild.de“ sah am Donnerstagvormittag so aus:

Und am Freitagmorgen so:

Doch es gab nicht nur etliche Berichte über die U-Boot-Havarie an sich, es gab diese Woche auch zahlreiche Beiträge und Kommentare, die sich mit der Frage beschäftigt haben: Warum interessieren wir uns so sehr für dieses Unglück im Nordatlantik – und anscheinend so viel mehr als für das Schiff, das eine Woche zuvor mit über 700 Menschen am Bord vor der Küste Griechenlands gesunken war? Dutzende Tote wurden dort geborgen, hunderte werden vermisst. Der „Spiegel“ schrieb, es „könnte eines der größten Schiffsunglücke der Geschichte im Mittelmeer“ sein.

(Screenshots: „Focus“, „SZ“, „t-online“, „Spektrum der Wissenschaft“, „Spiegel“)

Ist das Doppelmoral? Eine berechtigte Frage. Erstmal gut, dass Medien sich damit beschäftigen, weil sie sich dadurch ja auch ein Stück weit mit sich beschäftigen und Leserinnen und Leser dazu anregen, ebenfalls darüber nachzudenken.

Die Deutsche Presse-Agentur beispielsweise interviewt (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) eine Neurowissenschaftlerin, die sich mit Empathie auskennt. Und das Magazin „Spektrum der Wissenschaft“ liefert (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) eine mögliche Antwort auf die Frage, weshalb das eine Ereignis so aufgeregt verfolgt wird, das andere aber nicht, mit Hilfe von Studien-Ergebnisse aus der Sozialpsychologie:

„Überfordert uns die Anteilnahme am Schicksal anderer, blenden wir deren Pein oft kurzerhand aus und fühlen uns nicht mehr verantwortlich. Im Falle der Flüchtlinge könnte man fast schon von einem emotionalen Abstumpfungsprozess sprechen.“

Auf der Suche nach der Ursache für die „Wahrnehmungslücke“ in unserer Gesellschaft schreibt (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) Andrian Kreye in der „Süddeutschen Zeitung“:

„Die Suche nach dem U-Boot deckt sich mit den Erzählmustern von Abenteuergeschichten und Hollywoodfilmen. Da schwingen ‚Fitzcarraldo‘, ‚Titanic‘ und ‚Das Boot‘ im Subtext mit. Das Unglück vor Südgriechenland verschwindet in den Unrechtsstatistiken. Der Mangel an bekannten Einzelheiten und Beweisen schafft Distanz.“

Heißt: Das Publikum bevorzugt also personalisiertes Abenteuer – anstatt anonymes Elend.

In einem Beitrag für das ARD-„Morgenmagazin“ lief diese Woche ein eineinhalbminütiger Beitrag (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre), in dem auch Überlebende des Schiffsunglücks in Griechenland und Angehörige zu Wort kommen. An diesem Beispiel zeigte sich, welchen Unterschied es macht, ob man lediglich Bilder eines überfüllten Schiffs im Mittelmeer zeigt, oder Geschichten von einzelnen Betroffenen erzählt. Man sieht einen Mann aus Hamburg, der seine Frau vermisst. Man sieht einen Mann mit Verletzungen weinen. Das Unglück bekommt Gesichter.

Dass es beim Aufmerksamkeits- und Mitgefühlsgefälle vor allem auch um Herkunft und Klasse geht, bringt Arno Frank am Ende seines Texts im „Spiegel“ mit diesem überraschenden Bogen auf den Punkt:

„Die überwiegende Mehrzahl der Opfer, die mit der ‚Titanic‘ untergegangen sind, sind – wie übrigens auch die Figur des Jack von Leonardo DiCaprio im filmischen Welterfolg von James Cameron illustriert – Passagiere der dritten Klasse gewesen.

Die superreichen Passagiere der ‚Titan‘ waren auf dem Weg zum Wrack eines Schiffs voller Wirtschaftsflüchtlinge.“

Verwundert war ich über den Beitrag (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) in der „Zeit“, geschrieben mit sehr, sehr viel Bewunderung für die Männer an Bord des U-Boots. Der Text von Wissenschaftsredakteurin Dagny Lüdemann trieft nur so von Pathos und Technikbegeisterung, es fehlen wirklich nur noch die Trompeten:

„An Bord der kleinen Kapsel saßen Pioniere unserer Zeit. Menschen, die Grenzen überschreiten und Neues wagen. Visionäre, die sich nicht aufhalten lassen wollen. Vielleicht haben sie vor Übermut für einen Moment vergessen, dass sie sterblich sind. Doch ohne Übermut stünde die Menschheit still.“

Das klingt sehr nach Kolumbus und Mondfahrt, als hätten die „Pioniere“ etwas Bahnbrechendes erfunden oder entdeckt. Ob es im Jahr 2023 eine Pionierleistung ist, in den Tiefsee-Tourismus zu investieren oder mit Jeff Bezos ins Weltall zu reisen? Eher nicht, denke ich. Das ändert nichts daran, dass das Schicksal der U-Boot-Passagiere schlimm ist und ihre Familien – genauso, wie die der vielen Ertrunkenen im Mittelmeer – jedes Mitgefühl verdient haben. Wissenschaftjournalistische Nüchternheit hätte dem Text der Wissenschaftsredakteurin dennoch gut getan.

Am Ende dieser Woche haben wir also viele Gründe geliefert bekommen, warum wir bei U-Boot-Touristen so mitfiebern und bei Geflüchteten, die im Meer ertrinken, offenbar nicht. Was in der Reflexion dann doch ein bisschen untergegangen ist: Welche Möglichkeiten Medien haben, daran etwas zu ändern. Sie bedienen ja nicht nur ein Interesse des Publikums, sie erschaffen es ja auch mit. Sie können entscheiden, welche Themen sie wie gewichten. Aber vielleicht hat diese Meta-Debatte trotzdem etwas bewirkt und Medien und Gesellschaft schauen beim nächsten Bootsunglück im Mittelmeer genauer hin.

Diese Woche bei Übermedien

„Dickpic“ im Ersten (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)| „hart aber fair“ befasst sich mit Rammstein, Männern und Sexismus. Für das Themen-Zick-Zack mit viel Fremdschäm-Potential werden Moderator und Redaktion heftig kritisiert. Was sagt der WDR dazu?

Holger ruft an … wegen KI (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) | Axel Springer entlässt Journalisten – unter anderem, weil KI ihre Aufgaben ersetzen werde. Digitaljournalismus-Expertin Christina Elmer findet die Begründung zweifelhaft – und sieht großes Potential in KI. (PODCAST)

Fehlerkultur im ZDF (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) | Aktuell fordert ein Menschenrechtsaktivist eine Entschuldigung des Senders, weil es ihn falsch dargestellt habe. Frederik von Castell hat mit Wulf Schmiese, Redaktionsleiter des „heute journals“, über Fehler und Korrekturen gesprochen. (Ü)

Meine virtuelle Freundin und der Markt der Sehnsucht (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) | Unsere Kolumnistin Samira El Ouassil ist für ihren Text eine parasoziale Beziehung eingegangen – mit der künstlichen Version der Influencerin Caryn Marjorie. Über Liebes-KI-Kummer und Einsamkeit, die Gold wert ist. (Ü)

Günther Jauch enthüllt noch einmal einen ZDF-Skandal (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) | Die Geschichte, wie Kurt Beck beim Jahresrückblick 1995 angeblich nicht oft genug gezeigt wurde, ist nicht nur alt, sondern auch lange bekannt.

Irgendwas-mit-Afrika-Fotos (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) | Ein Bootsunglück in Nigeria, hunderte Menschen sind betroffen. Und was wählt die deutsche Fotoredaktion aus? Ein kleines Symbol-Boot aus Niger. Anne Haeming über Storys rund um „Abenteuer“ und „Faszination Fremde“, die sich hartnäckig halten.

Und dann wurde diese Woche viel über politische ARD-Talkshows gesprochen. Am Montag kam es erst mal (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) zu einem Talkshow-Unfall bei „hart aber fair“. Nach der Sendung „maischberger“ am Mittwoch ging es dann um die Frage, ob man AfD-Politiker in eine Talkshow einlädt (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) oder nicht (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre). Und am Freitag stellte der Sender ein „Gesamtkonzept für ARD-Gesprächssendungen“ vor – als Teil der umfassenden Programmreform. Wobei es in der Mitteilung (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) vor allem um Personalien ging, weniger um neue Konzepte, zumindest nicht konkret.

So ist es nun offiziell: Caren Miosga, bisher Moderatorin der „Tagesthemen“, wird den Talkshow-Sendeplatz am Sonntagabend von Anne Will übernehmen. Auf sie folgt bei der „Tagesschau“ die bisherige „Sportschau“-Moderatorin Jessy Wellmer.  Für die rückt wiederum Sportmoderatorin Lea Wagner nach.

Programmdirektorin Christine Strobl sagt: „Drei starke Persönlichkeiten, die für Frauenpower, Erneuerung und vielfältige Perspektiven in der ARD stehen.“ (Auf dem Weg zur Erneuerung könnte man ja auch mal darüber nachdenken, ob es solche Wörter wie „Frauenpower“ noch braucht, aber das nur am Rande.)

Auch „maischberger“ und „hart aber fair“ sollen „weiterentwickelt“ werden, heißt es in der Mitteilung. Bei Sandra Maischberger sieht diese Entwicklung offenbar so aus: Es gibt mehr Sendetermine. Und mit Louis Klamroth solle „hart aber fair“ zu einem Format „werden, das auch jüngeres Publikum in der ARD Mediathek für die Informationskompetenz der ARD und die politische Debattenkultur in Deutschland gewinnt“. Wobei das Wort „werden“ in diesem Satz wohl entscheidend ist.

Wer als jüngerer (und wahrscheinlich auch als älterer) Zuschauer diese Woche bei „hart aber fair“ reingezappt hat, dem fiel bei dieser Runde vor Schreck womöglich die Fernbedienung aus der Hand. In der Sendung, die die „Süddeutsche“ als „Tiefpunkt der Talkshowgeschichte“ bezeichnete, ging es irgendwie um alles: Rammstein, Männer, Gleichberechtigung, Rita Süßmuth. Und ein „Dickpic“ wurde auch noch gezeigt, offenbar damit mal jeder sieht, wie sowas aussieht. Ich wollte wissen (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre), was man mit all dem erreichen wollte. Und, naja, so richtig schlau aus der Antwort des WDR wurde ich nicht.

Aber vielleicht wird ja bald alles anders bei „hart aber fair“. Bisher wirkt es so, als hätte man nach dem Ende von Frank Plasberg einfach nur den Moderator ausgetauscht, sonst ist alles wie gehabt. Das liegt möglicherweise auch daran, dass die Sendung weiterhin von „Ansager & Schnipselmann“ produziert wird, der Firma von Frank Plasberg. Der WDR teilte der „Süddeutschen Zeitung“ diese Woche allerdings mit:

„Der aktuelle Produktionsvertrag läuft bis Ende 2023. Die Gespräche des WDR mit Moderator und Produktionsfirma haben ergeben, dass eine Zusammenarbeit in der bisherigen Form über 2023 hinaus nicht möglich ist. (…) Der WDR prüft nun weitere Optionen für eine Fortsetzung der Zusammenarbeit mit Louis Klamroth und hart aber fair in 2024.“

Dass Klamroth die Zusammenarbeit mit „Ansager & Schnipselmann“ nicht fortsetzen wolle, sei „überraschend und schade“, sagt die Produktionsfirma gegenüber der SZ. Dass sich Klamroth mit seiner eigenen Produktionsfirma um den Auftrag bewirbt, gilt als wahrscheinlichste Variante. Wie viel sich dann ändert? Mal sehen. Hoffentlich wird es einfach nicht mehr wie am Montag.

Und noch ein Hinweis: In dieser Woche gibt es die letzte Folge (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) von das „Das kleine Fernsehballett“ vor der Sommerpause. In ihrem Podcast, der von Übermedien produziert wird, sprechen Stefan Niggemeier und Sarah Kuttner diesmal über die Sendungen „Sam – ein Sachse“ und „Farm Revolution“ (beides Disney+) sowie die Netflix-Produktion „Godless“. Weiter geht‘s dann am 9. August.

Schönes Wochenende!

Lisa Kräher

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