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Der Übermedien-Newsletter von Stefan Niggemeier.

Liebe Übonnentin, lieber Übonnent,

wenn Sie im Sendungs-Archiv der „Tagesschau“ unter der schriftlichen Inhaltsangabe den Hinweis sehen: „Die Sendung wurde nachträglich redaktionell bearbeitet.“ – Was würden Sie annehmen, ist damit gemeint? Vielleicht mussten ein paar Fußball-Bilder herausgeschnitten werden, weil sie im Internet nicht gezeigt werden dürfen. Vielleicht hatte sich wieder einmal eine der Kameras verhakt, so dass der Vorspann nochmal neu gedreht wurde (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre). Vielleicht wurde ein kleiner Versprecher des Moderators korrigiert. Man weiß es nicht, wird schon nichts Großes gewesen sein, sonst stünde es ja da.

Von wegen. In diesem Fall bedeutet der lapidare Hinweis, dass die Sendung „nachträglich redaktionell bearbeitet“ wurde, dass es einen gravierenden inhaltlichen Fehler gab, der nachträglich notdürftig und möglichst unauffällig repariert wurde.

Die „Tagesschau“ berichtete am vergangen Montag in ihrer 20-Uhr-Ausgabe vom Krieg im Osten der Ukraine in einem Filmbericht so:

„Zivile Ziele. Immer wieder stehen sie unter Beschuss der russischen Armee. Dies ist der Markt in der ostukrainischen Stadt Donezk. Oder das, was davon übrig ist. Die ukrainischen Streitkräfte sind zunehmend machtlos gegen die massiven Angriffe der besser ausgerüsteten russischen Armee.“

Ein Bericht ganz in der traurigen Routine der Kriegsberichterstattung der vergangenen Wochen. Im Osten nichts Neues.

Nur dass diese Bilder in Wahrheit etwas anderes zeigten. Nämlich die Folgen eines ukrainischen Angriffs. Die Agentur Reuters hatte am Tag zuvor gemeldet:

„Bei einem ukrainischen Artillerie-Angriff auf einen Markt in der von pro-russischen Separatisten gehaltenen Region Donezk sind nach einem Bericht der dortigen Nachrichtenagentur mindestens drei Menschen getötet und vier weitere verletzt worden. Unter den Toten sei auch ein Kind, meldet die Donezk Nachrichtenagentur. Sie verbreitet Bilder von brennenden Marktständen und einer auf dem Boden liegenden Leiche. (…) Die Angaben lassen sich unabhängig nicht überprüfen.“

So hatte es auch tagesschau.de im Liveticker (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) wörtlich vermeldet. Doch in der „Tagesschau“ im Fernsehen wurden aus den zivilen Opfern eines ukrainischen Angriffs zivile Opfer eines russischen Angriffs.

Spätestens am Dienstagmorgen machen (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) erste (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) User (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) in den sozialen Medien auf den Fehler aufmerksam.

Irgendwann im Laufe des Tages (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) erscheint unter dem Video auf tagesschau.de der Hinweis auf die nachträgliche redaktionellen Bearbeitung, und der Text, den die Sprecherin zu den Bildern sagt, lautet nun so:

„Zivile Ziele. Immer wieder stehen sie unter Beschuss. Dies ist der Markt in der ostukrainischen Stadt Donezk. Oder das, was davon übrig ist. An anderen Orten sind die ukrainischen Streitkräfte zunehmend machtlos gegen die massiven Angriffe der besser ausgerüsteten russischen Armee.“

Das ist immerhin nicht mehr eindeutig falsch. Nur dass nun verblüffend offen bleibt, von wem die im Bild zu sehenden zivilen Ziele oder das, was von ihnen übrig ist, denn in Schutt und Asche gelegt wurden. 

Am Mittwoch nimmt sich „Argo Nerd“ des Themas an. Der reichweitenstarke anonyme Twitter-Account prangert regelmäßig in prägnanter Form tatsächliche oder vermeintliche Doppelstandards etablierter Medien an. In mehreren Videos (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) zeigt er die verschiedenen Versionen der „Tagesschau“-Berichterstattung. Auch die Faktenchecker von „Correctiv“ (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) berichten nun über die falsche „Tagesschau“-Darstellung. Auf Nachfrage erklärt ihnen gegenüber der zuständige Norddeutsche Rundfunk, es handele sich um einen Fehler, den man bedaure.

Am Donnerstag schließlich erscheint ein Eintrag im ansonsten seit längerem weitgehend verwaisten Blog der „Tagesschau“ (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre). Marcus Bornheim, als Erster Chefredakteur von ARD-aktuell verantwortlich für die „Tagesschau“, räumt ein, dass drei Tage zuvor in der Fernsehberichterstattung „ein Fehler passiert“ sei:

„Uns ist der Fehler in der Abnahme des Beitrags nicht aufgefallen, das ärgert uns sehr und wir bedauern das, denn es entspricht nicht der sonst [sic!] gebotenen journalistischen Sorgfalt in unsere [sic!] Berichterstattung. Der Beitrag wurde überarbeitet und die Sendung aktualisiert. Auf tagesschau.de wurde die 20 Uhr-Ausgabe der tagesschau um den Hinweis ergänzt, dass die Sendung nachträglich redaktionell bearbeitet wurde.“

Ich weiß nicht, wie sehr sich Bornheim und sein Team wirklich über den Fehler ärgern. Fest steht: Das ist exakt die Art Fehler, die nicht passieren darf. Insbesondere, weil es exakt die Art Fehler ist, die schon vor Jahren öffentlich-rechtlichen Medien in der Ukraine-Berichterstattung mehrfach passiert ist.

Aber sehr viel ärgerlicher als der Fehler ist der Umgang der „Tagesschau“ damit. Denn der lässt nicht nicht durch irgendein Versehen erklären.

Die „Tagesschau“ korrigiert den Fehler nicht transparent, sondern vernebelt ihn hinter der vagen Formulierung von der redaktionellen Bearbeitung. Wer so etwas macht, dem ist nicht an einer wahrheitsgemäßen Unterrichtung seines Publikums gelegen. Dass das eine vom Ersten Chefredakteur der „Tagesschau“ ausdrücklich so abgesegnete Praxis ist, ist ein Armutszeugnis.

Und dann, nach drei Tagen, als der Fehler trotz der Verschleierungsversuche größere Kreise zieht, rafft sich dieser Erste Chefredakteur endlich dazu auf, wenigstens ein paar Worte dazu irgendwohin zu schreiben. Weder verlinkt er im Blog-Eintrag auf den „Tagesschau“-Beitrag, noch verlinkt der „Tagesschau“-Beitrag auf das Blog. Irgendwo steht jetzt halt ein Text mit einer Art Bedauern …

… das auch noch geheuchelt ist. Denn in Wahrheit ist Bornheim immer noch im Verschleierungsmodus. Von einem „Fehler in der tagesschau“ schreibt er. Doch der falsche Beitrag lief nicht nur in der 20-Uhr-„Tagesschau“, sondern auch im „Nachtmagazin“ (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre). Und, anders betextet, aber mit demselben zentralen Fehler, lief er auch in den „Tagesschau“-Ausgaben um 16 und 17 Uhr. Also: Mindestens vier mal und in zwei Versionen. Das erwähnt Bornheim lieber nicht so genau.

Er erklärt auch nicht, warum in der überarbeiteten und aktualisierten Version (das Wort „korrigiert“ geht ihm nicht über die Tastatur) nicht ausdrücklich von ukrainischen Angriffen die Rede ist.

Auf die Kommentare unter seinem Blogeintrag, in denen sehr viel Wut steckt und einige berechtigte Kritik, geht niemand aus der Redaktion ein. 

Das wird Vertreterinnen und Vertreter der „Tagesschau“ nicht davon abhalten, schon bald wieder auf einem Podium auch in Ihrer Nähe sitzen und über die Bedeutung überprüfter Informationen und vertrauenswürdiger Quellen für eine demokratische Gesellschaft hinzuweisen.

Ein Fehler ist eine hervorragende Chance, Vertrauen zu gewinnen – oder eben zu verspielen. (Wir haben hier schon mal ausführlich darüber berichtet (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre), wie verschiedene Medien mit Fehlern umgehen.)

Diese Woche neu auf Übermedien

 Foto: Imago

„Ja, aber du guckst auch!“ Warum Volker Heise uns nochmal alle zu Gaffern eines Geiseldramas macht (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) | Eine spektakuläre Netflix-Doku erzählt nur aus Original-Ausnahmen „Gladbeck“ nach – ein Interview mit dem Regisseur. (Ü)

Olaf Scholz und der Reist-er-nicht-reist-er-doch-Journalismus (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) | Samira El Ouassil über ein neues, zweifelhaftes Genre. (Ü)

Was wird nun aus dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk in Frankreich? (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) | Wird er mit den Rundfunkgebühren abgeschafft? Nils Minkmar erklärt, welche Bedeutung Institutionen wie France 2 haben. (Podcast) 

Nahbarkeit, die Wissen schafft (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) | Das Magazin „Science Notes“ zeigt, wie kreativ guter Wissenschaftsjournalismus sein kann. (Ü)

(Ü): exklusiv für Übonnenten

Auf der Homepage des „Nannen Preises“ auf nannen-preis.de (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) steht unter der großen Schlagzeile „Nannen Preis“ und neben dem Logo des „Nannen Preises“, dass der „Nannen Preis“ in diesem Jahr nicht „Nannen Preis“ heißt, sondern einmalig „STERN Preis“.

(Warum sich Menschen nicht annähernd so leidenschaftlich über fehlende Binde Striche wie über zusätzliche Sternchen in deutschen Wörtern aufregen, ist mir ein Rätsel, aber nun.)

Jedenfalls: Sie sind nicht zu beneiden, die Leute, die jetzt schnell alles noch umlabeln müssen, und ich kann nur hoffen, dass es in diesem Jahr nicht wie früher für die Preisträgerinnen und Preisträger einen Würfel mit dick eingefrästen Buchstaben N, A, N, N, E und N (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) hätte geben sollen, die man jetzt alle noch irgendwie einschmelzen oder ummeißeln muss.

Andererseits muss man die Verantwortlichen auch nicht zu sehr bemitleiden, die von einer Debatte um die NS-Vergangenheit des legendären „Stern“-Gründers Henri Nannen überrascht wurden, die ein „Strg_F“-Film (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) ausgelöst hat. Er hat nicht so sehr grundlegend Neues zutage gefördert, als vielmehr eigentlich Bekanntes anschaulich und unübersehbar gemacht. Verschiedene Nominierte hatten deshalb gedroht (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre), an der Preisverleihung nicht teilzunehmen, weshalb die Ausrichter reagieren mussten – und sich dafür entschieden, auf Zeit zu spielen. Sie wollten, formulierten sie treuherzig-ehrlich, die Debatte erst einmal „entschärfen“ und dann ein Gremium berufen, das über die zukünftige Benamsung des Preises und der hauseigenen Journalistenschule befinden soll.

Tim Tolsdorff ist ein in diesen Tagen viel gefragter Experte zum Thema. Er hat 2014 mit einer Forschungsarbeit über die problematische und gern verschwiegene Vergangenheit des „Sterns“ und seines Gründers (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) promoviert. In der „Welt“ (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) schrieb er vor einigen Tagen, wie seine Arbeit den Verlag zu einer kritischen Auseinandersetzung mit Nannen zwang - und wie kurz die „Halbwertszeit der öffentlichkeitswirksamen Aufarbeitung war“. In der FAZ (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) schilderte Tolsdorf am vergangenen Wochenende nicht nur die Vorkriegsgeschichte von „Stern“ und Nannen, sondern auch die ambivalenten ersten Jahre des Magazins, zu denen 1952 eine Polemik Nannens ge­gen den aus einer jüdischen Familie stammenden Jour­nalisten Hans Habe gehörte, die von hasserfülltem Timbre und antisemitischen Stereotypen geprägt gewesen sei.

Laut Tolsdorf verband sich beim Verlag Gruner + Jahr und beim „Stern“ das Versäumnis, die eigene Historie aufzuarbeiten, „mit der Strategie, die Figur des Gründers zu Marketingzwecken einzuspannen und die ‚Erfindung‘ der Medienmarke zu verklären“: „ein riskanter Kurs“.

Tolsdorf meint, dass der „Stern“ jetzt die Frage beantworten muss, ob Nannen – laut der Historikerin Christina von Hodenberg (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) keine Lichtgestalt, aber auch kein Schurke – als Vorbild für junge Journalisten in Deutschland taugt: „Bei Bertelsmann hat man mit diesen Dingen Erfahrung, ließ das Unternehmen doch die eigene NS-Vergangenheit von einer Historikerkommission aufarbeiten.“

Das stimmt zwar – war aber dann auch letztlich wieder ein Anlass, die eigene Geschichte und die des Patriarchen Reinhard Mohn zu verklären: Erst wurde die NS-Vergangenheit geschönt und dann auch noch die widerwillige Aufklärung über die NS-Vergangenheit. Thomas Schuler hat für uns im vergangenen Jahr darüber geschrieben (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre).

Schönen Sonntag!
Stefan Niggemeier

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