Krieg in Israel: Versuch einer Einordnung
Die Hamas hat Israel überfallen. Was völkerrechtlich per Definition „nur“ Terrorismus ist, ist eigentlich ein Krieg. Und die Zeichen stehen gut, dass er eskalieren und auf andere Staaten übergreifen kann.
Die laienhaften, kurzgedachten Theorien, Verschwörungsmythen und Schuldzuweisungen schießen in den Kommentarspalten von Social Media ins Kraut.
Sicherheitsexperten sehen derzeit zwei große Konflikt-Potentiale, die zu einem dritten Weltkrieg führen können. Das ist einmal Taiwan und das ist einmal Nahost.
Bei Taiwan sehe ich ein weit geringeres Potential. Da die kommunistische Regierung in China vom Wohlstandsversprechen abhängig ist. Dem unausgesprochenen, chinesischen Gesellschaftsvertrag. Und dafür sind Europa und die USA unabdingbar. Der Vorsitzende Xi hat genau dann die Zügel angezogen, als der wirtschaftliche Aufschwung nachließ.
Viel brisanter ist das, was ich für diesen Beitrag den „Golf-Konflikt“ nennen will. Ich möchte versuchen zu erklären, was der eigentliche Konflikt ist. Quasi „für Dummies“.
Dazu werde ich vereinfachen. Das halte ich für unabdingbar. Denn hält man sich an alle Details und Political Correctness, erreicht man genau das, was bei großen Medien passiert. Man zeigt nur Ausschnitte, doch für den größeren Zusammenhang müsste man ein Buch schreiben. Das dann kaum jemand lesen würde und die meisten so schlau wären wie zuvor.
Und ich werde ausholen. Auch wenn es erst einmal müßig erscheint, verspreche ich, dass der geneigte Leser am Ende versteht, warum das nötig ist.
Ich gehe es chronologisch an, folgen Sie mir unauffällig.
Zurück zum Anfang
Was wir derzeit gleichsam live mitverfolgen können, ist lediglich das Aufbrechen eines Geschwürs. Dessen eigentliche Ursache Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunderte, vorher beginnt. Weit entfernt, in den Wüsten Arabiens.
Die Christenheit ist weit gespalten. Es gibt Katholiken und Protestanten, Orthodoxe, Anglikaner und viele mehr. Genau so sieht es auch in der muslimischen Welt aus.
Das Problem ist, dass man die jeweils andere Seite als eine Einheit ansieht. Doch das ist sie nicht.
Über Jahrhunderte haben sich die Splittergruppen der Christen untereinander bekämpft. Der Dreißigjährige Krieg hat weite Teile Deutschlands entvölkert.
Der Islam ist jedoch hunderte Jahre jünger. Zudem wurde dieser Konflikt durch das Osmanische Reich und die Kolonialzeit gedeckelt. Wie ein Sekt, dessen Korken irgendwann herausschießt, wenn man an ihm dreht.
Nach dem Tod des Propheten Mohammed stritt man sich 632 n. Chr. um dessen Nachfolge.
Die einen meinten, man solle den Nachfolger wählen. Man berief sich auf die „Sunna“, die tradierte Norm. In diesem Fall die Oberhäupter zu wählen. Deshalb nennt man diese Gruppe Sunniten. Sie stellen etwa 85% aller Muslims auf der Welt.
Die anderen meinten, Nachfolger Mohammeds sollte ein Verwandter werden. In dem Fall Mohammeds Schwiegersohn Ali. Und nach der „Partei“ (Schia) Alis werden diese Schiiten genannt. Sie machen etwa 13% der Muslime aus.
Beide Gruppen gliedern sich in Untergruppen. Und es gibt noch weitere, wie die Ibaditen im Oman.
Diese Gruppen haben sich teilweise erbittert bekämpft.
Es gibt so gut wie keinen internationalen islamistischen Terrorismus durch Schiiten. (Ich werde auf Ausnahmen eingehen.)
Ich erwähne das an dieser Stelle nur, weil später deutlich wird, warum die Religion immer nur ein Vehikel für weltliche Machtansprüche ist. Ebenso, wie es der Dreißigjährige Krieg in Europa war.
Der mit Abstand größte islamische Staat ist übrigens Indonesien. Das viertgrößte Land der Welt. Das dem sunnitischen Zweig angehört. Von dem man wenig Terroristisches hört. Spätestens ab da sollte Schwarz-Weiß-Denken schwerfallen.
Die Flasche Sekt, die man schüttelt…
In Europa spricht man ab etwa 1700 von der Aufklärung. Einer Bewegung, in der die Kirche vom Staat gelöst wurde („…den hier mus ein jeder nach Seiner Faßon Selich werden“ Friedrich II., alias Fritz der Große).
Dinge wie Freiheiten, Gleichberechtigung und eine erste Idee der Menschenrechte stammen aus dieser Zeit.
Eine Säkularisation, also eine Trennung von Kirche und Staat, hat in der muslimischen Welt nie stattgefunden. Ebenso wenig wie die Anerkennung der Wissenschaft, die in unserer „westlichen“ Vorstellung über allem, auch über dem Glauben steht.
Deshalb streben die meisten islamischen Glaubensrichtungen eine Theokratie, also eine Herrschaft der Religion über den Staat an.
Sehr früh erreichte der Islam die arabischen Beduinen. Im Grunde sind sie sein Ursprung. Doch diese Gesellschaften waren strikt in Clans und Stämmen organisiert. Nicht nur sie, das zieht sich bis in das westliche Nordafrika. Und das waren die Germanen bis kurz zuvor auch.
Mit heutigen Augen könnte man Mohammed fast für einen Kommunisten mit religiösem Unterbau halten, der sich gegen diese Machtstrukturen und Stammesgesetze auflehnte und auch deshalb auf Gegenwehr stieß.
Doch diese Ideen werden anachronistisch von Fundamentalisten auf das Heute übertragen. Ähnlich wie US-amerikanische Fundamentalisten auf die Waffenfreiheit pochen: ein Gesetz, das in und für eine völlig andere Welt geschaffen wurde.
Und hier sehen wir bereits das eigentliche Problem. Den Kern des religiösen Konflikts, den der Islam in sich trägt und den es auch im Christentum gab.
Der Islam will eigentlich die Religion über allem sehen. Doch die weltlichen Herrscher wollen ihre Macht behalten.
Wer einigermaßen in Geschichte bewanderst ist, weiß, wie lange dieser Konflikt in Europa angedauert hat. Vom Investiturstreit im 11. Jahrhundert über den berühmten Gang nach Canossa bis weit nach dem Dreißigjährigen Krieg.
Als erstes hat das Osmanische Reich diesen Konflikt unterdrückt. Eher als Begleiterscheinung. Die Osmanen sahen die weltliche Herrschaft als vorrangig. Das hielt bis ins letzte Jahrhundert. Kemal Atatürk, der Gründervater der modernen Türkei, wollte eine Trennung von Religion und Staat.
Der weltberühmte und mit sieben Oscars ausgezeichnete Monumentalfilm Lawrence von Arabien gibt einen Eindruck von dem, was im Ersten Weltkrieg in der arabischen Welt ausgetragen wurde.
Die Kolonialmächte, allen voran Großbritannien, haben den Konflikt ebenfalls unterdrückt. Ein Konflikt zwischen Theokratie und säkularisiertem Staat konnte nie ausgefochten werden. Die Flasche Sekt, die man schüttelt…
Beduinen mit Millionen
Aus diesen Nomadenstämmen, aus den Beduinen und dieser streng hierarchischen und von einer Clan-Mentalität getragenen Gesellschaften, sind nun Staaten geworden. Und durch das Erdöl sind sie reich geworden.
Vielen Europäern dürfte das gar nicht so bewusst sein. Da die europäische Perspektive und der eigene Erlebnishorizont zwischen Sendungen zu Landtagswahlen, dem sonntäglichen Kirchenläuten, über das man gerne schimpfen darf, und Diskussionen übers Gendern anderes nahelegen.
Der Herrscher Saudi-Arabiens ist der Stamm der Saud. Ein Beduinenstamm, der andere Stämme unterworfen und geschickt politisch agiert hat. Es ist eine absolutistische Monarchie, die als Rechtsprechung die islamische Scharia anwenden. Das beinhaltet auch „Hadd-Strafen“, also beispielsweise das Abschneiden der Hand für Diebstahl. In einigen arabischen Ländern ist auch die Steinigung nach wie vor eine festgelegte Strafe, unter anderem für Ehebruch. Saudi-Arabien ist also keineswegs gemäßigt.
Ich möchte diese Länder nicht herabwürdigen. Ich möchte nur deutlich machen, dass man bei dem Versuch, diese Gesellschaften mit europäischen Augen zu sehen, zwangsläufig scheitern muss.
Die Wolkenkratzer und dicken Autos täuschen uns Wohlstandverwahrloste leicht darüber hinweg, dass wir von archaischen Gesellschaftsstrukturen von Beduinenstämmen sprechen, die in einem Rechtsverständnis von vor mindestens 1500 Jahren leben.
Das Oberhaupt von Katar ist Tamim bin Hamad Al Thani. Der eine akademische Ausbildung an der elitären Sandhurst Offiziers-Akademie bei London absolviert hat. Und trotzdem gehört er zum Clan der Al Thani, die aus dem ursprünglich nordarabischen Stamm der Banū Tamīm hervorgegangen sind. Welche um 1720 in das heutige Katar eingewandert sind und seit 1847 beherrschen. Sie sind eigentlich Katar. Und nebenbei unterstützen sie die Hamas, aber dazu später.
1747 ließ sich der Stamm der al-Qasimi im Südosten der arabischen Halbinsel nieder. Daraus entstanden später die Vereinigten Arabischen Emirate, die von dem Clan bis heute beherrscht werden.
Aus Mekka kommt der Stamm der Quraisch, die auch östlich des heutigen Israels siedelten. Aus dem Clan gingen die Haschimiten hervor, die bis heute Jordanien beherrschen.
Kuwait wird vom Clan der as-Sabah regiert, allerdings gibt es seit 1996 ein kleines Parlament.
Die Liste ist erweiterbar.
Theokratie: Staatsoberhaupt und Papst
Auf der anderen Seite haben wir den Iran. Der sich auf eine lange Tradition beruft.
Ich selber habe privat Kontakt zu einem ehemaligen Admiral gehabt, der lange in Deutschland lebte. Der jedoch niemals sagte, er käme aus dem Iran. Sondern aus Persien. Damit gab er zu verstehen, dass er sich einerseits in der Tradition von tausenden Jahren persischer Geschichte sah. Andererseits, dass er mit der iranischen Revolution nichts zu tun hat. Genau vor der war er in den 1970ern geflohen. Religiös war er höchstens in homöopathischen Dosen.
In der gewalttägigen Expansion des frühen Islam fielen im 7. Jahrhundert arabische Beduinenstämme in den Iran ein. Später fielen zentralasiatische Turkvölker ein, die später das Osmanische Reich und noch später die Türkei formen würden.
Doch irgendwie gelang es Persien und dem späteren Iran, sich auch religiös freizustrampeln. Der Iran ist das größte Land mit einer schiitischen Mehrheit. Und die ist eigentlich mit den Sunniten hart und tradiert verfeindet.
Den Staatsstreich durch die CIA von 1953 (Operation Ajax) lasse ich an dieser Stelle weg. Nicht weil er unwichtig wäre. Sondern weil er in diesem Konflikt und auf unserem Niveau hier keine größere Rolle spielt. Diese Gegenpole hätten sich eh ergeben.
Nach der Revolution ist der Iran eine Islamische Republik, also eine Theokratie. Der Islam ist noch untrennbarer mit der Politik verbunden, als das im sunnitischen, arabischen Raum der Fall ist.
Das erste Staatsoberhaupt nach der islamischen Revolution, Chomeini, war ein Ajatollah. Das ist der höchste Grad eines islamischen Rechtsgelehrten der Schiiten. Er war de facto Staatsoberhaupt und Papst.
Das höchste iranische Amt hat immer der Religionsführer. Der gewählte Präsident steht unter ihm.
Die drei Konflikte
So sind wir an dem Punkt angelangt, an dem wir über den eigentlichen „Golf-Konflikt“ sprechen können.
Denn dieser Konflikt hat drei Ebenen. Die man nicht voneinander trennen kann. Zum Verständnis der Gemengelage jedoch kennen muss, wenn man die Motive erkennen will.
1. Religiöser Konflikt
Der Iran ist schiitisch. Alle umliegenden Staaten sind sunnitisch.
Wir haben in der Region also eine Situation, die ich hier einmal mit der Situation in Europa vor dem Dreißigjährigen Krieg vergleichen möchte. Und wir haben eine gesonderte Stellung des Iran in der muslimischen Welt.
2. Theokratischer Konflikt
Der Iran ist eine Theokratie. Eine islamische Republik, so wie sie nach Meinung vieler Muslime vom Koran vorgegeben wird. Die arabischen Staaten sind Monarchien, hervorgegangen aus den Clans der Beduinenstämme. Die ihre Macht behalten wollen.
3. Machtpolitischer Konflikt
Um den Persischen Golf gibt es drei „Großmächte“ die untereinander verfeindet sind. Der Irak hat sich vom Schlag gegen seine eher weltliche Diktatur des Saddam Hussein bisher nicht erholt. Somit konkurrieren Saudi-Arabien und der Iran umso stärker miteinander um eine Vormachtstellung.
Verschiedene Staaten der Region schlagen sich nach machtpolitischen Interessen auf die eine oder andere Seite.
Die beiden ersten Gründe des Konfliktes werden durch den letzten Grund immer überlagert und instrumentalisiert.
Fragen beantwortet
Und nun können wir überhaupt erst einmal anfangen, über Israel zu sprechen. Denn Israel an sich ist eigentlich in diesem Konflikt furchtbar uninteressant. Es ist ein Instrument, ein Vehikel.
Im Weiteren werde ich der Einfachheit halber Fragen beantworten, die in Kommentaren gestellt wurden oder merkwürdige bis absurde Schlussfolgerungen, die der Klärung bedürfen.
Warum der Antiamerikanismus?
Die USA stellen für die meisten Muslime den Erzfeind dar. Das ist vor allem auf dem Gesellschaftsmodell begründet. Das US-amerikanische Eingreifen in der islamischen Welt kam erst weit später als willkommenes Argument hinzu.
Es ist jedoch wichtig zu verstehen, dass dies von religiösen, orthodoxen Kreisen befeuert wird. Denn Länder wie Kuwait, Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate und viele andere arbeiten eng mit den USA und Europa zusammen. Die Türkei ist Mitglied der NATO, Indonesien befindet sich auf dem Weg der Demokratisierung und „Aufklärung“.
Es ist also eine religiöse Perspektive, die von der weltlichen getrennt werden muss.
Doch das Verhältnis muss zwiegespalten sein und bleiben. Da die arabischen, kooperierenden Staaten alleine durch ihre Monarchien der ursprünglich europäischen und somit auch nordamerikanischen Aufklärung widersprechen. Trotzdem ist ihr Gesellschaftsmodell näher als das des Iran.
Die USA haben für diese Instrumentalisierung ausreichend Pulver geboten, sie bieten sich als Feind geradezu an. Angefangen von der Operation Ajax im Iran 1953. Die Feindschaft zu allen „westlichen“ Demokratien ist also tief verwurzelt, aber nicht überall politisch bestimmend. Doch ungebildeten jungen Menschen ist sie eingängig zu erklären. Hat man einen Feind, hat der Tag Struktur.
Wir erinnern uns: Osama bin Laden war ein aus Saudi-Arabien stammender „Adeliger“ und Sohn eines millionenschweren Clans.
Warum der Antisemitismus?
Alleine der Name „Antisemitismus“ ist schon verwirrend bis falsch. Denn Semiten sind eine Gruppe von Völkern, zu denen auch die Araber gehören. Jesus sprach das semitische Aramäisch, das sich für uns sehr arabisch anhört.
Der Ursprung des heutigen Staates Israel ist für den Antisemitismus gar nicht so ausschlaggebend. Denn die Israelis haben unbestreitbar viel Scheiße gebaut. Doch das kam erst im Laufe der Zeit. Und es wird von der Propaganda so verfälscht dargestellt, dass es inzwischen bei vielen zu einem Mem, zu einer nicht zu hinterfragenden Gewissheit geworden ist. Wir erinnern uns an die Palästinenser-Tücher, die nicht nur bei der RAF in den 1970ern in Mode waren.
Der Mensch neigt dazu, leicht Partei zu ergreifen. Das macht die Welt einfacher.
Die Bewegung zur Gründung eines israelischen Staates (Zionismus) ist weit älter. Bereits 1897 wurde dies erklärt. 1917 verfasste der damalige britische Außenminister Arthur James Balfour die nach ihm benannte Balfour-Deklaration, nach der Großbritannien sich mit der Gründung eines israelischen Staates einverstanden erklärt. Denn Großbritannien war die damalige „Schutzmacht“ Palästinas.
Doch ähnlich wie man die Ukraine vor und nach dem Euromaidan unterscheiden muss, führt auch diese Verkürzung zu einem Missverständnis. Denn dadurch wird impliziert, es hätte zuvor einen palästinensischen Staat gegeben, der den Palästinensern weggenommen wurde. Das ist falsch.
Die Region Palästina – es ist deshalb wichtig sie so zu bezeichnen – stand immer unter Fremdherrschaft. Und sie wurde seit Jahrhunderten von Palästinensern und Juden gemeinsam bewohnt. Es war von niemandem geplant das zu ändern.
In den ersten Jahren des unabhängigen Israels nach 1948 nahmen viele Palästinenser einfach die israelische Staatsbürgerschaft an. Diese israelischen Palästinenser leben bis heute in Israel.
Israel hat u.a. den Gazastreifen (vorher Ägypten), die Golanhöhen (vorher Syrien), Westjordan (vorher Jordanien) und Ostjerusalem besetzt, weil diese Länder Israel 1967 angegriffen haben. Erneut. Aus reinem Machtkalkül, weil man den jungen Staat unter sich aufteilen wollte.
Im Sechstagekrieg hat Israel allen dreien innerhalb von nicht einmal einer Woche so den Arsch verhauen, dass die plötzlich keine Lust mehr hatten. Und zur eigenen Sicherheit hat Israel dann gesagt „Nääää, jetzt bleiben wir mal besser hier.“
Denn das war bereits der dritte, große Angriff auf Israel in weniger als 20 Jahren.
Das ganze Thema wäre einen eigenen Artikel wert. Worauf ich vielleicht zurückkomme.
Wichtig für unsere Zwecke hier ist zu verstehen, dass der Antisemitismus lediglich der kleinste gemeinsame Nenner ist, auf den sich alle Muslime irgendwie einigen können. Und deshalb wird er von den fundamentalen Muslimen und Islamisten ausgenutzt.
Hat man einen Feind, hat der Tag Struktur.
Wer ist Hamas?
Die Hamas wurde erst 1987 gegründet. Sie ging als terroristischer Zweig aus der Muslimbruderschaft hervor. Und diese Muslimbruderschaft ist ein Paradebeispiel dafür, dass die islamische Welt eben nicht ein Block ist.
Ich möchte das daher sehr deutlich machen:
Gaza gehörte zu Ägypten. Ägypten greift Israel an, der Gazastreifen wird von Israel „besetzt“. Dort ist die Muslimbruderschaft aktiv und daraus geht die Hamas hervor.
In Ägypten kommt es zu einem Putsch durch das Militär 2013, der natürlich wenig religiös begründet ist. Dagegen wehrt sich die fundamentalistische Muslimbruderschaft, was zu Massenexekutionen führt. Die Muslimbruderschaft wird verboten.
Dadurch nimmt das eigentlich sunnitisch geprägte Ägypten eine Sonderstellung ein. Sie mögen Israel nicht sonderlich. Aber die Muslimbruderschaft und die Hamas noch weniger.
Ich werde darauf zurückkommen.
Die Hamas ist de facto ausschließlich antisemitisch ausgerichtet. In ihrer Gründung beruft sie sich auf die „Protokolle der Weisen von Zion“, einem angeblichen Pamphlet der jüdischen Weltverschwörung. Die bereits seit 1921 als Fälschung entlarvt sind, aber bis heute von Antisemiten benutzt werden.
Im Juni 2007 kam es zu einem Bürgerkrieg im Gazastreifen. Auf der einen Seite die Hamas, auf der anderen Seite die gemäßigtere Fatah und die palästinensische Autonomiebehörde, die quasi-Regierung der Palästinenser. Die allerdings im Westjordan sitzt.
Hinweis: Auch deshalb ist es absurd, einen direkten Zusammenhang zwischen dem Kreml und dem Angriff auf Israel herzustellen. Natürlich kommt das alles auch Russland gelegen. Aber von da bis zu einer militärischen Unterstützung ist ein weiter Weg.
Der Palästinenser-Präsident Mahmud Abbas ist nun zwar von Russland zu Gesprächen eingeladen. Doch der ist auch nicht unbedingt ein Freund der Hamas.
Seit diesem Bürgerkrieg beherrscht die Hamas de facto den Gazastreifen.
Sie zahlt Gelder an ihre Kämpfer und verspricht Renten für die Familien ihrer „Märtyrer“. In der prekären Lage in Palästina für viele die einzige Möglichkeit zu überleben. So ist es leicht, Leute zu rekrutieren und zu radikalisieren.
Bis sie auf einem israelischen Musikfestival Hunderte entführen, Menschen erschießen oder eine 22-jährige Deutsche wie Vieh halbnackt auf die Ladefläche eines Pick Ups werfen und bespucken. Ich erspare dem Leser hier die Bilder.
Im Gazastreifen leben etwa zwei Millionen Menschen. Die „Flüchtlingslager“, in denen die Menschen teilweise in dritter Generation leben, gehören zu den am dichtesten besiedelten Orten der Welt.
Nur etwa 10% verfügen über einen regelmäßigen Zugang zu Trinkwasser. Eine geregelte Schulbildung findet nicht statt. Die Aufbauhilfen sind im Terrorismus versackt. Strom, Kommunikation und Trinkwasser werden, soweit möglich, von Israel geliefert. Diese werden im Zuge des Gegenschlages nun abgestellt werden.
Die meisten Palästinenser im Gazastreifen leben also zwischen Hamas, Israel und Ägypten. Sie werden die Leittragenden der kommenden Wochen sein. Wir werden schlimme Bilder zu sehen bekommen, mit großer Wahrscheinlichkeit droht eine humanitäre Katastrophe.
Wer ist Hisbollah?
Die Hisbollah (von Ḥizb Allāh, „Partei Gottes“) ist eine Terrororganisation, die ihren Sitz im Libanon, also nördlich von Israel hat.
Sie entstand während des Libanonkrieges 1982. Es war der erste Krieg, den Israel begann, ohne existenziell bedroht zu sein. Dem gegenüber standen die PLO und Syrien.
Die Hisbollah stellt Milizen und ist mit etwa 10% im libanesischen Parlament vertreten.
Im Gegensatz zur Hamas ist die Hisbollah jedoch schiitisch. Also mit der Hamas eigentlich verfeindet. Doch hier kommt der kleinste gemeinsame Nenner zum Tragen: der Hass auf Israel.
Am ersten Tag des Überfalls auf Israel wurden auch von der Hisbollah aus dem Libanon Raketen abgefeuert. Inzwischen bekämpft Israel auch Ziele im Libanon.
Daher ist dort die Gefahr am größten, dass der Krieg sich auf andere Staaten ausweitet, wenn der Libanon sich entschließt auch mit regulären Truppen einzugreifen. Die wiederum sicher von Syrien unterstützt würden.
Wer unterstützt diese Terror-Organisationen?
Die Gelder kommen auch aus den Entwicklungshilfen. Der mit Abstand größte Teil kommt jedoch vom Iran, der daraus kein Geheimnis macht. Man geht sogar davon aus, dass die iranische Islamische Revolutionsgarde mit Know How beim Bau von Raketen hilft.
Der Iran unterstützt auch die Hisbollah massiv.
Bei Katar ist bekannt, dass mindestens 30 Millionen Dollar monatlich direkt an die Hamas gehen. Darüber hinaus ist wahrscheinlich, dass noch andere Länder wie Bahrain die Hamas direkt unterstützen.
So wundert es auch nicht, dass auf den Videos viele Hamas-Kämpfer zu sehen waren, die eine eher untypisch dunkle Hautfarbe haben. Es gibt in Afrika viele Islamisten, aus denen auch rekrutiert werden kann.
Der Golf-Konflikt
Im letzten Schritt schließt sich nun der Kreis. Der auch beantwortet, warum der schiitische Iran die sunnitische Hamas unterstützt, warum der Angriff ausgerechnet jetzt so massiv erfolgt und warum Israel unvorbereitet getroffen wurde.
Seit Jahren findet eine Normalisierung der Beziehungen zwischen der palästinensischen Regierung, Saudi-Arabien, Ägypten und Israel statt.
Ägypten und Jordanien haben Frieden mit Israel geschlossen und es somit anerkannt. Auch die Vereinigten Arabischen Emirate und der Oman haben Israel anerkannt. Also vornehmlich die Länder, die sunnitisch und monarchistisch geprägt sind.
Im November 2020 trafen sich der israelische Premier Netanjahu und der saudische Kronprinz Mohammed bin Salman zum ersten Mal zu offiziellen Gesprächen.
Umso besser die Beziehungen zu Israel werden, umso gefestigter werden die Regierungen dieser Staaten.
Und deshalb traf der Angriff Israel wohl so unvorbereitet. Bisher ist nicht ganz sicher, wie die Waffen überhaupt in den Gazastreifen kommen konnten. Doch die Raketen wurden mit hoher Sicherheit im Gazastreifen selber gebaut. Nachschub und Handwaffen wurden vermutlich von Ägypten aus geschmuggelt.
Die Grenze zwischen Israel und Ägypten wird inzwischen gut überwacht, durch den Konflikt zwischen Hamas bzw. Muslimbruderschaft und der derzeitigen ägyptischen Regierung hatte auch Ägypten etwas gegen den Schmuggel. In der Vergangenheit wurden 1600 dieser Tunnel gesprengt. Derzeit hat Israel damit begonnen, die neuen Tunnel zu suchen und zu zerstören.
Das große Ganze
Die iranische Theokratie, die Israel ausschließlich als „zionistisches Regime“ bezeichnet, möchte sich als Retter der islamischen Welt darstellen. Das würde über die schiitische Sonderstellung hinwegsehen lassen.
Der Iran ist auch innerhalb der islamischen und arabischen Welt weitestgehend isoliert. Deshalb versucht er sich verstärkt innerhalb der Blockfreien Staaten Freunde zu schaffen. Langfristiger Partner ist einzig die Diktatur in Syrien.
Und so verfährt der Iran schlicht nach dem Prinzip „Wenn Zwei sich streiten, freut sich der Dritte.“
Die Hamas und die Palästinenser sind dem Iran herzlich egal. Ihm ist daran gelegen, den Grundgedanken der islamischen Theokratie zu stärken. Und damit steht er im Widerspruch zu den arabischen Monarchien, die ihre Macht behalten wollen.
Alle anderen Länder, die die Hamas unterstützen, folgen dem, weil sie in Opposition zu Saudi-Arabien stehen. Auch wenn es scheinbar der eigenen Agenda widerspricht. Katar ist beispielsweise eine Halbinsel, die von Saudi-Arabien umschlossen ist. Also unabhängig davon, dass Katar sunnitisch und eine Monarchie ist, ist für sie Saudi-Arabien der größere „Feind“.
Dä Kopp is näher als dä Aasch, wie man bei uns sagt.
Niemand kann es besser ausdrücken, als der iranische Ayatollah Chamenei es heute getan hat. Der natürlich eine direkte Beteiligung bestritten hat. Aber weiter sagte: „Natürlich verteidigen wir Palästina. Natürlich verteidigen wir die Kämpfe. Natürlich ist die gesamte islamische Welt verpflichtet, die Palästinenser zu unterstützen und wird sie mit Gottes Erlaubnis unterstützen, aber das ist das Werk der Palästinenser selbst.“
Damit erreicht er in der islamischen Welt zwei Dinge.
Zum ersten werden hier die Palästinenser als geschlossene Gruppe und „muslimische Brüder und Schwestern“ dargestellt. Was sie aber de facto nicht sind. Die Hamas hat es sich mit allen verscherzt, auch mit anderen Palästinensern. Die nun natürlich zwiegespalten zu den Palästinensern im Gazastreifen halten müssen. Die Geiseln und Schutzschilde der Hamas.
Zum zweiten ruft er damit zu einer islamischen Geschlossenheit auf. Die vor allem bei den fundamentalen und ungebildeten auf der ganzen Welt Gehör findet. Ein Zahnarzt aus Ankara dürfte bei den Vorgängen ebenso erschüttert sein, wie eine Ingenieurin aus Jakarta.
Die Hamas ist nur ein Werkzeug für viel größere Vorgänge.
Und Israel ist nur eine Projektionsfläche, um die Reihen zu schließen. Die auf dem besten Weg waren, sich aufzulösen.
Wer heute nur auf den Gazastreifen schaut, kann nicht sehen, worum es eigentlich geht.
Hat man einen Feind, hat der Tag Struktur.