Guten Tag, werte Lesende!
Kaum zu glauben, aber ich verspüre eine gewisse Nähe zur Kanzlerin. Nein, ich trete noch nicht ab. Aber ich kenne das Fühlen und Leiden eines Pflichtmenschen. Wohlbefinden geht bei mir einher mit "Sachen erledigen". Das mag an diesem norddeutschen Protestantismus liegen, der Pflichterfüllen als eine Art Gottesdienst sieht. Untätigkeit dagegen führt zu sofortigem schlechtem Gewissen.
Als eine Art Pflichterfüllungswahn-Detox verkünde ich hiermit mutig und contre cœur, dass dieser Newsletter in der Ferienzeit nur einmal im Monat kommt. Jetzt ist es raus. Ich fühle mich befreit. Und ringe zugleich mit dem schlechten Gewissen. Ein inneres Elfmeterschießen. Da müssen wir jetzt durch.
Zwiespalt der Woche
Wo wir gerade bei schlechtem Gewissen sind. Ich habe ein wenig gehadert mit der Regenbogen-Begeisterung in dieser Woche. Natürlich ist Orbans Gesetz jeden Protest wert. Aber in Wirklichkeit steckt doch diese ganze EM voller Orbans. Bandenwerbung für Konzerne aus China oder Oligarchen-Gas aus Rußland, EM-Spiele im asiatischen Aserbeidschan, wo ein Autokrat logiert, der Bundestagsabgeordnete schmiert - dieses vermeintliche Fußballfest wird gesponsert von Menschen- und Minderheitenrechtsverletzern aller Couleur. Sorry, aber ein paar Fähnchen sorgen vor allem für das gute Gefühl derer, die sie schwenken. Hier ein paar Gedanken über das Inselwissen der Fußballfreunde.
Hauptsache Spaß
Nein, Schatz, das ist nicht Jerome Boateng. Und Miro Klose spielt längst bei den Alten Herren. Havertz, Ginter, Goretzka – für Menschen mit Inselwissen ist unsere Nationalelf immer wieder ein neues Gebilde. Denn Inselwissen wird nur alle zwei Jahre aktualisiert. Dieser Sommer ist ein Fest des Inselwissens: Erst EM, dann Bundestagswahl. Wer ist eigentlich dieser Laschet? Ein Typ, mysteriös wie Robin Gosens, als sei er gerade erst aufgetaucht.
Inselwissen und Fußball sind Geschwister. Denn der Spaß am Spiel lässt sich nur aufrecht erhalten, wenn Fans Bekanntes einfach ausblenden, das Treiben der Funktionäre zum Beispiel. Peinlich genug, was die DFB-Oberen seit Monaten aufführen, eine peinliche Ego-Schlacht. Nur nebenbei: Es geht um jene Herrschaften, denen unsere Nationalelf untersteht, die Wertewarte des deutschen Fußballs.
Doch die Verwalter des Milliardengeschäfts Fußball können noch mieser, wie die UEFA beweist. Früher ließen die Herrscher des europäischen Fußballs für Zuckerwasser und Fettessen werben, um das Konto des Verbandes zu mästen. Soll ja nicht jedes Kind Spitzensportler werden; wir brauchen auch dauerhungrige Konsumenten. Aktuell stammen die Sponsorenmillionen fürs europäische Turnier überwiegend von außereuropäischen Unternehmen, die eines gemeinsam haben: Sie unterliegen direkt oder indirekt der Kontrolle von Staaten, die beim Schutz von Menschenrechten noch nicht aufgefallen sind. Auf den Banden werben chinesische Technikanbieter, eine russische Gasfirma und die Fluglinie eines Wüstenstaats, der mit seinen Petro-Milliarden wahlweise Fußball oder Terrorismus sponsert. Warum regt sich niemand über das schmutzige Geld auf?
Klar, man könnte sich schlau machen, warum im vorderasiatischen Aserbeidschan gespielt wird, zu Ehren einer Diktatur, die Bundestagsabgeordnete schmiert. Besser nicht. Lieber Inselwissen. Wir wollen uns ja nicht den Spaß verderben. Wem tatsächlich an einem starken Signal für Menschen- und Minderheitenrechte gelegen ist, der schwingt nicht nur Fähnchen, sondern schaltet ab.
Mit freundlicher Genehmigung der Berliner Morgenpost
Foto der Woche
Zufällig schlurfte ich am Vorabend des Tages der Industrie durch die Verti-Arena in Berlin. Die Sitzschilder waren gedruckt, aber noch nicht auf den Stühlen verteilt. Ich habe versucht, eine bedeutungsschwere Symboik zu erkennen. Vergeblich.
Seelenfutter der Woche
Es gibt Menschen, die machen mir allein durch ihre Existenz ein schlechtes Gewissen. Lissy Eichert zum Beispiel, die Frau, die für den RBB das Wort zum Sonntag spricht. Hauptberuflich arbeitet sie als Pastoralreferentin in der Christophorus-Gemeinde in Neukölln, spendet den Verzagten Trost, speist die Armen, kümmert sich um Zwangsprostituierte aus Afrika, organisiert das Palotti-Mobil, wo Bedürftige Bedürftigen zum Beispiel beim Renovieren von Sozialwohnungen helfen, sie verteidigt den Glauben gegen die Herren im Vatikan. Und ich überlege, wohin wir in Urlaub fahren. Lissy lacht so durchdringend herzlich, dass auch das gefrorenste Blut taut - die ideale Gesprächpartnerin für unseren Mutmach-Podcast.
Lissy Eichert: Erst Gott, dann Fußball (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)
Der Tweet der Woche
Dies twitterte ich wenige Minuten vor dem Spiel der deutschen Elf gegen Ungarn. Hab's dann aber doch geguckt. Und bin mehr denn je überzeugt, dass die Nationalelf nicht wegen, sondern trotz Jogi Löw gewonnen hat. Dessen System ist für Gegner extrem leicht zu durchschauen. Erst als das deutsche Spiel mit den Einwechslungen angenehm unübersichtlich wurde, kam sowas wie Druck auf.
In diesem Spiel wurde zudem ein Widerspruch offenbar, der uns beim Fußball immer und immer wieder begegnet: Der arme Robin Gosens wurde nach dem Portugal-Spiel mit soviel Heilserwartungen überladen, dass er gegen Ungarn in die Knie ging, gehen musste. Hoffentlich kann Jamal Musiala mit diesem Druck umgehen. Er wird der Nächste sein, der die Hoffnungen einer ganzen Nation zu schultern hat.
Delta der Woche
Nein, Corona ist nicht weg. In Chile, Musterland der Pandemiebekämpfung, wütet die Delta-Variante, in Indien sowieso und inzwischen auch in Europa. Finnische Fans haben Delta aus St. Petersburg mit nach Hause geflogen. War es nicht ein Champions-League-Spiel in Mailand 2020, das als erster großer Superspreader galt? Wer an diesem Wochenende 60 000 Zuschauende ins Wembley-Stadion läßt, der hat Corona nicht kapiert. Muß wohl die UEFA sein.
Bei meinem DW-Talk "Auf den Punkt" berichten die DW-Kollegen Isha Bhatia und Benjamin Alvarez über die aggressive Delta-Variante. Und der Charité-Epidemiologe Tobias Kurth erklärt, warum er nicht ins Wembley-Stadion gehen würde, nicht mal zum Elfmeterschießen.
https://www.youtube.com/watch?v=dgih_RjS6Ls (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)Wi gefährlich ist die Delta-Variante? (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)
Anzug der Woche
Mit Patrick (M.) und Benny bin ich auf dem VIPVELO durch Schöneweide gestrampelt. Der Clou: Wie im Auto sitzen die Radler nebeneinander, ein Selbstbau aus DDR-Zeiten. Klar, wir haben über wichtige Dinge gesprochen, Politik, Gesellschaft und so. Aber was mich wirklich scharf machte, war der Anzug von Benny. Den habe ich jetzt auch, warte aber kühlere Tage ab. Nicht teuer, aber Polyester.
Dank der Woche
"Danke Merkel" ist eine Formel, die Einfältige und Komödianten gerne nutzen, entweder verächtlich oder juxig. Inhaltlich gäbe es einiges zu bemäkeln an der Arbeit der Kanzlerin, andererseits ist es eine bemerkenswerte Leistung, dieses Volk von 81 Millionen Merkwürdigen 16 Jahre lang zu kommandieren ohne komplett durchzudrehen. Deswegen, ganz unironisch: "Danke, Merkel!" Egal, wer nachkommt, die bald einsetzende Angie-Nostalgie wird noch befeuert werden.
Ich wünsche einen entspannten Sommer, wenig Ferienstress und den Mut zum Pflichtvergessen.
Herzlich,
Hajo Schumacher
PS: Spaß an Schumachers Woche? Für alle, die meine Arbeit unterstützen möchten und können, gibt's hier (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) die Möglichkeit. Diese Woche verlose ich unter allen Steady-Freunden ein auf Wunsch signiertes Exemplar von Kein Netz. (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)